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Ein Pfad führt über eine grüne Alm
Ein Junge gießt Pflanzen, die in einer Holzkiste wachsen
Eine Seilbahngondel schwebt über eine dicht bebaute Stadt

Titel 1/2013

Der Bus ist der Eisenbahn überlegen

Schnelle S-Bahnen in die Peripherie der Großstädte lassen die Ballungsräume weiter wachsen – diese Meinung vertritt der Verkehrsberater Karlheinz Rößler im fairkehr-Interview.

Foto: pixelio.de/Wilhelm von DredenMünchen wächst: Die Bevölkerung der bayerischen Metropole ist in den letzten Jahren hauptsächlich durch Zuzug auf heute 1,4 Millionen Menschen angestiegen.

fairkehr: Herr Rößler, kann man den Nutzen einer Bahnstrecke für eine Region beziffern?
Rößler: Es ist schwer, Zahlen zu nennen. Weder hat mein Büro selbst Studien durchgeführt, aus denen etwa die Ankurbelung der Wirtschaft durch Neubau oder Reaktivierung von Eisenbahnstrecken hervorgeht, noch sind mir verlässliche Gutachten anderer Büros bekannt.

Mit welchem Ziel schreiben Sie Gutachten für den Betrieb von Schienenstrecken?
Wir führen vor allem Fahrplanstudien durch. Wir prognostizieren Fahrtzeiten für Schienenstrecken, die reaktiviert werden oder deren Takt verdichtet wird, und schauen uns die Kapazitäten der Strecken an. Wir entwerfen Betriebskonzepte für neue Strecken oder begutachten bestehende Konzepte kritisch.

Das Bundesministerium für Verkehr schreibt für jede Strecke eine Kosten-Nutzen-Untersuchung vor. Sie soll zeigen, wie sinnvoll, wirtschaftlich oder nutzbringend ein Verkehrsweg ist. Wie beurteilen Sie dieses Instrument?
Wir haben uns in einer grundlegenden Studie mit der Kosten-Nutzen-Analyse auseinandergesetzt. Wir kommen zu einem sehr negativen Urteil über dieses Verfahren. Allein schon die verwendete Formel ist mathematisch-logisch falsch und produziert zum Teil unsinnige Ergebnisse. Wir haben den Eindruck, dass diese Art der Kosten-Nutzen-Analyse so viele Stellschrauben besitzt, dass man damit politisch gewünschte Verkehrsprojekte schönrechnen und nicht gewünschte schlechtrechnen kann.

Welche Faktoren fließen ein?
Viele: Die Fahrgastzahlen, die Betriebskosten und die Investitionen für ein Bauvorhaben – aber es fehlen auch ganz wichtige Aspekte, wie beispielsweise der Lärm, den Züge verursachen.

Der VCD kritisiert außerdem, dass gerade bei den Straßen negative Aspekte für die Umwelt völlig unterbewertet werden. Wie ist unter anderen Experten die Meinung zur Kosten-Nutzen-Analyse?
Fast alle Wissenschaftler an Universitäten rümpfen die Nase. Allerdings wagt sich niemand aus der Deckung, das einmal laut auszusprechen. Niemand wollte sich bisher unserer Position öffentlich anschließen. Wahrscheinlich ist es allen zu heiß.

Viele Politiker und Wirtschaftsvertreter werden nicht müde zu betonen, dass Straßen einer Region Wohlstand bringen. Können Schienen das auch?
Wir müssen den Gegensatz zwischen Straße und Schiene aufheben. Es geht um den Gegensatz von öffentlichem Linienverkehr zu individuellem motorisierten Verkehr. Zum Linienverkehr gehören auch die Busse. Den Effekt, den man der Schiene unterstellt, dass ihre Reaktivierung oder Ertüchtigung Wohlstand schafft, können Sie auch mit einer Schnellbuslinie erreichen. Allerdings zu weitaus geringeren Kosten und auf vorhandener Infrastruktur.

Plädieren Sie für den Einsatz von mehr Bussen statt für den Ausbau der Schiene?
Ja, auf jeden Fall, wenn die Straßeninfrastruktur so gut ist, dass der Bus nicht im Stau steckt. Sonst muss eben was getan werden, um den Bus zu beschleunigen. Vom baulichen Aufwand her, von den Landschaftseingriffen, vom Lärm und vom Energieverbrauch her gesehen ist der Bus der Eisenbahn weit überlegen.

Wie beurteilen Sie Schienenstrecken, von denen es heißt, dass sie Fahrgastzuwächse von 300 Prozent und mehr haben?
Man müsste mal die Gegenrechnung machen, ob man mit einem vergleichbaren Buskonzept nicht ähnliche oder höhere Fahrgastzuwächse erzielen könnte.

Sie als Gutachter für Schienenstrecken sind also kein Befürworter der Schiene?
Ich bin in der Frage neutral. Mir ist der Bus genauso lieb wie die Schiene. Unter Umweltgesichtspunkten sehe ich den Bus im Vorteil, vor allem wenn er elektrisch fährt. Leider haben wir im Vergleich zu einigen Nachbarländern wie der Schweiz kaum Oberleitungsbusse.

