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Ein Pfad führt über eine grüne Alm
Ein Junge gießt Pflanzen, die in einer Holzkiste wachsen
Eine Seilbahngondel schwebt über eine dicht bebaute Stadt

Editorial 5/2012

Ich bin doch nicht blöd

Foto: Marcus Glogerfairkehr-Chefredakteur Michael Adler

In unserem diesjährigen Urlaub habe ich ihn wieder erlebt – den typischen „Alles-Laden“ des Südens. In Italien heißt er „Alimentari“, was übersetzt ­Lebensmittelgeschäft bedeutet. Doch diese winzigen Wundertüten sind viel mehr als das. Solche Läden haben keine 15 Quadratmeter, aber es gibt einfach alles: Brot, Brötchen und Süßteile in Hülle und Fülle. Salami, Käse, Gemüse, Obst, handgefertigte Nudeln, Gnocchi. Reis, Polenta, Oliven, Pesto, Konserven aller Art. Putzmittel und Körperlotionen, T-Shirts, Kleider, Shorts, Flossen, Plastikschwimmtiere. Und was fast noch wichtiger ist als das Warenangebot: ­Bereits am zweiten Tag ist man Stammkunde, wird mit einem freundlichen, wiedererkennenden Lächeln begrüßt. „Den Kuchen empfehle ich Ihnen“, sagt die Signora, „nach einem Rezept meiner Oma.“ Viele ältere Einheimische kaufen dort ein. Für alle hat die Chefin ein bisschen Zeit übrig. Man kennt sich, spricht über dies und das, kann Nachrichten und Wünsche deponieren. Und man hat das Gefühl, wenn man morgen eine Kokosnuss, einen Seiden-Sari oder ein Segelboot bräuchte, würden die beiden Frauen hinter dem Tresen auch das ­organisieren.

Früher, als ich Kind war, gab es solche Läden auch in meinem Heimatdorf mit rund 6000 Einwohnern. Die Bäckerei in der Nachbarschaft hieß „Feigenbutz“ und unser Alles-Laden war gegenüber und hatte gar keinen Namen. Es hieß nur: „Geh mal rüber zu Maria und Ferdinand und hol noch eine Flasche Bier oder ein Pfund Mehl.“ Und Ferdinand schenkte mir dann immer zwei Gummibärchen. Ein Auto hatten wir zu der Zeit noch nicht, wir brauchten aber auch keins.

Marias Laden gibts schon sehr lange nicht mehr, das Ortzentrum hat der ­Billigmarkt NKD übernommen und am Dorfrand gibts Penny- und Wasgau-­Supermärkte. Dorthin sind es zwar nur zwei Kilometer, aber fast alle nehmen das Auto.
Viele Menschen glauben deshalb fest: Auf dem Land braucht man eben ein Auto. Carsharing, Radfahren, guter ÖPNV, das sei alles was für die Stadt. Folglich werden 80 Prozent aller Wege auf dem Land mit dem Auto zurückgelegt. Stadtplaner und Verkehrsexperten legen die Stirn in Falten und finden für den ländlichen Raum keine vielversprechende Lösung. Zumal die Bevölkerung auf dem Land das Autofahren auch kaum als Belastung empfindet. Lediglich der Benzinpreis stört gelegentlich.

Dass Landverkehr auch anders geht, zeigen viele kleine Erfolgsgeschichten in unserer Titelstrecke. Wenn ein Drittel eines 700-Einwohner-Dorfes in einer ­Genossenschaft zusammenarbeitet, dann ändert sich mehr als nur das Einkaufsverhalten. Im ländlichen Baden-Württemberg wird über die internet­­­basierte Mitfahrzentrale flinc der Einzel-Autofahrt der Kampf angesagt. Aus den Ruinen von einzelnen Schlecker-Märkten wachsen mit kommunaler Unterstützung neue Genossenschaftsläden, die neben besserer Ware auch mensch­­lichere ­Arbeitsbedingungen bieten.

Was allerdings jeder Laden braucht, ist Kundschaft. Wer nach dem Motto „Ich bin doch nicht blöd“ hinter jedem Schnäppchen herjagt, muss sich nicht wundern, wenn die Dörfer veröden. Wer ländlich gut leben will, sollte auch lokal kaufen. Sonst ist er womöglich im Alter der Dumme.

Michael Adler

fairkehr 5/2023