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Ein Pfad führt über eine grüne Alm
Ein Junge gießt Pflanzen, die in einer Holzkiste wachsen
Eine Seilbahngondel schwebt über eine dicht bebaute Stadt

Reise 1/2012

Aus der Lagune in die Küche

Auf einer kulinarischen Reise lernen kochbegeisterte Fischlieb­haber venezianische Gerichte und die Gastfreundschaft der Venezianer kennen.

Foto: Uta LinnertDer Canal Grande ist die Verkehrsschlagader Venedigs für Boote aller Art. Über ihn führt die Rialtobrücke, die im Hintergrund zu sehen ist.

Mauro Lorenzon hält eine Champagnerflasche in die Luft. Trommelwirbel. Er beugt die Knie, dehnt noch mal Arme und Brustkorb und zieht den Säbel. Wieder Trommelwirbel, und ehe man sichs versieht, hat Mauro die Schampusflasche schon geköpft.

Geht in der Enotheka Mascareta in Venedig eine Flasche Champagner über den Tresen, öffnet der Chef sie persönlich mit dem Säbel. Zu Piratenfilmmusik schenkt er seinen Gästen den edlen Tropfen ein. Die lachen und erheben die Gläser auf eine wunderbare Stadt. Sie feiern ihren letzten Abend in la Serenissima Repubblica di San Marco – der allerdurchlauchtigsten Republik des Heiligen Markus.

Viel erlebt haben sie in den letzten vier Tagen: Im ­Palazzo einer venezianischen Köchin haben sie gekocht. Von Fischern haben sie sich die Lagune zeigen lassen. Auf der Gemüse­insel San Erasmo saßen sie zu Tisch bei einem Biowinzer, und auf dem Rialto-Fischmarkt durften sie dem Marktleiter über die Schulter schauen. Abends zogen sie, ganz wie die Einheimischen, durch die Bacceri und tranken Ombre – Schatten.

Nun feiern sie den Abschluss ihrer kulinarischen Reise. Und wie könnte man das besser tun als mit einem von Mauro Lorenzon direkt am Tisch gekochten Risotto und mit seiner grandiosen Gastfreundschaft.

Die Idee der kulinarischen Reise durch Venedig stammt von Philipp Boecker. Der Mittdreißiger veranstaltet kulinarische Reisen in Italien. Kleine Gruppen von sechs bis zehn Personen, exklusive Erlebnisse und Begegnungen mit Menschen sind das Rezept seines Unternehmens Sapio. Vor Venedig war er zunächst zurückgeschreckt. Weil die Stadt so teuer und so touristisch ist. Aber gerade dort geht seine Idee gut auf. Denn welcher normale Tourist bekommt die Tür zu einem venezianischen Wohnhaus geöffnet und darf dann auch noch mit der Hausherrin zusammen kochen?

Kochen im Palazzo

Den Palazzo von Mariagrazia Calò betritt man durch einen schlichten Eingang im Gassenlabyrinth San Marcos, die Fassade ist grau, eine Treppe führt nach oben. Aber sobald Mariagrazia die Tür zu ihrer Etage öffnet, weiß man nicht mehr, wohin man zuerst schauen soll: Auf die feinen Tapeten, die verzierten, von goldenen Löwenfiguren gehaltenen Flügeltüren, die Kronleuchter von der Glasbläserinsel Murano oder die unzähligen Silberfiguren – manche original aus dem 16. Jahrhundert. „Fühlt euch wie zu Hause“, sagt Mariagrazia, während ihr Geschäftspartner Sebastiano Molani, der heute den Kurs in die venezianische Kochkunst leitet, Schürzen verteilt.

Venezianisch kochen heißt vor allem, Fisch und Meeresfrüchte zuzubereiten. Neben der Spüle in Mariagrazias Küche warten Sardinen, ein Wolfsbarsch, ein Stück Lachs, Tintenfische, Garnelen und Muscheln darauf, geputzt und verarbeitet zu werden. „Aber zuerst kümmern wir uns um die Dolchi, den Nachtisch“, sagt sie. Küchensprache ist Italienisch, Philipp Boecker übersetzt, wenn nötig.

Sebastiano erklärt, wie die Zabaionecreme geschlagen wird, und Ruckzuck geht es ans Gläserfüllen und Schichten mit Nüssen und Schokolade. Mariagrazia und Sebastiano arbeiten Hand in Hand. Während sie den Nachtisch im Kühlschrank verstaut, setzt er den Fischfond auf. Alles Mögliche soll und darf in die Suppe, nur nichts von fetten Fischen wie Lachs oder Sardinen. Fischköpfe wandern in den Topf und die Schalen der Garnelen, die die Kochschüler gerade pulen.

Jede Minute können Kochbegeisterte hier etwas lernen: Den richtigen Dreh beim Köpfen der Sardinen, wie man einen Kalmar putzt oder den richtigen Kniff beim Schneiden der frischen Tagliatelle. Nach gut drei Stunden gießt Mariagrazia einen Apperetivo ein – Spritz, das ist Weißwein, gemischt mit Aperol, serviert mit einer grünen Olive.

Foto: Valeska ZeppNino Zane verkauft Fische mit Leidenschaft und Humor. Er arbeitet seit 50 Jahren auf dem Rialto-Fischmarkt.

