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Ein Pfad führt über eine grüne Alm
Ein Junge gießt Pflanzen, die in einer Holzkiste wachsen
Eine Seilbahngondel schwebt über eine dicht bebaute Stadt

Reise 4/2012

Weit weg im Karwendel

Spektakulär und trotzdem für Anfänger machbar: eine mehrtägige Wanderung durchs Tiroler Karwendelgebirge. Gipfel, Hochalmen, uralte Ahornbäume - und zwischendurch garantiert kein Handyempfang.

Foto: Stefan SchwenkeBis zu 600 Jahre alt sind die Ahornbäume auf den Almen im Naturpark Karwendel.

Vor der Nachspeise kommt Andreas Ruech mit dem Bergwetterbericht für den nächsten Tag um die Tische. „Leider nicht die besten Aussichten“, sagt der 38-jährige Hüttenwirt, der alle duzt und sich Andy nennen lässt. Draußen schießen Blitze aus bleigrauen Wolken. Regen klatscht an die Fenster. Es war schwül tagsüber, jetzt bollert in der Stube der Kachelofen. „Ganz normales Juliwetter in Tirol“, heißt das bei Andy, der es wissen muss. Er lebt seit 21 Jahren mit der Familie in den Bergen und hat die Bewirtschaftung der Hütte von seinem Vater übernommen. 

Etwa fünfzig Bergwanderer sind trotz der wechselhaften Aussichten hin­auf zum Karwendelhaus gestiegen und bleiben über Nacht. Sie haben eine der winzigen holzgetäfelten Kammern vorgebucht oder kommen im Matratzenlager unter. 180 Schlafplätze hat das Haus. „Das reicht fast immer, weggeschickt wird niemand“, versichert Andy. Direkt unter der Birkkarspitze, dem höchsten Gipfel weit und breit, liegt die Hütte auf 1760 Metern im Alpenpark Karwendel. Er ist mit fast 730 Quadratkilometern der größte Naturpark Österreichs und der älteste in Tirol. 

Regionales Hüttenessen

Heute Abend gibt es für uns das Wanderermenü. Wir, das sind Wanderführer Pawlata, Kollege Schwenke und ich.  Wir essen Walnuss-Schlutzkrapfen in Butter, klare Suppe mit Frittaten, zum Hauptgang Tafelspitz und nach dem Wetter­­­bericht süßen Palat­schinken mit Schoko­­­soße. Alles schön regional, in der Hüttenküche gekocht aus Zutaten von Tiroler Produzenten. Die Walnüsse für die Vorspeise hat Andy letzten Herbst säckeweise im Tal geernet. „Jetzt haben sie endlich ihre Verwendung gefunden“, sagt er erfreut. Es schmeckt wunderbar, und wen störts da noch, dass es schüttet und Sturzbäche am Haus vorbeirauschen.

Alles, was die Hütte zum Versorgen ihrer Gäste braucht, wird mit dem Jeep von Innsbruck oder vom Talort Scharnitz aus hinaufgebracht, das letzte Stück über eine 19 Kilometer lange Schotterpiste. So steht es im Vorwort der Speisekarte, die auch erklärt, wie ein eigenes Wasserkraftwerk die Energie fürs Haus liefert und dass sich eine voll biologische, bakterielle Kläranlage vorschriftsmäßig um das Abwasser kümmert. Die Mahnung zum Wasser- und Stromsparen ist fast schon überflüssig. Hüttenschlafsack und Handtuch haben die Wanderer ohnehin dabei und ihren Müll nehmen sie im Rucksack möglichst wieder mit. 

Eiskalte Morgentoilette

Welch ein Segen, dass Hüttenwirte nicht immer Recht haben! Nach der Nacht begrüßt die Wanderer unverhofft strahlender Sonnenschein. Gleißend helle Strahlen treffen durchs offene Fenster auf den bunten Häkelteppich vorm Bett. Wandertage in den Bergen beginnen früh. Vor sieben rumpelt es in den Nachbarkammern, quietschen die Dielen auf dem Flur. Bei jedem Schritt der Frühaufsteher knarzt die Treppe. Mit Hüttenschuhen oder auf Socken schluffen Frauen und Männer getrennt in ihre Waschräume. Bei eiskaltem Wasser ist die Morgentoilette schnell erledigt. Jetzt einen heißen Milchkaffee, ein Müsli, den Rucksack gepackt, die Stiefel geschnürt und auf gehts dem Tagesziel entgegen.

