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Ein Pfad führt über eine grüne Alm
Ein Junge gießt Pflanzen, die in einer Holzkiste wachsen
Eine Seilbahngondel schwebt über eine dicht bebaute Stadt

Titel 1/2012

Nationalismus auf Schienen

Daran, dass Bahnfahren durch Europa nicht einfacher wird, sind die Staatsbahnen schuld, sagt der EU-Abgeordnete Michael Cramer.

Foto: Parlement EuropeenMichael Cramer, 62, sitzt seit 2004 für die Europagrünen im EU-Parlament. Er ist unter anderem Sprecher der Grünen im Ausschuss für Verkehr und Fremdenverkehr (TRAN).

fairkehr: Herr Cramer, das EU-Parlament hat Nachbesserungen am sogenannten Ersten Eisenbahnpaket beschlossen, das den Bahnverkehr in Europa erleichtern soll. Es ist bereits seit 2001 in Kraft, viele Staaten haben es aber noch nicht vollständig umgesetzt. Welches ist Ihrer Ansicht nach die wichtigste Forderung aus diesem Recast?
Michael Cramer: Für eine Öffnung der Schienennetze und mehr Wettbewerb im europäischen Bahnverkehr ist eine unabhängige Regulierungsbehörde die Grundbedingung. Die Behörde muss innerhalb weniger Wochen entscheiden, ob ein Eisenbahnunternehmen den Zuschlag für eine Trasse bekommt. Deutschland ist mit der Bundesnetzagentur da schon gut aufgestellt. Nach den Plänen des Parlaments sollen nun alle EU-Staaten verpflichtet werden, eine zentrale Zulassungsbehörde einzurichten, die innerhalb von vier Wochen über Anträge auf Zulassung zum Schienennetz entscheiden muss. In Italien beispielsweise muss zwar innerhalb von zwei Monaten entschieden werden – aber nur, wenn das Formular richtig ausgefüllt ist. Das kann Jahre dauern. Zudem ist die Behörde nicht unabhängig, weil sie beim Ministerium angesiedelt ist. In Frankreich bekommt man oft nach zwei Jahren noch keine Antwort.

In Bahnhöfen sollen Schalter eingerichtet werden, die Tickets aller europäischen Bahnen verkaufen. Erleichterungen fordert das Parlament auch beim Online-Buchen von grenzüberschreitenden Fahrten. Wann können Kunden damit wirklich rechnen?
Wann die EU-Mitgliedstaaten den Recast des Ersten Eisenbahnpakets durchwinken, ist offen. Die EU-weite Information und den Kartenverkauf hat das EU-Parlament schon vor vier Jahren beschlossen. Die Bahnen müssten eigentlich dazu verpflichtet werden, alle Strecken- und Buchungsinformationen an eine zentrale Plattform zu übermitteln, die von ihnen finanziert wird. Das ist im Flugverkehr doch auch möglich. Die Deutsche Bahn wehrt sich allerdings dagegen. Das sei zu teuer, die DB habe ihr eigenes System und wolle das weiter ausbauen. Immerhin: Unter bahn.de bekommen Sie tatsächlich viele internationale Verbindungen angezeigt, beispielsweise von Sofia nach Belgrad oder von Helsinki nach Imatra oder Lappeenranta. Buchen können Sie das Ticket allerdings nicht und auch die Preise werden nicht mitgeteilt.

Das heißt, unkompliziertes Bahnfahren in Europa steht weiterhin in den Sternen.
Das liegt am Egoismus der nationalen Bahnen. Und die EU-Mitgliedstaaten blockieren im Ministerrat entsprechende Entscheidungen, um die staatseigenen Unternehmen zu schützen. Die deutschen Verkehrsminister waren und sind doch meist nur Lautsprecher der DB AG. Und die EU-Kommission ist oft zu feige und zu schwach, um einzugreifen. Sie kann die Mitgliedstaaten zwar verklagen, wenn sie EU-Gesetze nicht rechtzeitig und vollständig umsetzen. Doch das passiert zu selten – und zu spät.

Es gilt immerhin bereits seit Anfang 2010 für den Bahnverkehr zwischen EU-Ländern: freie Fahrt für freie Züge.
Ja, so sieht es das Dritte Eisenbahnpaket vor. Dennoch wird das in der Praxis nicht umgesetzt, weil der Konkurrenzgedanke zwischen den nationalen Bahnen zu groß ist. Das führt teilweise zu absurden Kämpfen. So lassen die Österreichischen Bundesbahnen und die DB jeweils Züge nach Mailand fahren. Die italienischen Behörden verboten zunächst den Halt im Mailänder Hauptbahnhof und auch die Zwischenhalte. Das Verbot wurde zwar nach Intervention der EU zurückgenommen. Nun steht allerdings an den Bahnhöfen auf Italienisch: „Bitte nicht einsteigen“, obwohl das Einsteigen erlaubt ist. Gleichzeitig beschweren sich die Italiener, dass sie mit ihren Hochgeschwindigkeitszügen nicht bis Paris fahren dürfen, weil die Franzosen ihren Markt abschotten. Die staatlichen Eisenbahnen sind die letzten nationalistischen Behörden in Europa. Sie gucken bis zur Grenze, aber nicht darüber hinaus.

Interview: Kirsten Lange

Die Europäischen Eisenbahnpakete

Ende 2011 hat das EU-Parlament den ­Recast, die Neufassung des ­Ersten Eisenbahnpakets von 2001, verabschiedet. Ziel ist es, den Wettbewerb im Schienenverkehr zu forcieren. Insgesamt drei ­Eisenbahnpakete hat die EU auf den Weg gebracht – das zweite 2002 und das dritte 2007. Ein viertes ist in Arbeit und soll bis Ende 2012 folgen.

Mit den Richt­­­linien will die EU den Einheitlichen Europäischen Eisenbahnraum schaffen. Sie ­regeln den Wettbewerb im Güterverkehr, im Personenverkehr zwischen den Ländern, die Fahrgastrechte oder die europaweite Ein­setz­barkeit von Schienenfahrzeugen. Die Gesetze für freie Bahnfahrt durch Europa sind also vorhanden. Leider fehlt es den Staaten am politischen Willen, sie umzusetzen.

fairkehr 5/2023