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Ein Pfad führt über eine grüne Alm
Ein Junge gießt Pflanzen, die in einer Holzkiste wachsen
Eine Seilbahngondel schwebt über eine dicht bebaute Stadt

Titel 4/2013

„Gleichberechtigung für alle“

Im Interview: Verkehrsplaner Michael Frehn plädiert für neue Straßenräume, die Fußgänger, Radfahrer und Autos gleichberechtigt nutzen können.

Foto: planersocietätDer Stadt- und Verkehrsplaner Dr. Michael Frehn (46) ist Inhaber der„Planersocietät“ in Dortmund. Das Büro steht für integrierte Stadt- und Verkehrskonzepte und hat das Ziel, zukunftsfähige und nachhaltige Ideen für die Stadt und Mobilität von ­morgen zu entwickeln und umzusetzen.

fairkehr: Im öffentlichen Straßenraum haben Autos Vorfahrt, Menschen sind an den Rand gedrängt und haben das Nachsehen. Was kann man tun, um das zu ändern?

Michael Frehn: Straßenraum war lange Zeit ein Ort für vielfältige Aktivitäten der Bürger, dort fand öffentliches Leben und Arbeiten statt. Noch bis ins 19. Jahrhundert gab es keine Vorfahrtregelung fürs Auto, die gibt es erst seit den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts. Bis vor dem Zweiten Weltkrieg war es trotzdem völlig normal, dass Kinder in Dörfern oder in Wohnquartieren auf der Straße spielten. Erst mit der massenhaften Ausbreitung des Autos und dem gleichzeitigen Rückzug der Menschen ins Private wurde der Straßenraum mehr und mehr segmentiert. Da spielten auch zunehmend Sicherheitsaspekte eine Rolle: Weil Autos auf der Straße Vorfahrt haben, sind Kinderspielplätze eingezäunt.

Wie und wo kann man das aufbrechen?

Man kann anfangen, Straßenräume nach dem Mischungsprinzip umzubauen, dort, wo schon urbane Strukturen da sind, wo viele Fußgänger unterwegs sind und öffentliches Leben stattfindet. Das können Stadtkerne sein, Altstadtbereiche, Wohnquartiere oder -straßen.

Verkehrsteilnehmer sind unterschiedlich stark. An Schnittstellen ihrer Wege kommt es häufig zu Unfällen. Wird das besser, wenn man Fußgänger, Radfahrer und Autos auf einer Fläche aufeinander loslässt?

Pauschal kann man das nicht beantworten. Es hängt stark von der Geschwindigkeit der Fahrzeuge ab. Bei niedrigem Tempo kann ich auf gegenseitige Rücksichnahme und Kommunikation der Verkehrsteilnehmer untereinander bauen.

Schon Radfahrer und Fußgänger kommen miteinander in Konflikt. Radfahrer fühlen sich durch unachtsam herumlaufende Fußgänger gestört. Letztere beklagen sich über rasende Radfahrer. Wie entschärft man diesen Konflikt?

Konflikte gibt es hauptsächlich, wenn sich Fußgänger und Radfahrer eine zu knapp bemessene Fläche teilen müssen. Es hängt unserer Erfahrung nach stark davon ab, wie das Fahrradfahren in den Köpfen der Menschen verankert ist.

Ist also ein Bewusstseinswandel nötig?

Ich glaube, dass die Multimodalität mittlerweile so weit vorangeschritten ist, dass der Umbau zu gemeinsam genutzten Flächen klappen kann. Heute sind viele Menschen mal als Autofahrer, aber auch als Fußgänger und Radfahrer unterwegs.

Foto: Jörg Thiemann-LindenBeispiel Metz, Frankreich: Die Franzosen sind dem Schweizer Beispiel gefolgt und ­machen damit den Weg frei für Begegnungszonen in Städten und Gemeinden. Baulich ist der Platz in Metz so gestaltet, dass sich alle Verkehrsteilnehmer gleichberechtigt fühlen ­sollen, Fußgänger dürfen überall queren, Autos nicht schneller als 20 km/h fahren, was ein eigenes Schild anzeigt.

