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Ein Pfad führt über eine grüne Alm
Ein Junge gießt Pflanzen, die in einer Holzkiste wachsen
Eine Seilbahngondel schwebt über eine dicht bebaute Stadt

Politik 3/2013

Grünphasen mit Räumzeiten

Fußgänger haben oft das Gefühl, an Ampeln zu lange warten zu müssen. Oder sie müssen an Druckampeln um Grün erst bitten – bekommen­ es aber trotzdem nicht schneller.

Foto: Nils TheurerNicht fair: An vielen Ampelkreuzungen müssen Fußgänger und Radfahrer erst um Grün betteln und warten dann relativ lange darauf.

Wolfgang Hertkorn sagt immer: „Kinder, nicht laufen!“ Der Ampelspezialist im Tiefbauamt der Stadt Stuttgart, kennt sich bestens aus mit Lichtsignalanlagen. So heißen Ampeln in der Fachwelt. Wer ihre Schaltungen verstehen möchte, kann sich ohnehin ein Vokabelheft anlegen, Wolfgang Hertkorn bemüht sich aber stets um plastische Erläuterungen. „Wenn die Fußgängerampel auf Rot schaltet, ist immer genug Zeit, die Straße in normalem Tem­po fertig zu überqueren!“

Normal heißt für Lichtsignalanlagentechniker: mit 1,2 Metern pro Sekunde (m/s). Die Spanne, die Fußgänger bis zum rettenden anderen Ufer der Furt benötigen, heißt „Räumzeit“. Ist in der Nähe des Übergangs zum Beispiel ein Altenheim, setzen die Planer das virtuelle Fußgängertempo auch mal auf 1 m/s herunter. Damit die zu überquerende Fahrbahn ­– zumindest rechnerisch – wieder frei ist, können die Autos mit 10 m/s wesentlich länger Grün erhalten. Radfahrer, die gemeinsam mit Fußgängern an der Ampel stehen, werden dadurch sehr früh ausgebremst. Eine eigene Fahrradampel nimmt eine Fahrrad-Räumgeschwindigkeit von 4 m/sec an. Das ist pedalfreundlich und wird von Radfahrern auch eher akzeptiert.

Alle diese Werte finden sich in den sogenannten Richtlinien für Lichtsignalanlagen (RiLSA), entworfen von der in Köln ansässigen Forschungsstelle Straßen- und Verkehrswesen. „Das ist so eine Art DIN. Da muss eine Gemeinde schon ganz besondere Gründe vorgeben, wenn sie sich daran nicht hält“, sagt Wolfgang Hertkorn, der Stuttgarter Abteilungsleiter für Verkehr. Und das hat viele Auswirkungen auf Fußgänger: Ist eine Ampel nicht in weitere Schaltungen eingebunden, kommt nach dem Drücken im Optimalfall nach einer Sekunde Verarbeitungszeit für die Autos Gelb, drei Sekunden später Rot. Dann wird aber noch die Kraftfahrzeug-Räumzeit dazugerechnet, bei angenommenen sechs Metern Fahrzeuglänge und 10 m/s ist das grob eine weitere Sekunde. Nach insgesamt fünf Sekunden leuchtet also bestenfalls die Fußgängerampel Grün.

Grüne Welle für Autos

Dieser Fall wird im Alltag allerdings oft durch besondere Schaltungen unterdrückt. Autos können zur Beschleunigung zum Beispiel des Feierabendverkehrs „Grüne Welle“ erhalten oder durch Überfahren von Induktionsschleifen den Grün-Wunsch der Fußgänger blockieren. Auch Linienbusse oder Stadtbahnen können per Funk Vorfahrt erhalten und Fußgänger zum Warten zwingen.

Prinzipiell sollen alle Verkehrsteilnehmer an einer Kreuzung während eines „Umlaufes“ Grün bekommen. Ein ganzer Umlauf dauert oft 100, in Hauptverkehrszeiten auch einmal 120 Sekunden. Ampelexperte Hertkorn erläutert gleich das innewohnende Problem: „Weil für Fußgänger alles über zwei Minuten zu lange zum Warten ist, machen wir einen Doppelanwurf – das heißt, Autos kommen dann einmal dran, Fußgänger zweimal.“ Das andere Extrem, die Umlaufzeit zu verkürzen und die Grünphasen überall zu kappen, würde ­bewirken, dass vor lauter Reaktions-, Räumzeiten und Gelbphasen unverhältnismäßig wenig Grünphase bliebe – die Kapazität der Kreuzung würde dadurch merklich sinken. Fußgänger sollen – laut RiLSA – auch wenigstens bis zur Fahrbahnmitte laufen können, bevor sie wieder Rot haben. „Man kann es nicht allen recht machen, oft gibt es politisch gewollte Vorgaben, die sich gegenseitig technisch ausschließen“, sagt Ingenieur Hertkorn. Er versteht alle Seiten und kann doch nicht alle zufriedenstellen.

Immerhin, Grüne Wellen gibt es an großen Kreuzungen auch für Fußgänger, da kennt Hertkorn kein Erbarmen für wartende Autos: „Wenn man drei Umläufe für die Überquerung einer Kreuzung braucht, provozieren wir Rotläufer, das wissen wir genau.“ Genauso können die Techniker auch Verstöße von Autofahrern an Fußgängerampeln provozieren. Kommt nach einer Rotphase für Autos nur kurz Grün und dann gleich wieder Rot, mehren sich bei Rot überfahrene Ampeln und für die Fußgänger wirds gefährlich. Das Mindestgrün für Autos dauert deshalb wenigstens zehn bis 15 Sekunden, da können Fußgänger die Ampeldrücker bearbeiten, wie sie möchten. Praktiker Hertkorn erzählt: „Vielleicht gebe ich einem Autofahrer 20, 30 oder auch 50 Sekunden Mindestgrün, viel länger kann ich einen Fußgänger aber nicht warten lassen, sonst sucht er die Lücke und läuft los.“

Nachteilig für Fußgänger ist außerdem, dass sie keine Induktionsschleifen auslösen können und ihre Richtung an Kreuzungen nicht vorwählen können. Als Verkehrsteilnehmer mit der wenigsten Geduld und der längsten Räumzeit sind und bleiben sie die Schlusslichter jeder Signalanlagenschaltung. Zuletzt können Fußgänger etwas, was kein anderer Verkehrsteilnehmer fertigbringt: Die Planer nennen es „nutzloses Grün anfordern“, also drücken und unter Moralverlust bereits gequert haben, wenn ihre Ampel auf Grün springt und die Autos zum Stehen gekommen sind.

Alles zusammengenommen haben Fußgänger sehr oft das ungute Gefühl, dauernd an Ampeln warten zu müssen. Ampeln, die vorrangig für Fußgänger freie Bahn zeigen und erst auf Rot schalten, wenn Autos das mit einer Induktionsschleife auslösen, gibt es offenbar gar nicht. Da es mit der RiLSA ja eine Ampel-Bibel gibt, wandten wir uns an ihre Schöpfer. Jörg Ortlepp, der bei der Kölner Forschungsstelle Straßen- und Verkehrswesen den Ausschuss für Fußgänger und Radfahrer leitet, musste das bestätigen. „So ein Dauergrün für Fußgänger ist in der RiLSA tatsächlich nicht vorgesehen. Grundsätzlich würde ich eine solche Schaltung aber auch nicht ausschließen“, erklärt er. Vielleicht müsste eine ­Ge­meinde sich einfach einmal trauen.

Nils Theurer

fairkehr 5/2023