Reise 5/2013
Alltagskultur beobachten
Jedes Stadtviertel hat seine eigene Lebenskultur. Die entdeckt man, wenn man sich einen Tag einfach treiben lässt – beispielsweise durch die Bonner Nordstadt.
Die laute Oxfordstraße ist der Grenzfluss. Über den treiben alle, die der Bonner Innenstadt mit ihren H&Ms, Starbucks und Karstadts entkommen wollen. Jenseits der vierspurigen Kreuzung finden sie sich wieder auf engen, gepflasterten Straßen, unter Kirschbäumen, die zur Blütezeit im April scharenweise Japaner anziehen, zwischen Gründerzeithäusern, die zum Teil etwas heruntergekommen wirken – in der Altstadt. Möglicherweise finden die Innenstadtflüchtlinge ihren Weg zum Open-Air-Treffpunkt dieses Viertels – dem Platz vor dem Frankenbad. Dort steht täglich der Café-Roller, eine italienische Café-Bar in einem dreirädrigen Piaggio. Hinter der Theke zapft Paul Heid Espresso-Shots. Der 22-jährige Geografiestudent arbeitet seit knapp einem Jahr am Café-Roller, jetzt in den Semesterferien drei-, viermal die Woche für drei bis fünf Stunden. Er mag den Job, entspannt ist es hier auf dem großen Platz mit seinen Bänken, Betonsockeln zum Sitzen und Liegen und einem Kinderspielplatz. Die Familien sind gerade verschwunden. Sie beleben die Fläche vor dem denkmalgeschützten Hallenbad in der Regel ab elf Uhr und werden zwischen eins und zwei abgelöst von Büromenschen, die nach ihrer Pause einen Kaffee trinken.
Auf dem baumbestandenen Platz mitten in der Altstadt, dem südlichen Teil der Bonner Nordstadt, treffen sich alle Gesellschaftsschichten und Kulturen. Rentner führen ihre Hunde spazieren, Jugendliche zielen auf einen Basketballkorb, Stadtstreicher debattieren mit ihren Kumpels, Mütter in Gewändern sitzen auf Bänken in der Sonne, während ihre Kinder zwischen Fontänen toben. Ein blonder Rastafari in Khaki-Shorts stellt sein Lastenrad vor den Hallenbadstufen ab, ein junger Vater mit Nerdbrille, Fünf-Tage-Bart und Karohemd rennt seiner blondgelockten Tochter auf dem Laufrad hinterher.
Eine große Familie
Menschen aus 125 Nationen von insgesamt 178 Nationen in ganz Bonn leben in der Altstadt. Diese Bezeichnung trägt das Multikulti-Viertel historisch gesehen zu Unrecht. Es ist ein Vermarktungsbegriff aus den 70er Jahren. Damals schlossen sich Gastwirte und Geschäftsleute zur Altstadt-Initiative zusammen, nach dem Vorbild der legendären Kneipenszene in der Düsseldorfer Altstadt. Das wiederum zu Recht: In der südlichen Nordstadt kann man sich perfekt treiben lassen vom Frühstückscafé mit Flohmarkteinrichtung zum Dönerhaus, zum Second-Hand-Shop, zum politischen Buchladen, zur traditionellen Bierschänke, zur alternativen Eckkneipe.
Auf dem Frankenbad-Platz nimmt ein Flaschensammler im weinroten Schlapperpulli einen Bildband aus dem „Offenen Bücherschrank“ – einem Projekt der Bürgerstiftung Bonn. Jeder kann hier Lesestoff mitnehmen und zurückbringen oder gegen anderen tauschen. Der Mann setzt sich auf den Kantstein hinter dem Bücherschrank, schlägt den Band mit Kunstfotografie auf, blättert darin und lacht leise vor sich hin.
Ali Baba stopft rotes, süßlich riechendes Kraut in seine Shisha. Als Kunden seinen Laden „Oase“ betreten, blickt der 32-jährige Marokkaner von der Theke auf, auf der neben der arabischen Wasserpfeife ein Tee-Set, Feuerzeuge und ein flacher rechteckiger Lautsprecher stehen, aus dem leise orientalische Melodien dringen. Hinter ihm eine Espressomaschine, ein Regal mit Obst für frischgepresste Säfte und ein kleine Spüle – das Geschirr trocknet in einer weißen Plastikschüssel.
„Marokkanische Süßigkeiten sind nicht so süß wie Baclava“, preist der Geschäftsmann seine Teigwaren an. „Da ist weniger Sirup drin als bei dem, was sie gegenüber verkaufen.“ Er zeigt aus dem Schaufenster auf die türkische Bäckerei.
Seit sechs Monaten bietet der Vater von fünf Kindern in seinem Shop orientalische Steh- und Hängelampen, Wasserpfeifen und Tabak an, außerdem Ta-bletts, Tee plus passende Gläser, Keramikschüsseln, Kopftücher, Gewänder oder Schuhe aus Ziegenleder – die er mit blumigen Worten bewirbt. Ali Baba – der anders heißt, aber Kunden nur seinen „Künstlernamen“ verrät – ist mit einer Deutschen verheiratet und war zuvor Fremdenführer in Marokko. Er erzählt gern von seinem Heimatland, dem „liberalsten in der arabischen Welt“. Zuhörer verspüren nach wenigen Minuten Lust, sofort in Richtung Marrakesch aufzubrechen. Doch Ali Baba gefällt es auch in Bonn, vor allem in der Altstadt. „Wir sind eine große Familie“, sagt Ali Baba mit seinem breitesten Lächeln. Die aus dem „Maroc Shop“ eine Straße weiter kennt er natürlich – aber mit Familie meint er auch die Bewohner der Altstadt, seine Kundschaft, alle eben. Ali Baba kennt ihre Besonderheiten: Die Deutschen wollen in Ruhe gucken und nicht angesprochen werden. Dabei lädt eine Sitzecke mit niedrigen runden Mosaik-Tischchen und schwarzen bequemen Ledersesseln mit hoher Rückenlehne zum Teetrinken und Diskutieren ein. Chinesen und Japaner fotografieren viel und kaufen wenig.
