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Ein Pfad führt über eine grüne Alm
Ein Junge gießt Pflanzen, die in einer Holzkiste wachsen
Eine Seilbahngondel schwebt über eine dicht bebaute Stadt

Titel 1/2013

Wachstum für Montabaur

Der ICE-Bahnhof beschert der kleinen Kreisstadt des ländlichen Westerwaldkreises einen Wachstumsschub.

Foto: Uta LinnertTor zur Welt: Die Hochgeschwindigkeitszüge, die im ICE-Bahnhof Montabaur halten, verbinden den Westerwald mit den Metropolen Europas und über die nahen Flughäfen Frankfurt und Köln/Bonn mit der weiten Welt.

Zugreisende auf der ICE-Strecke zwischen Köln und Frankfurt kennen den Namen des Städtchens meist nur wegen des Halts auf scheinbar freier Strecke. Züge, die ansonsten mit bis zu 300 Stundenkilometern durch das rechtsrheinische Mittelgebirge rasen, sind durch den Stopp im Westerwald einige Minuten länger unterwegs.

Ob dieser Halt im Hochgeschwindigkeitsnetz der Deutschen Bahn so kurz hinter Köln und Siegburg/Bonn fragwürdig oder widersinnig ist, wurde seinerzeit heftig diskutiert. Nach jahrelangem Ringen hatte die DB dem beharrlichen Drängen Westerwälder Kommunal- und Landespolitiker nachgegeben – und sogar noch einem zweiten Halt in Limburg zugestimmt.

In vier Stunden in Paris

Heute, etwas mehr als zehn Jahre nach Inbetriebnahme der Strecke, halten täglich etwa 40 ICEs in Montabaur. Mit den Schnellzügen haben die 12.400 Einwohner des Städtchens in 24 Minuten direkten Anschluss zum Frankfurter Flughafen. Sie sind in zweieinhalb Stunden ohne Umsteigen in Brüssel oder in vier Stunden in Paris. Doch es geht nicht nur um die Stadt selbst. „Das Einzugsgebiet des Bahnhofs ist riesengroß“, sagt Richard Hover, Leiter der IHK-Geschäftsstelle Montabaur. „Hier steigen, besonders zu den Stoßzeiten morgens und abends, Pendler und Reisende aus dem gesamten Verdichtungsraum Koblenz/ Neuwied mit seinen 500.000 Bewohnern ein und aus. Der Bahnhof hat Bedeutung für alle Menschen und Unternehmen in diesem Raum.“

Für die Kommunalvertreter ist der ICE-Bahnhof „ein Glücksfall für die Region“. Denn er bringt der Stadt und dem Umland deutlichen wirtschaftlichen Nutzen. „Die hervorragende Verkehrsanbindung durch den ICE hat uns einen Wachstumsschub beschert“, sagt Lydia Berressem, Referentin für Wirtschaftsförderung der Verbandsgemeinde Montabaur.

In unmittelbarer Nähe des 2002 eröffneten Bahnhofs hat die Verbandsgemeinde den ICE-Park ausgewiesen. Hier, 1,5 Kilometer außerhalb der Innenstadt, ist ein ganz neuer Stadtteil entstanden. 65 Unternehmen mit rund 1300 Arbeitsplätzen haben sich im ICE-Park angesiedelt. 58 Millionen Euro private Investitionen und 35 Millionen Euro öffentliche Mittel sind bis jetzt in seine Entwicklung geflossen.

Internetmilliardär investiert

Tritt man aus dem gläsernen Neubau des Bahnhofs, fällt als erstes das sechsstöckige Bürohaus mit dem blauen 1&1-Firmenlogo auf dem Dach ins Auge. Die ­international tätige Internet- und Mobilfunkfirma hat ihren Hauptsitz in Montabaur. Ihr Firmenchef und Gründer Ralph Dommermuth ist ein Sohn der Stadt und hat hier in großem Stil investiert. Mehrere gläserne Bürogebäude im ICE-Park gehören dem „Internetmilliardär“, wie Spiegel online ihn nennt, ebenso die beiden Parkhäuser hiner den gläsernen Bürokomplexen.