 Die Etappe zur Falkenhütte haben wir uns als Erstes vorgenommen. Drei bis vier Stunden könnte die Tour dauern. Nicht lange also, aber viel zu sehen, viel zu erleben und zu staunen. Scharf zeichnen sich die Zacken der Karwendelspitzen in den blauen Himmel. Sanft führt der Wanderweg, die Einheimischen nennen ihn „Steig“, über grüne Matten aufwärts zum Hochalmsattel. Hier müssen wir einen ersten Foto­­stopp machen, weil die Aussicht so grandios ist. Ganz neue Gipfel tauchen am Horizont auf. Man muss nicht wissen, wie sie alle heißen, sie sind auch so schön.

Die Sonne hat die kühle Luft der Gewitternacht vertrieben. Wir kramen die Shorts aus unseren Wanderrucksäcken, wühlen nach den Sonnenbrillen, bringen die Sonnencreme zum Einsatz und nehmen den ersten kühlen Schluck aus der Wasserflasche. „Unten, im Kleinen Ahornboden, können wir nachfüllen“, sagt Georg Pawlata. 

Foto: Uta LinnertAn der Grenze zur Wildnis empfängt die Lamsenjochhütte Wanderer für eine Pause oder für die Nacht.

Wir sind unterwegs auf dem Adlerweg, dem Weitwanderweg Tirols. „Auf 126 Tagesetappen verteilt führt er einmal von Ost nach West durchs Land“, erklärt Georg Pawlata. Der Innsbrucker Geograf ist nur im Nebenjob Wanderführer, eigentlich ist er Tourismusberater für Tirol und kennt sich deshalb auf dem Adlerweg bestens aus.

Die 280 Kilometer lange Hauptroute führt von St. Johann bei Kitzbühel bis St. Anton am Arlberg und durchstreift dabei die Gebirgszüge Wilder Kaiser, Rofangebirge, Lechtaler Alpen und eben das Karwendelgebirge, das wir die nächsten Tage durchwandern wollen. „Natürlich kann man einzelne Routen aneinanderhängen, je nach Kondition oder Tagesform, und selbstverständlich auch in umgekehrter Reihenfolge unterwegs sein“, sagt Pawlata. 

Mittagsschlaf auf der Almwiese

Über Almwiesen und durch lichten Wald laufen wir über eine Stunde abwärts zum Kleinen Ahornboden. Bis zu 600 Jahre sollen die Ahorne alt sein, die hier malerisch auf ebenem Weidegrund stehen. Mit etwa 1400 Höhenmetern haben wir für heute den tiefsten Punkt der Wanderung erreicht. Mountainbiker kreuzen den Weg, der bis zur Ladizalm sanft, dann steil das letzte Stück hinauf zur Falkenhütte führt.

Die Sonne brennt. Es ist heiß jetzt am Mittag, aber die Wanderstöcke helfen beim Bergaufgehen. Sie geben Halt im steinigen Gelände und die Arme unterstützen das Aufsteigen. 

Wir könnten noch weiter, aber wir wollen genießen: die luftige Terrasse am Fuße der Lalidererwände, die spektakuläre Aussicht, den kühlen Almdudler und den frisch gebackenen Apfelstrudel mit einer extra großen Portion Vanillesoße. Bergstiefel und Wollsocken aus-, ein frisches T-Shirt übergezogenn strecken wir die müden Beine zum Nachmittagsschlaf in der Sonne aus. Die Wiese duftet nach Kräutern und warmer Erde. Auf dem Schneerest neben der Hütte schlittern Kinder. Dohlen segeln am Himmel oder picken die letzten Krümel von den Tellern. Kollege Schwenke erliegt dem Höhenrausch und muss später noch auf den Mahnkopf, einen Aussichtsgipfel in unmittelbarer Nähe der Hütte. 