Wer hatte die Idee?

Die Schweiz hat das als erstes Land umgesetzt. Dort funktionieren sogenannte Begegnungszonen mit Flächen für alle Verkehrsteilnehmer sehr gut. Angefangen hat die Stadt Burgdorf im Kanton Bern 1995 mit einem vierjährigen Modellversuch, einfach weil es dort nicht genügend Platz gab, um die Verkehrsarten voneinander zu trennen. Dieses Projekt hat so gut geklappt, dass man es heute überall in der Schweiz anwendet. Die Menschen verständigen sich und teilen sich den Raum.

Wie funktionieren die Begegnungszonen?

Die Schweiz hat für sie ein eigenes Schild entwickelt, denn Autofahrer dürfen maximal 20 km/h fahren. Das ist eine Weiterentwicklung des bei uns möglichen verkehrsberuhigten Bereiches, der sogenannten Spielstraße, in der Fußgänger Vortritt haben, Autos aber nur Schrittgeschwindigkeit fahren dürfen, also 7km/h. Ansonsten gilt die gleichberechtigte Nutzung aller Verkehrsteilnehmer.

In Deutschland gibt es keine Begegnungszonen, wo ist das Problem?

Verkehrsberuhigte Bereiche werden bei uns sehr restriktiv gehandhabt. Sie müssen viele Auflagen erfüllen. Die wichtigste ist, dass ein möglichst niveaugleicher Ausbau erfolgen soll, dass heißt, alle laufen oder fahren auf einer Ebene, ohne Trennung. Dieser großflächige Umbau kostet viel Geld. Außerdem können verkehrsberuhigte Bereiche laut Straßenverkehrsordnung nur in Nebenstraßen zum Einsatz kommen.

Foto: Michael FrehnBeispiel Frankfurt am Main: Die „öffentlichen Stühle“ am Luisenplatz können die Anwohnerinnen dorthin verrücken, wo sie sie gerade zum Treffen und Rasten am ­liebsten stehen hätten.

Was ist das Neue an Begegnungszonen?

Die Straße kann im Prinzip beibehalten werden, Bürgersteige müssen nicht unbedingt zurückgebaut werden. Das Schild weist auf die neue Situation hin, einfache Umbauten, Möblierung oder Markierungen reichen. Begegnungszonen in der Schweiz sind rechtlich abgesichert. Sie können – und das ist der große Unterschied – nicht nur in Wohnbereichen, sondern überall dort entstehen, wo es viele Fußgänger gibt. Zum Beispiel auf Bahnhofsvorplätzen, in Altstädten oder am Ende einer Fußgängerzone. Es gelingt dort sehr gut, dass Busse fahren, Fahrradfahrer unterwegs sind und Fußgänger trotzdem selbstverständlich queren. Die Begegnungszone baut auf Gleichberechtigung für alle. Man kann es sich in der Schweiz überall anschauen.

Woran scheitert in Deutschland die rechtliche Regelung, die den Bau von Begegnungszonen zulässt?

Sie ist politisch nicht gewollt. Es gab eine Anfrage bei der jetzigen Bundesregierung, ob man Begegnungszonen einführen soll, die abgelehnt wurde mit der Begründung, dass man nicht noch ein zusätzliches Schild brauche. Es würde zu einer Verunsicherung der Autofahrer führen. Da muss man noch dicke Bretter bohren. Das Netzwerk „Shared Space“, in dem Planer mitarbeiten, aber auch der VCD Mitglied ist, versucht, politisch Druck zu machen.

Wie sieht es sonstwo in Europa aus?

Nach den positiven Erfahrungen der Schweizer haben die Belgier Begegnungszonen eingeführt, dann die Franzosen, und dann die Österreicher. Wir sind langsam umringt von Ländern, die das selbstverständlich praktizieren. Der Bedarf an einer neuen verkehrsordnungs­rechtlichen Anordnung, die irgendwo zwischen Spielstraßen und Tempo-30-­Regelung liegt, ist also da.

Was wird in Deutschland praktiziert? Welche Vorzeigebeispiele gibt es?