„Dass ein Mann wie Dommermuth aus Montabaur stammt und den Mut und das finanzielle Potenzial hat, hier am ICE-Bahnhof zu bauen, ist natürlich ein weiterer Glücksfall für uns“, sagt Lydia Berressem von der Wirtschaftsförderung. Daneben ist am Rand des ICE-Parks ein Einkaufszentrum mit Supermarkt errichtet worden und es haben sich einige regionale Handwerksbetriebe angesiedelt. Auch ein Kinobetreiber ist aus der Innenstadt hierhergezogen. Er hat ein historisches Fabrikgebäude zu einem Kino mit Kunst- und Kulturzentrum ausgebaut.

Foto: Uta LinnertVom Bahnsteig des gläsernen Bahnhofs aus haben die Fahrgäste das barocke Schloss und das Entstehen des neuen Erschließungsgebietes für Gewerbe und moderne Wohngebäude im Blick.

Arbeitnehmer und Kunden im ICE-Park, die nicht mit den Hochgeschwindigkeitszügen anreisen, kommen überwiegend mit dem Auto. Auf den 1000 kostenlosen öffentlichen Parkplätzen hinter dem Bahnhof, zwischen den Gleisen und der Autobahn A 3, die parallel zur ICE-Trasse verläuft, stellen vor allem Bahnpendler ihr Auto ab. Die Stellplätze sind immer randvoll. Die beiden Parkhäuser, die der Investor auf der Rückseite der Bürogebäude hingestellt hat, reichen nicht mehr aus. Ein drittes Parkhaus ist in Planung.

Zwar fahren alle Busse aus der Region den Bahnhofsvorplatz an, sie befördern aber nur einen kleinen Teil der Besucher. „Der Schülerverkehr ist hier stark“, sagt Lydia Berressem, „aber wir wollen nichts schönreden: Die Landbevölkerung hat mindestens zwei Autos pro Haushalt, und die werden auch gefahren.“

Exzellenter Standort

Die Projekte im ICE-Park sind so gut wie abgeschlossen, die Flächen bebaut. Die in den 90er Jahren mit viel Euphorie geplanten 50 Hektar städtebauliche Entwicklungsmaßnahmen hat man auf realistische 30 Hektar zurückgeschraubt. Jetzt steht für 2014 die Realisierung eines Factory Outlet Centers (FOC) direkt am Bahnhof an. Investor ist auch hier der finanzstarke Westerwälder Dommermuth. Führende nationale und internationale Produzenten von Designergarderobe, Sport- und Heimtextilien sollen in das Einkaufszentrum einziehen, das der Internetunternehmer maßgeschneidert dafür bauen lässt. In einer Art Fabrikverkauf können Markenartikel außerhalb des aktuellen Sortiments billiger angeboten werden, als das in jeder Innenstadtlage möglich wäre.

Den Standort direkt am ICE-Bahnhof und an der A 3 halten Verkaufsstrategen für „exzellent“. „Montabaur ist die geografische Mitte der beiden Ballungsräume Rhein-Main und Rhein-Ruhr“, preist der Text in der Vermarktungsbroschüre den Standort an. „Das Einzugsgebiet von Montabaur umfasst in 90 Minuten Pkw-Fahrtzeit sieben Millionen Einwohner“, rechnen die Planer vor. Koblenz und Neuwied liegen in direkter Nachbarschaft im Einzugsbereich von 30 Minuten. Das war dann auch einer der Gründe, warum die Nachbarn aus Koblenz, Neuwied und Limburg gegen die Errichtung des FOCs geklagt hatten. Nach jahrelangem Rechtsstreit verloren sie aber gegen Montabaur.