Etwa elf Kilometer, 700 Höhenmeter Abstieg und 900 Höhenmeter Aufstieg, sind es bis zur Lamsenjochhütte, dem Etappenziel des dritten Wandertages. Wegweiser und Wanderführer geben die Gehzeit mal mit vier, mal mit sechs Stunden an. Machbar also, auch für weniger trainierte Flachlandtiroler.

Stetig bergab 

Der Steig führt zunächst eng unterhalb der Laliderer-Nordwände entlang. Vor uns stürzt sich ein gut gefüllter Wildbach talwärts übers Geröll. Wir brauchen beide Hände, um sicher über die Felsbrocken im sprudelnden Wasser hinüberzuklettern. Dann geht es stetig bergab zu den Eng­almen. Ein leichter Weg für alle, die beim Absteigen keine Knieprobleme haben.

Foto: Uta LinnertViel braucht man nicht für guten Schlaf: Nachtlager im Karwendelhaus.

In der Eng gibt es zum ersten Mal seit Tagen Handyempfang. Wir legen eine Wanderpause ein – stärken uns mit Müsliriegel, Käsebrot und der mitgeschleppten Apfelschorle – und melden uns mal zuhause. In den Schweizer Alpen sind zwei junge deutsche Bergsteiger abgestürzt, hören wir. Hier in Tirol sind die Schneefelder zum Glück schon fast weggetaut und die Gefahr von Lawinen oder Bergstürzen haben wir auf unserem Weg noch nicht erlebt. 

Durch die Klamm ins Inntal

Von Eng geht es hinauf über die Bins­­alm weiter zum Lamsjoch. Von dort, auf fast 2000 Metern, ist die Lamsenjochhütte schon zu sehen. Auch sie gehört, wie fast alle Hütten in Tirol, dem Deutschen Alpenverein (DAV).

„Wir sind froh, dass der DAV sich um die Häuser kümmert, sie erhält. Wir in Österreich wären gar nicht imstande, diese gewaltige Aufgabe allein zu stemmen“, sagt Wanderführer Georg Pawlata. Auch um die Pflege der Wege oberhalb von 1500 Metern kümmert sich der DAV. Das ist der Grund, warum Alpenvereinsmitglieder auf den Hütten bevorzugt werden und nur den halben Preis bezahlen müssen – in der Regel 13 statt 26 Euro für das Lager. 

Die Lamsenjochhütte ist schon am frühen Nachmittag gut besucht. Eine katholische Wandergruppe nimmt die Terrasse in Beschlag, zieht dann aber für eine Messe unter freiem Himmel mit Gitarre zur Bergkapelle hinters Haus. Einige Unermüdliche wagen sich über den Klettersteig auf die Lamsenjochspitze und lassen sich dabei von den Sonnenanbeterinnen in den Liegestühlen mit Fernglas beobachten.

An die Grenzen gehen

Mimi und Dominique, die Psychologin und der Medizinstudent aus Gießen, DAV-Mitglieder wie fast alle hier, erzählen, dass sie jedes Jahr eine Tour in den Alpen unternehmen. „Es ist schön, einmal komplett rauszukommen aus dem Alltag“, sagt Mimi, „und einmal an seine Grenzen gehen zu können“, sagt Dominik, der gerade heil vom Klettersteig über Schnee- und Geröllfelder zurückgekehrt ist. 

Als wir das letzte Mal in der Höhenluft wach werden, kriechen Nebelschwaden aus dem Taleinschnitt hoch. Beim Frühstück ist das heftige Gewitter der letzten Nacht Gesprächsstoff. Was für ein Gewitter? In unserem Lager hat trotz offenem Fenster niemand etwas von Blitzen und Donnern mitbekommen. Nach dem dritten Wandertag hat Tiefenentspannung eingesetzt. Wir haben geschlafen wie die Steine.

