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Ein Pfad führt über eine grüne Alm
Ein Junge gießt Pflanzen, die in einer Holzkiste wachsen
Eine Seilbahngondel schwebt über eine dicht bebaute Stadt

Reise 1/2012

Treppen in die Wildnis

Wer der Zivilisation ein paar Tage den Rücken kehren will, ist im norditalienischen Nationalpark Val Grande genau richtig.

Foto: Gerhard FitzthumWaldreiche Talkessel und wild zerklüftete Felsgrate haben der menschlichen Erschließung weitgehend getrotzt.

Welch ein Wunderwerk der Natur der menschliche Laufapparat doch ist! Seit dem frühen Morgen sind Gelenke und Muskeln im Dauereinsatz, ohne ihren Dienst zu versagen. Und das auf Wanderwegen, die diesen Namen kaum verdienen. Es sind eher Spuren im hohen Gras und rutschige Steinrinnen, in denen jeder Schritt bedacht sein muss.

Derart mit sich selbst beschäftigt, könnte man die umgebende Landschaft glatt vergessen. Doch sie wirkt so faszinierend fremdartig, dass man immer wieder stehen bleibt und den Blick schweifen lässt. Von der Passhöhe absteigend tauchen wir in einen waldreichen Talkessel ein, der von wildzerklüfteten Felsgraten umgürtet wird.

Auch oberhalb der Waldgrenze fehlen die beschaulichen Almwiesen. Die Trittspur schlängelt sich durch Felder mit jungen Grünerlen, zwischen denen langstänglige Gräser und Alpenrosen einen dichten Vegetationsteppich gebildet haben. Zeichen menschlicher Erschließung sind nirgendwo auszumachen – weder Dörfer und Straßen noch Strom- und Telefonleitungen. Wäre der azurblaue Himmel nicht von Kondensstreifen durchzogen, man könnte glauben, auf einen unbewohnten Planeten geraten zu sein.

Kleine Inseln der Zivilisation

Der Blick auf die Karte erlaubt jedoch keinen Zweifel: Wir sind mitten in Europa – zwischen Domodossola und Locarno, im Berggebiet des Val Grande, das 1992 zum Nationalpark erklärt wurde.

Der Abstieg von der Bocchetta endet in Pian di Boit, einer kleinen Insel der Zivilisation inmitten des Dschungels. Drei steingemauerte Almgebäude stehen hier verloren auf einem Wiesenplateau, auf dem nicht einmal ein Kuhfladen zu sehen ist. Doch der Eindruck völliger Verlassenheit täuscht: Aus einem Kamin quillt Rauch. Francesca Terzago ist zusammen mit ihrem Vater drei Stunden aufgestiegen, um die müden Wanderer mit Salsiccia und Polenta zu bekochen.

Die beiden gehören zur „Società Val Grande Cooperativa“, die Führungen durch den „Parco Nationale“ organisiert, auf Anfrage aber auch größere Wandergruppen bewirtet. Weil wir diesen Service frühzeitig bestellt haben, steht uns die eigentliche Hütte offen, wo im Dachgeschoss Matratzen ausgelegt sind. Nachts auf Toilette zu müssen, heißt jedoch auch hier, mit der Finsternis Bekanntschaft zu machen. Im Schein der Stirnlampe glänzt das regennasse Gras, im Hintergrund spiegelt sich ein Augenpaar, das blitzschnell in der Dunkelheit verschwindet.

„Nachts schauen hier Füchse vorbei, um nach Speiseresten zu suchen“, hatte Francesca beim Abendessen erzählt. Kein Grund zur Panik also. Wer mutig genug ist, die Lampe auszumachen, erkennt im V-Ausschnitt des Tales einen schwachen Lichtschein. Dort unten liegt das Gegenstück zum Niemandsland von Pian di Boit – die dicht bevölkerte Lago-Maggiore-Region, zwei Tagesetappen entfernt – eine Welt, in der es niemals wirklich dunkel wird.

Natur wie in den Anden

Am nächsten Morgen folgen wir dem rot-weiß markierten Pfad weiter talabwärts – durch einen verwunschenen Buchenwald. Die Vorstellung, dass die Natur ein Ort absoluter Stille ist, hat sich als Illusion erwiesen: Der nahe Rio Pogallo rauscht so laut, dass man sich nur noch in Zeichensprache verständigen kann. Durch das nächtliche Gewitter ist der Wildbach bedrohlich angeschwollen.

Weiter unten ist der Hang so steil, dass kein geschlossenes Blätterdach die Sicht versperrt. Der Blick fällt auf eine Szenerie, die genauso gut in den Anden liegen könnte: Auf allen Seiten tosen hohe Wasserfälle über steilste Felsenwände herab. Der feine Nebel, der jetzt über dem Flussbett schwebt, macht die Landschaft noch märchenhafter, als sie ohnehin schon ist. Die Fotoapparate klicken.

Wir sind da, wo wir hin wollten: In einem Reich der Natur, das nicht mit Wegweisern, Infotafeln und Picknickabfällen entstellt ist, sondern gänzlich unberührt in sich selbst ruht.