Als „grundsätzlich positiv“ begrüßt Richard Hover von der IHK Montabaur die Ansiedlung des Factory Outlet Centers, das eine US-amerikanische Erfindung ist und für das es keinen deutschen Namen gibt, schon gar nicht einen, der in den Westerwald passte. „Die neuen Kunden fallen aus dem Zug und sind direkt in den Läden“, sagt Hover. Die Konkurrenz zum Oberzentrum Koblenz hält Hover für vertretbar. „Wir wollen Innovationen im Handel nicht im Wege stehen“, erklärt er. Für die Innenstadt von Montabaur erwartet Hover einen Aufschwung. Wenn erst einmal die jährlich prognostizierten 1,5 bis 2 Millionen Besucher des Einkaufszentrums in Montabaur einfielen, würden sie auch der Innenstadt einen Besuch abstatten, hofft er. Da ist Stadtplanerin Berressem skeptischer. Den Fußmarsch von 15 Minuten scheuten die Einheimischen schließlich auch – und führen lieber mit dem Auto zum Bahnhof.

Lückenschluss zum Stadtkern

Neuestes Projekt im ICE-Park ist das Aubachviertel, ein Stadtteil vom Reißbrett. Die 400 bis 500 Quadratmeter großen Grundstücke wurden der Stadt Montabaur buchstäblich aus den Händen gerissen. Sie befinden sich dort, wo früher die Bahngleise verliefen und Lagerhallen standen. Alle ausgewiesenen Grundstücke hat die Stadt bereits verkauft. Rund 30 private Bauvorhaben werden gerade hochgezogen.

Städtebaulich soll das Aubachviertel die Lücke zwischen dem modernen ICE-Park und dem alten Stadtkern schließen. Mit seinen Fachwerkhäusern aus dem 16. und 17. Jahrhundert und dem gelben Barockschloss in erhöhter Lage auf dem Schlossberg steht es für das Erscheinungsbild des Westerwaldstädtchens der Vor-ICE-Ära. Auch die Schlossbesitzer haben auf die Eröffnung des ICE-Bahnhofs reagiert: Die Akademie Deutscher Genossenschaften hat das riesige Anwesen zu einem Vier-Sterne-Hotel mit Tagungszentrum ausgebaut. Mit mehr als 70.000 Übernachtungen zählt Schloss Montabaur zu den größten Hotelbetrieben in Rheinland-Pfalz.

Foto: Uta LinnertWesterwaldidylle: Der alte Kern des Fachwerkstädtchens hat sich durch den

Das neue Viertel will Wohnungen und Gewerbeflächen kombinieren. Bürobauten mit energetisch zukunftsfähigen Konzepten sollen dominieren. Die Beratungsfirma Emc2 hat sich eines der begehrten Grundstücke gesichert und baut gerade ein eigenes Bürohaus. „Im Sommer nächsten Jahres werden wir aus den angemieteten Büro­räumen am ICE-Bahnhof ins neue Aubachviertel umziehen“, sagt Emc2-Geschäftsführer Marc Fischer.

Für das Unternehmen, das sich 2004 neu gründete, gab die gute Anbindung durch den ICE-Bahnhof den Ausschlag für den Standort. „Unsere Mitarbeiter arbeiten während der Woche bei unseren Klienten irgendwo in Deutschland oder Europa. Freitags reisen sie aus allen Himmelsrichtungen in unser Office in Montabaur und nutzen dafür den ICE. Unser Büro liegt zwei Minuten Fußweg vom Bahnsteig entfernt. Dies ist ein wirklicher Vorteil, den sowohl Mitarbeiter als auch Kunden sehr zu schätzen wissen“, sagt Fischer. Die Nähe zu den beiden Flughäfen Frankfurt und Köln/Bonn, mit dem ICE in einer halben Stunde zu erreichen, sei ebenfalls sehr wichtig. Zwar würde man die gleiche Zeit auch von der jeweiligen Innenstadt aus zum Flughafen brauchen. Jedoch seien in Montabaur die Mieten und die Infrastrukturkosten günstiger als in Frankfurt, Köln oder Bonn. „In der Summe ist Montabaur zu einem sehr attraktiven Standort geworden“, so der Emc2-Chef.

