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Ein Pfad führt über eine grüne Alm
Ein Junge gießt Pflanzen, die in einer Holzkiste wachsen
Eine Seilbahngondel schwebt über eine dicht bebaute Stadt

Titel 5/2012

Alternativen erfahrbar machen

Den meisten Menschen auf dem Land fehlt die Erfahrung mit Alternativen zum eigenen Auto, sagt Umweltwissenschaftlerin Melanie Herget.

Foto: Marcus GlogerRadwege über Land sollten abseits stark befahrener Autostraßen liegen, damit sie für Familien mit Kindern sicher sind.

fairkehr: Frau Herget, Sie haben das Mobilitätsverhalten von Familien auf dem Land untersucht. Unterscheidet es sich grundlegend von dem in der Stadt?

Melanie Herget: Familien in ländlichen Räumen besitzen durchschnittlich mehr Autos als Familien in der Stadt. Sie legen insgesamt mehr Wege zurück, davon mehr Wege mit dem Auto und insgesamt größere Entfernungen als Eltern in der Stadt. Interessant ist jedoch, dass die Zeit, die Eltern in ländlichen Räumen täglich unterwegs sind, trotzdem deutlich kürzer ist als die von Eltern in der Stadt.

Foto: TU BerlinUmweltwissenschaftlerin Melanie Herget (36) forscht an der Technischen Universität Berlin im Fachgebiet Integrierte Verkehrsplanung seit vier Jahren zum Thema ­Familienmobiliät im ländlichen Raum.

Welche Mobilitätstypen haben Sie ausgemacht?

Im Rahmen meiner Interviews in den Landkreisen Ludwigslust und Emsland habe ich fünf verschiedene Mobilitätstypen identifiziert: Da sind erstens diejenigen, die sich bei stark steigenden Kraftstoffpreisen am ehesten mit Verwandten und Nachbarn ihre Autos und Fahrten teilen würden, und zweitens diejenigen, die sich ebenfalls eine gemeinschaftlichere Autonutzung gut vorstellen können, zur Not aber auch in städtischere Wohnlagen umziehen würden. Dann gibt es Eltern, die sich als Alternative in erster Linie einen Umstieg auf Bahn oder Bus vorstellen können – allerdings nur, wenn das Angebot verbessert würde, es also mehr und direktere Verbindungen zu ihren üblichen Zielen gäbe. Aus dieser Gruppe erwägen einige wenige einen Umzug in die Stadt, falls sich ein alltagstaugliches Angebot öffentlicher Verkehrsmittel nicht realisieren lassen sollte. Der fünfte und letzte Mobilitätstyp schließlich besteht aus Müttern und Vätern, die vermehrt auf Fahrrad oder Roller bzw. Motorrad umsteigen würden, wenn die Kosten der Autonutzung zu hoch werden. Ob die Wahl dabei eher aufs Rad oder auf ein motorisiertes Kleinstfahrzeug fällt, hängt stark vom Radwegenetz vor Ort und den zurückzulegenden Entfernungen ab.

Empfinden Eltern auf dem Land ihre Abhängigkeit vom Auto als störend?

Eltern, die bereits seit Generationen nur die Autonutzung kennen, empfinden ihre Abhängigkeit als ganz normal und keinesfalls als störend. Eltern dagegen, die zeitweise in der Stadt gelebt haben oder beispielsweise aus DDR-Zeiten noch ein dichtes ÖPNV-Netz kennen, sind da durchaus kritischer.

Heißt das, man muss einen guten ÖPNV kennen und positive Erfahrungen gemacht haben, um ihn zu vermissen?

Menschen, die seit Generationen auf dem Land leben, besonders im Westen Deutschlands, fehlt in ihrer Biografie der Erfahrungsschatz, was ÖPNV sein kann. Sie kennen höchstens den Schülerbus, der selten fährt. Das Autofahren hat sich fest in ihre Routine eingeschrieben und wird nicht hinterfragt. Nur diejenigen, die eine höhere Verkehrsmittelvielfalt erlebt haben und eine hohe Umweltschutzbereitschaft äußern, empfinden ihre Autoabhängigkeit als störend.

Wünschen sich die Menschen auf dem Land eine Alternative zum Auto?

Mein Eindruck ist: Die wenigsten Menschen auf dem Land wünschen sich heute eine Alternative zum Auto – sie wünschen sich eher möglichst niedrige Spritpreise und weniger Bau- und Staustellen. Ein Großteil der von mir befragten Eltern schätzt vor allem die Flexibilität und Spontanität, die ihnen das Auto bietet. Oft ermöglichen erst zwei Autos im Haushalt die Erwerbstätigkeit beider Elternteile und eine flexible Aufteilung von Einkaufs- und Begleitwegen. Und nicht selten wird ein Zweit- oder Drittwagen vorgehalten, damit im Falle eines plötzlichen Unfalls schnell ärztliche Hilfe geholt werden kann. Wer tragfähige Alternativen im ländlichen Raum fördern will, sollte solche Bedürfnisse ernst nehmen und aufgreifen.

Wie schätzen Sie die Bereitschaft der Landbevölkerung zur Veränderung ihres Mobilitätsverhaltens ein?

In der Psychologie geht man davon aus, dass die Bereitschaft zur Verhaltensänderung zunimmt, wenn sowohl die Wahrnehmung einer Bedrohung hoch ist und gleichzeitig wirkungsvolle Möglichkeiten zur Bewältigung dieser Bedrohung gesehen werden. Daher vermute ich, dass die Bereitschaft zur Veränderung des Verkehrsverhaltens in der Landbevölkerung erst dann größer wird, wenn ihre Problemwahrnehmung durch stark und dauerhaft steigende Spritpreise deutlich zunimmt. Parallel dazu müssten die Menschen die Möglichkeit bekommen, positive Erfahrungen mit Alternativen zum eigenen Auto machen zu können. Diese Alternativen müssten erfahrbar sein, es müsste ein Busangebot geben, Rufbusse fahren, sichere Radwege zum Beispiel für Pedelecs auf weiteren Wegen abseits der stark befahrenen Landstraßen überhaupt einmal existieren.

Interview: Uta Linnert

Das Handbuch „Umwelt- und familienfreundliche Mobilität im ländlichen Raum“ dokumentiert das gleichnamige Projekt der TU Berlin. Es zeigt, wie Familien heute auf dem Land unterwegs sind und welche Anforderungen an eine zukunftsfähige Mobilität gestellt werden. Neben der Bestandsaufnahme nehmen positive Beispiele für Mobilitätsangebote auf dem Land großen Raum ein. Die Publikation will interessierte Familien, Experten, Institutionen, Politiker und Dienstleister ins Gespräch bringen.
Das gedruckte Exemplar gibt es gegen drei Euro in Briefmarken: TU Berlin, Fachgebiet Integrierte Verkehrsplanung, Sekr. SG4, Salzufer 17–19, 10587 Berlin oder als PDF-Download 

fairkehr 5/2023