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Ein Pfad führt über eine grüne Alm
Ein Junge gießt Pflanzen, die in einer Holzkiste wachsen
Eine Seilbahngondel schwebt über eine dicht bebaute Stadt

Reise 2/2013

Aareschwumm macht süchtig

Foto: Bern TourismusDie Aare trägt ihre Schwimmerinnen und Schwimmer einmal ums UNESCO-Weltkulturerbe Berner Altstadt herum.

Jeden Sommer springen Zehntausende Berner in ihren kalten Fluss – ein verbindendes Ritual und europaweit einmalig.

Philipp Keel wird häufiger fotografiert als die Bären im Berner Bärenpark. Diesen Eindruck bekommt er jedenfalls, wenn er sich in seiner Mittagspause vom türkisblauen Wasser der Aare mitnehmen lässt, die in weiten Schleifen durch die Schweizer Hauptstadt eilt. Seine Bürokleidung hat der 29-jährige Grafikdesigner in einem wasserdichten Schwimmsack verstaut. Auf den legt oder setzt er sich – und dann schwebt er auf dem Wasser.

Auch heute reagieren die Touristen sofort: Als Philipp am weitläufigen Areal des Bärenparks vorbeitreibt, wenden sich vier, sechs, acht Besucher von den Braunbären, den Wahrzeichen Berns, ab und richten ihre Kameras schnell auf den dunklen Haarschopf in der Strömung. Nur wenige Sekunden später hat die Aare den Schwimmer um den nächsten Brückenpfeiler herum transportiert.

Wenn Philipp Keel sich mittags vom Büro im Zentrum der Berner Altstadt auf den Weg hinunter zur Aare macht, zwei- bis dreimal pro Woche, ist er nicht allein. Viele Berner kühlen sich im Sommer während der Pause in ihrem Fluss ab, gehen auf einen „Schwumm“. Philipp findet das mittägliche Aareschwimmen einfach nur herrlich. Er hat im Büro eine Schwimmgruppe gegründet, bislang sind zwei Kollegen aus dem Marketing beigetreten. Nach der Erfrischung können sie nachmittags umso besser arbeiten.

Das Ritual der Badehosen-Pilger

Die Aare lädt ein, jeden und überall. Die Berner brauchen keine Strände. Vom Ufer führen Treppen und Leitern mit Haltestangen ins Wasser – das man jederzeit trinken könne, versichern die Einwohner. Sie lieben ihren Fluss. Wer sich nicht in der Strömung treiben lässt, paddelt in einem Schlauchboot, hält an der Böschung die Beine ins Wasser, spaziert, joggt oder radelt am Ufer entlang. Es gibt Berner, die schwimmen täglich, zu jeder Jahreszeit. Und sei es nur von einer Leiter zur nächsten. Der Aareschwumm ist ein Ritual – das allerdings gelernt werden muss.

Foto: Elke Petra ThonkeDie Aare ist nicht ohne: Bevor ihre Besucher das Wehr hinter dem Marzilibad erreichen, sollten sie besser aus dem Wasser sein.

Einsteiger sollten sich mit der Berner Tradition in einem der beliebten Flussbäder vertraut machen. Die kosten keinen Eintritt, der Staat sorgt selbstverständlich für das Badevergnügen seiner Bürger.

Im Marzili südlich der Altstadt lassen sich die Berner seit Jahrhunderten treiben. Seit 1782 gilt es als das größte Flussbad der Schweiz. Spätestens ab dem Nachmittag tummeln sich hier diejenigen, die sehen und gesehen werden möchten. An heißen Tagen breiten bis zu 13.000 Menschen ihre Handtücher auf den Liegewiesen aus, auf der Aare schwimmen Hunderte Köpfe vorbei. Morgens belegen eher Rentner die Holzbänke und -kabinen. Wie die drahtige, sonnenzerfurchte Dame um die 70, die ausschließlich das Marzilibad besucht. Der regelmäßige Schwumm gehört zu ihrem Leben. In den Rhein ist sie zwar auch schon mal gestiegen – doch der war ein stehendes Gewässer gegen die Aareströmung, sagt sie.

Freitagmorgen, 10 Uhr. Noch hat der Fluss 16 Grad. Wärmer als 22 Grad wird er nie – immerhin entspringt er den Eisströmen des Aaregletschers, etwa 100 Kilometer von Bern entfernt. Wer sich als ungeübter Aareschwimmer einfach in die Strömung wirft, riskiert sein Leben. Das „Aanetze“, Benetzen, ist eine der wichtigsten Regeln. Erst Anfang August starben zwei Touristen aus Südkorea, als sie in der Nähe des Bärenparks in den Fluss sprangen. Daraufhin hat das örtliche Tourismusbüro die Warnhinweise für Aareschwimmer noch prominenter auf seiner Website platziert.