Junge Ruheständler kommen

Im Aubachviertel entstehen auch Eigentums- und Mietwohnungen. Es werden keine typischen Einfamilienhäuser gebaut, wie man sie sonst in Neubaugebieten auf dem Land findet, sondern mehrgeschossige Häuser mit Flachdächern. Es sind nach Aussage von Lydia Berressem vor allem Menschen über 60, die die Wohnungen stark nachfragen, „das hatten wir so nicht erwartet.“

Auch diese jungen Ruheständler zieht die Nähe zum ICE-Bahnhof an. Zum Teil werden sie aus den Ballungsräumen hierher ziehen. Sie wollen auf dem Land leben, brauchen aber keinen Garten. Sie sind viel unterwegs und wollen schnell am Flughafen sein. Oder in den Innenstädten von Frankfurt und Köln mit ihren Kulturangeboten. Sie interessieren sich für den hohen Standard der Neubauten, die Barrierefreiheit und dass sie zu Fuß zum Supermarkt gehen können.

Die Preise für Vermietung und Verkauf erreichten fast das Doppelte dessen, was in der Kernstadt Montabaur üblich sei, heißt es. In Frankfurt wären solche Wohnungen zu dem niedrigen Preis nicht zu bekommen.

Wirtschaftskraft dank ICE

Dass die Wirtschaftsleistung von Montabaur durch die bessere Zuganbindung deutlich gestiegen ist, haben 2012 zwei Wirtschaftsgeografen der London School of Economics und der Universität Hamburg mit einer Studie nachgewiesen. Sie kommen zu dem Ergebnis, dass das Bruttoinlandsprodukt im Vergleich zu ähnlichen Städten ohne ICE-Anschluss um 2,7 Prozent höher liegt.

Interessant war für die Forscher die Ausgangssituation in Montabaur. Denn die Stadt hat den ICE-Halt nicht ihrer wirtschaftlichen Bedeutung zu verdanken, sondern das Gegenteil ist der Fall: Das Wachstum und die Kraft Montabaurs führen die Geografen allein auf den ICE-Halt zurück. Auch konnte Montabaur seine Einwohnerzahl trotz des demografischen Wandels halten. Zwar wuchs die Stadt nicht, sie hat aber auch nicht, wie andere Nachbarstädte im ländlichen Raum, an Bevölkerung verloren.

Mit Blick auf die zukünftige Entwicklung des Gebietes sorgt sich die IHK um die Verkehrssituation am ICE-Halt Montabaur. Denn das ist die Kehrseite des Wachstums: Der Autoverkehr hat stark zugenommen. Die Kapazität der Straßen komme an ihre Grenzen, sagt IHK-Sprecher Hover. Unter den Staus rund um den Bahnhof leide auch der ÖPNV. Die Handelsvertreter fordern deshalb von der Politik mehr Geld für den Straßenbau. Nicht zuletzt verhindere eine gute Anbindung des Bahnhofs, dass die Pendler ihre Wege in die Zentren mit dem Auto zurücklegten. Dass auch das geplante FOC sehr viel Autoverkehr anziehen wird, ist ein weiteres Problem.

Daneben bleibt die von allen Seiten vorgetragene Forderung nach mehr Halten im Westerwald. „Auch wenn sich die verschiedenen Akteure manchmal nicht einig sind, was für Montabaur gut ist“, sagt Wirtschaftsförderin Berressem, „in punkto Bahnhof ziehen alle an einem Strang.“ Das Erfolgsmodell ICE-Bahnhof dürfe man nicht aufhalten, sagt die IHK. Mit DB-Chef Rüdiger Grube ist man im Gespräch.

Uta Linnert

fairkehr 5/2023