Vor Ali Babas Laden mit der auffälligen gelb-orangefarbenen Leuchtreklame, die Kamele und Palmen zeigt, schiebt eine junge Altstadtbewohnerin afrikanischer Herkunft ihr Mountainbike mit Kinderanhänger über den Gehweg. Sie unterhält sich auf Kölsch mit ihrem kleinen Sohn und ihrer Tochter. Als sie unvermittelt stehen bleibt, fährt ihr eine junge Frau mit Kopftuch ihren großen modernen Kinderwagen hinten auf. „Oh, Entschuldigung.“ „Kein Problem.“
Ruhestätte – Ruheinsel
Marokkanisches Gebäck im Gepäck, auf der Suche nach einer ruhigen Bank im Grünen – da tauchen die hohen Bäume einer Parkanlage auf. Der Park entpuppt sich als der drei Hektar große „Alte Friedhof“, eines der wichtigsten Kulturdenkmäler in Bonn und einer der bedeutends-ten Friedhöfe Deutschlands. Hier ruhen neben einfachen Bürgern Berühmtheiten aus Kunst, Wissenschaft und Politik wie der Schriftsteller Ernst Moritz Arndt, das Komponistenpaar Clara und Robert Schumann oder der Philosoph und Bonner Professor August Wilhelm von Schlegel.
In seiner dreihundertjährigen Geschichte haben zahlreiche Bildhauer und Architekten Grabdenkmäler für den „Alten Friedhof“ entworfen. Sie repräsentieren die wichtigsten Kunstepochen seit dem Barock. Von Mai bis Oktober können Besucher immer dienstags an Führungen teilnehmen, außerdem an jedem ersten Samstag im Monat.
Wer an den Kreuzen, Urnen und Säulen, unter jahrhundertealten Buchen, Kastanien und Lärchen entlangschlendert, lässt die wuselige Nordstadt allmählich hinter sich. Von einer schlichten Mauer umgeben, inmitten enger Bebauung und zwischen viel befahrenen Straßen ist der „Alte Friedhof“ eine grüne Insel – ein Rückzugsort für Bewohner und Besucher, für Pflanzen und Tiere.
Und für Chöre. Mehrstimmiger Gesang dringt zwischen den Bäumen hervor, als stünde dort ein 15-köpfiges Ensemble. Er wird immer lauter, je weiter man den Friedhof Richtung Westen durchquert. Am Grab der Schriftstellerin und Geliebten Richard Wagners, Mathilde Wesendonck, stehen drei Männer und drei Frauen des Bonner CantArte-Chors und singen in der Spätnachmittagssonne. Als der letzte Ton verklungen ist, fragt ein Mann, Mitte 40, mit kurzen Haaren und randloser Brille, das Spontan-Publikum: „Wir singen hier am Samstag. Brauchen wir Mikrofon und Verstärker?“ „Auf keinen Fall, das klingt toll so!“
Faire Kaffeekultur
Christiane Hattingen röstet – und der Geruch lockt Kunden in ihr Ladenlokal mit den vier Meter hohen Decken, dem Holzfußboden und der nostalgischen Einrichtung. Fast täglich erhitzt die Diplom-Kaffeesommelière ihre Bohnen aus den Hochlandanbaugebieten in Süd- und Mittelamerika, Nordafrika und Asien in einem kleinen Trommelröster, umringt von Kaffeesäcken. „Röstkaffee verliert schnell an Frische. Darum röste ich immer frisch für den kurzfristigen Bedarf oder auf Bestellung“, erklärt die 49-Jährige, die die Bohnen während des gesamten Prozesses überwacht, bei Bedarf Hitze reduziert oder zugibt und die Zeit variiert. Sie riecht, sie fühlt, sie lauscht. Die Bohnen knacken wie Popcorn. Für einige ihrer Röstungen hat die Bonnerin Auszeichnungen erhalten. Hatting unterstützt die „Slow Food“-Initiative und den direkten fairen Handel. Sie ist Mitglied in der Deutschen Röstergilde, die diese Werte vertritt und garantiert. Auf sogenannten Ursprungsreisen in die Anbaugebiete kaufen Vertreter der Röstergilde Kaffees von kleinen, fair und nachhaltig geführten Plantagen ein.
Während Christiane Hattingen an der schwarzen Röstmaschine steht, die einer kleinen Dampflok ähnelt, und während sich die Bohnen in der Trommel drehen, sitzen im Innenhof des „Kaffeekontors Bonn“ ein junges Pärchen und zwei Freundinnen, Mitte 50, trinken Espresso, Cappuccino, Latte macchiato und essen hausgemachte Kekse und Kuchen. Typische Laufkundschaft. Zu Hattingens Stammkunden gehören Bonner Cafés, mobile Kaffeestationen und Unternehmen, die ihre Mitarbeiter mit gutem, fairen Kaffee beglücken. Privatpersonen bedient Christiane Hattingen an ihrer altehrwürdigen Ladentheke, lässt die Bohnen aus Messingschütten in wiederverschließbare Aromaschutzbeutel prasseln, mahlt sie auf Wunsch und gibt Tipps: „Füllen Sie den gemahlenen Kaffee niemals aus dem Beutel um – sonst können Sie die Crema vergessen.“ Individuelle Beratung, die den Genuss rettet.
Kirsten Lange