Im Frankfurter Nordend hat unser Büro zum ersten Mal den Umbau dreier Straßen für eine gleichberechtigte Nutzung moderiert. Es war wichtig zu zeigen, dass es im öffentlichen Raum auch andere Nutzungsansprüche gibt, von Fußgängern besonders, von Kindern, Jugendlichen und älteren Menschen. Es gibt auch eine Begegnungszone auf dem Bahnhofsvorplatz in Konstanz. Hier hat sich die Nähe zur Schweiz und die Vorbildwirkung positiv ausgewirkt.

Foto: Jörg Thiemann-LindenBeispiel Brühl im Rheinland: Die neue Gestaltung im Zentrum macht Platz für Menschen. Abgestellte Fahrräder schaffen transparente Grenzen, Fußgänger können sich frei bewegen, Autos fahren Schritttempo – sie sind hier nur zu Gast.

Was hat sich dort verändert?

In Frankfurt wurden die Straßen im Wohnquartier Treffpunkt, Ort für Kommunikation, nicht nur für Verkehr. Beim Umbau wurde mit Markierungen gearbeitet, eine Neuordnung der Parkplätze vorgenommen, Torelemente aufgestellt, Spielmöglichkeiten auf Flächen mit rotem Asphalt angelegt, Sitzpoller, Bänke, und mobile Stühle aufgestellt. Einige Parkplätze an Kreuzungen sind weggefallen, trotzdem werden die Straßen noch stark vom parkenden Autos dominiert. Eigentlich müsste man den Anwohnern empfehlen, ihr Auto abzuschaffen oder Carsharing zu machen, es gibt sowieso nicht für alle Parkplätze.

Und außerhalb von Wohnquartieren, gibt es Ansätze zu Begegnungszonen?

Sehr gut gelungen ist der Umbau in Duisburg am Opernplatz. Das ist eine Hauptverkehrsstraße mit 14000 Fahrzeugen am Tag. Trotzdem ist sie so umgestaltet worden, dass man als Autofahrer das Gefühl hat, hier komme ich in einen Bereich hinein, in dem ich aufpassen muss, hier bin ich zu Gast. Die Autos fahren langsam. Fußgänger und Radfahrer können sich frei bewegen. Die Stadt hat die vierspurige Straße auf zwei Spuren zurückgebaut. Das klappt hervorragend, obwohl vorher alle Bedenken hatten. Eigentlich fehlt da nur noch das Schild „Begegnungszone“. Die Duisburger sind so begeistert davon, dass sie auch in Ortsteilzentren solche Plätze fußgängerfreundlich gestaltet haben.

Wie hat die Stadt das rechtlich umgesetzt?

Sie musste sich mit einem Konstrukt verkehrsordnungsrechtlich behelfen, in­dem sie den Opernplatz als verkehrsberuhigten Bereich ausgewiesen hat, mit der vorgeschriebenen Schrittgeschwindigkeit für Autofahrer. Das gab es bisher nur in Wohnstraßen. Die Alternative wäre gewesen, dass man die Fußgänger an drei Stellen mit Ampeln hätte queren lassen müssen, was den Platz total zerstört hätte.

Haben die Städte Spielraum?

Für mich ist interessant, dass es schon viele Straßen und Plätze gibt, die bereits den Charakter von „Shared Space“ oder Begegnungszonen haben, ohne dass sie so heißen. Verkehrsordnungsrechtlich sind sie immer über einen Umweg gebaut. Eigentlich hätten Fußgänger keinen Vortritt, aber weil die Plätze so gestaltet sind, nehmen sie sich das Recht – und es klappt auch gut. Wären Begegnungszonen im Gesetz verankert, hätten wir eine bessere Grundlage. Aber man kann auch schon vorher was machen.

Interview: Uta Linnert


Informationen über die Situation in Deutschland: www.begegnungszone.de

In der Reihe „Forschung Radverkehr“ hat das Deutsche Institut für Urbanistik (Difu) eine vierseitige Schrift mit dem Titel „Begegnungszonen, Shared Space“ herausgegeben.

fairkehr 5/2023