Anfänger sollten niemals allein am Berner Ritual teilnehmen. Also heißt es sich einreihen in die Reihe der Pilger in Badehose und Bikini und möglichst weit flussaufwärts marschieren, beispielsweise bis zum Strand beim Campingplatz Eichholz, idyllisch im Grünen gelegen. Von da aus nimmt die Aare ihre Besucher in zehn, fünfzehn Minuten mit zurück zum Marzilibad.

Die Aaretaufe bestehen

Der Gänsemarsch ist ein Grund, aus dem manche Berner aufs Aareschwimmen verzichten: Man zeigt seinen Körper ein, zwei Kilometer lang recht öffentlich. Bevor man ihn dann fast einem Temperaturschock, einem „Gfrörni“, aussetzt. Schon wenn das Wasser die Knie umspült, beginnt das Herz schneller zu schlagen und der Atem wird hektisch. Stufe für Stufe geht es tiefer in den Fluss. Irgendwann hilft auch das Benetzen nichts mehr, die Aare zerrt an den Beinen, sie wartet – hinein!

Ein Schrei: Die Kälte lässt den Puls weiter rasen und den Atem pfeifen. Das Ufer zieht pfeilschnell vorbei. Wer es bei dem Tempo schafft, unter Wasser dem Rauschen und Schleifen der Kieselsteine zu lauschen, wie es erfahrene Aareschwimmer empfehlen, hat wirklich die Ruhe weg. Erst kurz vor dem Marzilibad hat sich der Körper an die Kälte gewöhnt, der Atem wird ruhiger, die Geschwindigkeit beginnt Spaß zu machen. Das Schild „Letzter Ausstieg“ taucht auf, daneben eine rote Haltestange. Ein paar Hundert Meter hinter dem Marzilibad blockiert ein Wehr, die „Schwelle“, den Fluss, also rechtzeitig die Strömung verlassen.

Mit ein paar Zügen auf die Stange zusteuern – wer das Ufer nicht flach genug anschwimmt, scheuert sich die Knie an Steinen auf –, mit beiden Händen zupacken, erst den einen Fuß, dann den anderen auf die Treppe stellen. Die Aare zerrt weiter, will nicht loslassen, man muss sich gegen den Sog stellen, die Steinstufen weiter erklimmen – geschafft. Kurz darauf setzt ein Hochgefühl ein. Die Aaretaufe ist bestanden.

Fotos: Kirsten LangeAm Altenbergsteg üben junge Männer das Surfen oder Springen kopfüber ins 17 Grad kalte Wasser.
Fotos: Kirsten Lange

Grafiker Philipp Keel ist an diesem Freitag, Mitte August 2012, etwas früher als sonst direkt hinter der Schwelle in die Aare gestiegen, er will ein Stück weiter schwimmen als üblich. Normalerweise trägt ihn die Aareschlaufe in der Mittagspause einmal um das UNESCO-Weltkulturerbe Berner Altstadt bis zum Altenbergsteg. Heute heißt sein Ziel Lorrainebad, das zweite Flussbad der Stadt. Hinter der Schwelle ist die Strömung stark. Die Strudel ziehen Philipp und seinen Schwimmsack in wenigen Minuten bis zum Bärenpark. Der 29-Jährige treibt durchs historische Bern, er sieht die mittelalterlichen Sandsteinfassaden und die roten Ziegeldächer an sich vorbeiziehen, im Hintergrund das gotische Münster. Eine Stadtbesichtigung vom Wasser aus, während er selbst zur Touristenattraktion wird.

Fünf Brücken unterquert Philipp auf seinem Weg ins Lorrainebad, einige von ihnen majestätische Konstruktionen. Die mehr als 40 Meter hohen Viadukte werfen lange Schatten über den Fluss. Philipp weiß, bei welcher er besser durch den mittleren Torbogen schwimmt, da die Strömung am rechten ihn nicht wieder fortlassen würde und links unter der Wasseroberfläche ein Rohr lauert.

Am Altenbergsteg springen Jugendliche mit Salto ins Wasser und brüllen nach dem Auftauchen: „Alter, so kalt!“, bevor die Aare sie weiterträgt. Ein junger Mann hat ein langes Seil mit einer gespannten Feder am Steg befestigt und stemmt sich mit einem Surfbrett gegen die Strömung. Er lässt los und schippert durch die abrupt aufgehobene Spannung einige Meter weit übers Wasser. Fast 50 Meter höher fahren Autos über die Kornhausbrücke. Doch davon hören die Aareschwimmer nichts. Nur die Geräusche des Flusses, ein leises Rauschen und Plätschern, und den Wind in den Bäumen am Ufer. Die Stadt ist nah und doch weit weg.