Die Köchin schickt ihre Schüler mit den orangeroten Getränken ins Wohnzimmer, wo ein Teller mit Brot und Bacala, einer sahnigen Stockfischcreme, bereitsteht. Der Wolfsbarsch gart im Ofen auf Kartoffelscheiben, Oliven und Tomaten. Die venezianische Traditionsspeise Sarde in saour – frittierte Sardinen mit gedünsteten Zwiebelringen, sauer eingelegt und mit Rosinen verfeinert – ruht in einer großen Schüssel in der Küche. Selbst gemachte Pasta und Sugo aus Meeresfrüchten – frisch vom Rialto-Fischmarkt – stehen bereit.

Die Hobbyköche streifen ihre Schürzen ab und nehmen Platz an Mariagrazias Esstisch. Die Hausherrin füllt Teller. Kühler Weißwein fließt in Gläser. Das Festmahl kann beginnen. Selbst gekocht schmeckt doppelt gut.

Fischmarkt am Rialto

Dass die Fische, Krebse, Tintenfische und Muscheln vom Markt an der Rialtobrücke von bester Qualität sind, davon überzeugt sich Marktleiter Lorenzo Manna – kurz Lollo – täglich. Heute führt er Philipp Boeckers Reisegruppe über seinen Markt. Ganz in italienischer Manier redet er ohne Punkt und Komma – Philipp kommt kaum mit dem Übersetzen hinterher. Und wenn Lollos Hände nicht gerade durch die Luft fuchteln oder Meergetier hochhalten, schieben sie eine Zigarette zwischen seine Lippen.

Als Träger hat Lollo mit 17 Jahren angefangen, war einer von ­denen, die frühmorgens Kisten und Säcke von den Lieferbooten auf die Holzkarren wuchten und sie durch die holprigen Gassen schieben – treppauf, treppab. Dann arbeitete er an einem Marktstand, hatte bald einen eigenen, dann zwei. Heute ist er Marktleiter und betreibt ein Restaurant. Seine Ambitionen für den Rialto-Fischmarkt: größtmögliche Transparenz für die Käufer. Seine Empfehlung: Lieber fantastische Sardinen aus der Lagune kaufen als mittelmäßigen Hummer von wer weiß woher.

Raus in die Lagune

Direkt aus der Lagune stammt auch eine typisch venezianische Delikatesse, die auf dem Rialto bis zu 100 Euro das Kilo kostet: Moeche. Das sind Krebse, die sich gerade gehäutet haben und ­– ganz weich, weil ohne Panzer – kurz frittiert im Ganzen gegessen werden.

Warum Moeche so teuer sind, erfährt die Gruppe auf einem Bootsausflug: Abfahrt in Burano, der Fischerinsel vor Venedig. Am Horizont zeichnen sich die schneebedeckten Alpengipfel ab. Mitten in der Lagune, vorbei an großflächig von Kanälen durchzogenen Salzwiesen, steigt an einer Anlegestelle Stephano zu, um den Besuchern zu zeigen, wie aus den Krebsen Moeche werden.

An einer Holzkonstruktion ein paar Meter kanalaufwärts zieht der 29-jährige Lagunenfischer eine Drahtkiste aus dem Wasser. Er muss sich mit seinem gesamten Gewicht an das Seil hängen, um sie hochzuziehen. Wasser fließt aus der Kiste, zig Krebse tummeln sich darin. Stephano nimmt einige heraus, reicht sie von Hand zu Hand. Täglich begutachtet er, welche bald aus ihrer Haut schlüpfen. „Man braucht eine Menge Erfahrung, um den genauen Zeitpunkt zu erkennen“, sagt der junge Mann. Jeweils eine Kiste weiter kommen die, die als Nächstes dran sind.

Foto: Valeska ZeppStephano ist mit 29 Jahren der jüngste ­venezianische Lagunenfischer.

Wenn alles gut läuft, häuten sich in der letzten Kiste alle Tiere gleichzeitig. Dann packt Stephano sie in einen Sack und bringt sie zum Großmarkt. An guten Tagen bekommt er 20 Kilo zusammen.

Das Mittagessen findet auf der Gemüseinsel San Erasmo statt, nur ein paar Bootsminuten entfernt. Im Privathaus des einzigen Winzers der Lagune – Michel Toulouse vom Bioweingut Ortho – sitzen Besucher und Fischer zusammen an einem langen Tisch mit Blick auf die Reben. Pamela, seine Mitarbeiterin, frittiert die mitgebrachten Krebse. Aber die Zucchinibällchen sind fast genauso köstlich. Bei den berühmten lilafarbenen venezianischen Artischocken sind sich die Gäste nicht einig. Sie sind sehr aromatisch und leicht bitter – das mögen nicht alle. Als zweiten Gang bringt Pamela eine Gemüselasagne. „Ich serviere heute ein Zero-Kilometro-Essen – also mit Zutaten aus der Lagune, ohne Transportaufwand“, sagt sie stolz. Erbsen, grünen Spargel und Zucchini hat sie mit dem Fahrrad geholt.

Nach dem Essen gehts wieder aufs Boot. Die Sonne scheint, die Stimmung ist gelöst und alle genießen die flotte Fahrt, bei der das Wasser nur so spritzt. Der schiefe Kirchturm von Burano kommt näher. Auf der Fischerinsel mit den bunten Häusern bleibt noch ein bisschen Zeit, Ruhe und Aussicht zu genießen, bevor es zurück nach Venedig geht. Die vollen Gassen, Treppen, Brücken und vor allem die vielen Menschen hat man beinahe vergessen.

Valeska Zepp

Mehr Informationen: SAPIO – Kulinarische Ent­­­deckungsreisen, Liegnitzer Str. 28, 10999 Berlin, Tel.: (030) 25562937

fairkehr 5/2023