Gerade die Schweiz steht aber doch für ein sehr gutes Schienennetz. Warum sollten Busse Züge ersetzen?
Man muss sich jede Strecke im Detail anschauen. Für manche Strecken, zu denen parallel eine gut ausgebaute Autobahn oder eine wenig staugefährdete Schnellstraße verläuft – das ist im ländlichen Raum oft der Fall – kann eine schnelle Buslinie sinnvoller sein. Solche Schnellbuskonzepte werden aber nie ernsthaft überlegt oder durchgerechnet. Busse könnten, besonders in bergigen Gebieten oder im ländlichen Raum, doppelt so schnell am Ziel sein wie ein Zug.

Und wie sollen die Busse dann durch den dichten Stadtverkehr kommen?
Der Bus aus dem Umland kann eine U- oder S-Bahn-Station am Stadtrand anfahren und die Fahrgäste umsteigen lassen. Das müssen Sie, wenn Sie mit dem Zug ankommen, auch.

Also sollten Ihrer Meinung nach tatsächlich keine weiteren Bahnstrecken aus- oder neugebaut werden?
Man muss vor Ort schauen: Ist es besser, eine vor sich hin gammelnde Bahnstecke zu reaktivieren, oder komme ich da mit dem Bus schneller, preiswerter und letztlich umweltfreundlicher zurecht? Um ein Schienensystem vernünftig bedienen zu können, müssen gigantische Investitionen getätigt werden. Ausbau und Erschließung verschlingen Unsummen.

Der VCD vertritt die Position, dass die Re­­aktivierung von Bahnstrecken deutlich ­höhere Fahrgastzuwächse erreicht als der ­Auf­bau von Schnellbussen und diese das Passagieraufkommen womöglich nicht auffangen können. Ist nicht gerade die Schiene das attraktivere Verkehrsmittel, um Menschen vom Auto in den ÖPNV zu bekommen?
Der Zug ist in ländlichen Gegenden das viel zu große Ladegefäß. Einen Zug bekommen sie nur in Stoßzeiten voll. Beim Bus dagegen müssen sie im Spätverkehr den 50-Sitzer nicht mehr fahren lassen, da können Sie einen Kleinbus einsetzen. Diese Möglichkeit gibt es beim Zug nicht. Der fährt abends mit Hunderten leerer Sitzplätze rum. Was soll der Quatsch? Die Schiene ist zu unflexibel: Das verschwendet Geld, Energie und Ressourcen. Selbst der moderne Nachfolger des Schienenbusses ist in den Tagesrandzeiten um den Faktor zehn zu groß.

Kann eine S-Bahn- oder eine Schnellbus­­linie das Umland der Städte umweltfreundlich erschließen?
Ich sehe vor allem, dass sich in Deutschland zwei Welten herauskristallisieren: Die Ballungszentren wuchern, andere bluten aus. Die Kehrseite der Medaille ist, dass die Peripherie, zum Beispiel Nordbayern oder Mecklenburg-Vorpommern, entvölkert wird, weil berufstätige Menschen etwa vom Moloch München angesaugt werden.

Denken Sie, dass die S-Bahn dazu beiträgt?
Entlang neuer Bahnstrecken entstehen massenhaft Einfamilienhaus-Siedlungen. Jedes Dorf, jede Kleinstadt weist um den Bahnhof herum gigantische Wohn- und Gewerbegebiete aus. Die ökonomischen Effekte gerade der Unternehmens-Ansiedlung werden meist stark überbewertet. In der Regel bedeutet Neuansiedlung in einer Kommune, dass dieser ­Betrieb an einem anderen Standort verschwindet, also nur verlagert wird.

Was wäre die Alternative?
Diesen Wahnsinn zu stoppen. Ich plädiere für eine zentrale deutschlandweite Siedlungspolitik. Es darf nicht sein, dass Ballungsräume wie München weiter gemästet werden. Hier weist man immer neue Flächen aus und lockt damit Industrie und Arbeitskräfte an. Das erfodert neue Verkehrswege. Der S-Bahn-Ausbau kostet sehr viel Geld, das vom Bund und den Ländern kommt. So geht der Kreislauf weiter: Einige Räume florieren, der Rest dünnt aus.

Interview: Uta Linnert

Das Büro Vieregg-Rößler hat im September 2012 eine kritische Studie unter dem Titel „Nutzen-Kosten-Untersuchungen incl. standardisierte Bewertungen zu Schienenprojekten auf dem Prüfstand“ veröffentlicht. Auftraggeber war die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen im Bayerischen Landtag. Die Studie gibt es im PDF-Format zum Herunterladen.

Zur Person

Foto: Privat

Diplom-Psychologe Karlheinz Rößler (64) ist seit 1991 Geschäftsführer und Gesellschafter der Vieregg-Rössler GmbH in München.

Das Beratungsunternehmen in Sachen Verkehr arbeitet schwerpunktmäßig für öffentliche Auftraggeber, Verbände, politische Parteien und Verkehrsunternehmen. In den 22 Jahren seines Bestehens hat sich das Büro vor allem in der Beratung von Bürgerinitiativen gegen Bahnlärm oder Gutachten für Großprojekte wie die ICE-Neubaustrecke Köln–Frankfurt und Stuttgart 21 einen Namen gemacht.

fairkehr 5/2023