Vier Stunden und 1500 Höhenmeter Abstieg liegen heute vor uns. Dicke Wolken wandern über die Gipfel und lassen einzelne Tropfen fallen. Blauer Himmel wäre auf den Fotos schöner gewesen, aber das Wandererlebnis trübt der Regen nicht.

Die neue Funktionsjacke hält trocken, so wie es der Hersteller versprochen hat. Die Schuhe sind dicht, die Wollsocken gemütlich warm und der Regenüberzug des Rucksacks schützt den Inhalt zuverlässig. Die Regenhose bleibt im Rucksack, denn die leichte Wanderhose trocknet schneller, als die Tropfen sie nass machen. Talauswärts führt der Weg durch die enge Wolfsklamm.

Tosende Wassermassen stürzen sich in türkisblaue Tümpel und versprühen eine Gischt, die die Outdoorausrüstung nochmal einem Test unterzieht, den sie locker besteht. Über Holzstege, Leitern und in den Fels gehauene Stufen klettern wir hinaus ins Inntal.

Zivilisation vergessen

Mit matschigen Stiefeln stapfen wir durch Stans. Hier im Dorf sind sie wieder: die aufgemotzten Geländewagen. So weit weg waren wir, dass wir die Zivilisation im Hochgebirge tatsächlich vergessen hatten.

Mit Bahn und Bus geht es über Innsbruck und Seefeld zurück in die Leutasch. Hier waren wir vier Tage zuvor zu unserer Karwendelwanderung gestartet.

Hotelier Christian Wandl begrüßt die Heimkehrer mit Holundersaft und Kirschkuchen auf der Terrasse des Leutascherhofs. Der 33-Jährige möchte mit drei Freunden Ende August ungefähr die gleiche Tour gehen: 52 Kilometer, 2300 Höhenmeter ­– aber alles an einem Tag.

Vor ein paar Jahren haben die Kommunen Seefeld und Aachensee den in den 50er Jahren legendären Karwendelmarsch wieder ins Leben gerufen. Die schnellsten Läufer schaffen die Strecke unter fünf Stunden, aber ein 12-Stunden-Wandertag mit Pausen und Einkehr darf es auch werden. „Wir wollen in diesem riesigen unbewohnten Gebiet unterwegs sein und die Natur und den Tag genießen“, sagt Christian Wandl. Mit dem Training hat er schon begonnen.

Uta Linnert

Reisevorbereitung

Anreise: Mit dem Zug über München weiter bis Seefeld oder Scharnitz in Tirol, www.bahn.de, Informationen über Sparpreise und Bahnanreise auch auf den Internetseite www.wirsindanderswo.de. 

Vor Ort: Für einen bequemen Transport zum Start- oder Ausgangspunkt sorgen öffentliche Verkehrsmittel. Infos zu Fahrplänen: www.vvt.at

Adlerweg: Infos über Etappen, Vorschläge für Ein- oder Mehrtagestouren und ­kostenlose Karten auf dem Weitwanderweg in Tirol: www.adlerweg.tirol.at 

Karwendelhaus: 

6108 Scharnitz, Österreich, 

Tel.: +43 (5213) 5623, 

www.karwendelhaus.com

 


Falkenhütte: 6215 Hinterriß, Österreich, 

Tel.: +43 (5245) 245, www.falkenhuette.at

Lamsenjochhütte:  6134 Vomp, Österreich,  Tel.: +43 (5244) 62063, www.lamsenjoch.at

Basislager: Köstliches Bioessen mit Zutaten und Rezepten, die garantiert aus der Region stammen: Der Leutascherhof ist ein perfekter Ausgangspunkt für Touren im Karwendelgebirge. Fast täglich bietet das Haus geführte Wanderungen an. 

Wander & Biohotel Leutascherhof, Familie Wandl, Weidach 305, 6105 Leutasch, Österreich, Tel.: +43 (5214) 6208, www.leutascherhof.at 

Karwendelmarsch: Der diesjährige Massen­start zur Karwendelüberquerung findet am 25. August statt. Infos zur Tour und möglicher Wiederholung in 2013:  karwendelmarsch.info 

fairkehr 5/2023