Foto: Gerhard FitzthumViel Natur und wenig Menschen: Viele der Dörfer im Val Grande sind längst verlassen.

Eine halbe Stunde später stehen wir am Saum einer großen Wiese. Im Hintergrund, erst auf den zweiten Blick erkennbar, ducken sich zwei Dutzend Steinhäuser an den Hang. Niemand hat etwas von Pause gesagt, aber alle bleiben stehen und genießen das pastorale Idyll. Wie schön die Menschenwelt doch ist, wenn man sie zwei Tage nicht gesehen hat.

Nur ein Mensch lebt im Dorf

Von allzu viel Zivilisation wird man in Pogallo allerdings nicht bedrängt. Nicht einmal Jacko ist heute da, der einzige Bewohner des Dorfes. Immerhin neun Monate des Jahres lebt er an diesem Ende der Welt. Im Frühjahr lässt er sich das Nötigste mit dem Helikopter herauffliegen, den Rest schleppt er kilometerweit auf dem Rücken.

Ende des 19. Jahrhunderts lebten in diesem Dorf unglaubliche fünfhundert Menschen, die meisten als Holzfäller und Waldarbeiter. Carlo Sutermeister, ein Unternehmer aus der nahen Schweiz, hatte die systematische Waldnutzung eingeführt. Pogallo ähnelte nun einer Goldgräbersiedlung des Wilden Westens. Es hatte mehrere Wirtshäuser, einen Einkaufsladen, Kirche und Schule und sogar eine Polizeistation. Das für die Industrien Mailands bestimmte Holz wurde mit modernen Transportseilbahnen ins Tal geschafft.

Vor 50 Jahren war es mit diesen Geschäften dann vorbei. Billigeres Importholz hatte den Markt erobert. Binnen weniger Jahre war Pogallo zum Geisterdorf geworden.

Der einzige ganzjährig bewohnte Ort

Sutermeister hatte auch im Wegebau Maßstäbe gesetzt. Für seine Arbeiter ließ er einen so spektakulären wie bequemen Weg durch die Schlucht anlegen. Im steilsten Teil des Canyons besticht die „Strada Sutermeister“ durch eine verwegene Stahlkonstruktion, in der die Steinplatten frei aufgehängt über dem Abgrund schweben. Auch vorher und nachher ist der Saumpfad perfekt ausgebaut. Immer wieder besteht er aus großen Steinplatten, die treppenartig aneinandergefügt wurden.

Eine gute Stunde braucht man nach Cicogna, dem einzigen noch ganzjährig bewohnten Ort im Nationalpark. Geblieben sind jedoch auch hier nur zwei Dutzend Menschen. Die wenigen, die noch nicht pensioniert sind, pendeln jeden Morgen das schwindelerregende Teersträßchen nach Verbania hinunter.

Lediglich zwei Familien verdienen ihr Geld noch vor Ort. Die eine mit einer Bar und einem „Bed and Breakfast“, die andere versucht es mit einem Agriturismo-Betrieb, einem bäuerlichen Gasthaus, in dem selbst hergestellte Lebensmittel auf den Tisch kommen. Rolando, der Besitzer, hat eine stattliche Ziegenherde, verkauft leckeren Käse und ist auf die Parkverwaltung nicht gut zu sprechen. Für die Menschen, die hier leben, werde rein gar nichts getan. Schon gar nicht für die Bauern, die für die Erhaltung des Landschaftsbildes unentbehrlich seien.

Menschen als Störfaktoren

Tatsächlich fühlt sich die Parkverwaltung dem amerikanischen Wilderness-Prinzip verpflichtet, das den wirtschaftenden Menschen als Störfaktor betrachtet. Dass dieser radikale Ansatz auch der touristischen Entwicklung gefährlich werden könnte, wird spürbar, wenn man der Nationalparkgrenze folgend über einen aussichtreichen Gratrücken zum Panorama Monte Todun schlendert.

Geht es zunächst noch über blumenreiche Bergwiesen, so wird das Buschwerk schnell immer höher, bis wir uns irgendwann durch mannshohe Felder von gemeinem Wurmfarn kämpfen. Das vormalige Weideland ist hier derart zugewachsen, dass man Felsformationen erklettern muss, um das einmalige Seenpanorama auf Lago Maggiore, Lago d’ Orta und Lago di Varese genießen zu können.

Beim Abendessen entbrennt die Diskussion, die zu erwarten war. Es gibt niemanden, den die Neo-Wildnis nicht tief beeindruckt hätte, aber kaum einer wäre erfreut, wenn die verbliebenen Reste der alten Kulturlandschaft auch noch im Wald verschwänden. Schließlich will man auch mal ins Freie treten und eine Orchidee oder eine wilde Tulpe am Wegrand entdecken. Und vor allem möchte man hin und wieder etwas von der spannenden Landschaft sehen, durch die man sich bewegt.

Gerhard Fitzthum

Mehr Informationen: Tra Cultura e Natura, Tel.: (06406) 74363

fairkehr 5/2023