Eine überirdische Erfahrung

„Urban Swimming“, Schwimmen in der Stadt, könnte auch anderswo zum Trend werden. Doch nicht alle Städte bieten so sauberes Wasser wie Bern. Die Berliner sollen sich mithilfe künstlicher Strände wieder an ihre Spree heranwagen, in München wurde die Isar renaturiert und Wien schüttete während der Fußball-EM 2008 Sand an der Donau auf.

Aber: „Bern hat die ausgeprägteste Kultur des Stadtschwimmens, sie ist einzigartig.“ So lautet das Ergebnis des US-amerikanischen Umweltingenieurs Ferdi Hellweger, Uni-Dozent aus Boston. Er reiste mit seinen Studentinnen und Studenten 2009 durch Europa und erforschte die Tradition des „Urban Swimmings“ in Basel, Zürich, Genf, Prag, Hamburg, Rom, Venedig, Amsterdam – und in der schweizerischen Hauptstadt. Ziel des Projekts war es herauszufinden, wie der Charles River in Boston ebenfalls zu einem Fluss für Stadtschwimmer werden könnte. „Die Aare ist Kult, sie trägt viel zur Lebensqualität in Bern bei“, stellt Hellweger fest. Während seines Aareschwumms fühlte er sich, als fahre er im Auto und betrachte durchs Fenster die Landschaft. „Was soll ich sagen? Man muss das erlebt haben.“

Eine überirdische Erfahrung – so bezeichnete auch ein US-amerikanischer Tourist seinen Erstkontakt mit dem Berner Fluss, erzählt Kaspar Allenbach. Der 28-Jährige schwimmt seit frühester Kindheit in der Aare. Er weiß deshalb auch, dass mit ihr nicht immer zu spaßen ist. Doch nirgendwo fand er eine Anleitung für Neulinge. Also gestaltete der Kunsthochschulstudent als Bachelorarbeit in Visueller Kommunikation die Webseite www.aare.guru. „Die Aare ist ein weltweit einmaliger Ort, um direkt im urbanen Raum in einem natürlichen Gewässer zu schwimmen“, schwärmt Kaspar Allenbach von seinem Hausfluss. „Du kommst in unmittelbaren Kontakt mit einer Naturgewalt, was unserer städtischen Gesellschaft doch schon ziemlich abhanden gekommen ist.“

Hinter dem Altenbergsteg fließt die Aare gemächlicher, für Aareschwumm-Unerfahrene empfiehlt sich der Einstieg an dieser Stelle. Philipp Keel treibt seit einer halben Stunde im nun 17,2 Grad „warmen“ Wasser, langsam fröstelts den routinierten Aarenauten. Bis zum Lorrainebad sind es noch wenige Hundert Meter. Dort warten die besten Pommes der Stadt. Auf dem Holzsteg am Naturschwimmbecken lässt sich Philipp von der Sonne aufwärmen.

Das Lorrainebad im Norden Berns ist kleiner als das trubelige Marzili, das Publikum alternativer, die Umkleidekabinen und Mauern sind mit Graffiti bemalt. Im grünen Grundwasser ziehen bis zu 40 Jahre alte dunkelgraue Fische gemeinsam mit den Badegästen ihre Bahnen. Noch zehn Minuten Sonne tanken, dann wird Philipp zu Fuß zurück ins Büro gehen. Und spätestens am Montag steigt er wieder hinter dem Wehr in die Strömung.

Denn wen das Hochgefühl im Fluss erst einmal gepackt hat, den lässt es nicht mehr los. Der erste Warnhinweis an Aare-Einsteiger sollte lauten: Aareschwumm kann süchtig machen.

Kirsten Lange

Schwimmen in Bern:

Bern Tourismus hat einen Stadtplan veröffentlicht, der Ein- und Ausstiegsstellen für Aareschwimmer zeigt. Bestellen unter: Bern Tourismus, Bahnhofplatz 10a, 3011 Bern, Tel.: +41 (0)31 3281212

Anreise:
Ab Hamburg, Köln oder Frankfurt/Main mit ICE oder IC/EC und Umstieg in Basel. Ab Frankfurt gibt es auch Direktverbindungen. Ab München über Basel oder über Ulm/Zürich mit ICE, IC/EC und IR. Mehr Infos auch in der Rubrik Anreise des Reiseportals www.wirsindanderswo.de.

fairkehr 5/2023