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Ein Pfad führt über eine grüne Alm
Ein Junge gießt Pflanzen, die in einer Holzkiste wachsen
Eine Seilbahngondel schwebt über eine dicht bebaute Stadt

Titel 6/2011

Die bürgerlich ungehorsamen Radfahrer

In der mexikanischen Metropole Guadalajara leitet erstmals in Lateinamerika eine Bürgerbewegung mit dem Namen „Stadt für alle“ die grüne Verkehrswende ein.

Foto: Gerardo Montes de Oca Valadez Wenn es die Stadt nicht macht, helfen sie sich selbst: Mit weißer Farbe malen sich die Radfahrer eigene Radfahrstreifen auf die Fahrbahn.

Die Stadt wäre der Traum jedes Radfahrers: topfeben, 365 Tage Sonnenschein und entspannte 20 Grad Celsius im Jahresmittel. Doch unter den immergrünen Baumreihen auf Guadalajaras Alleen sind Radfahrer selten. Stattdessen versinkt die vier Millionen Einwohner zählende mexikanische Metropole im Dauerstau.

„Täglich werden mehr neue Autos zugelassen als Kinder geboren“, veranschaulicht Stadtplanerin María Elena de la Torre den Autoboom im Schwellenland Mexiko. Halbiert hat sich derweil in den letzten Jahren der Anteil des öffentlichen Verkehrs in Guadalajara von 60 Prozent im Jahr 2004 auf heute unter 30 Prozent.

Das Fahrrad schließlich gilt als Transportmittel der armen Schlucker, die sich nicht einmal den Bus leisten können. Ganze zwei Prozent aller Fahrten werden damit zurückgelegt, und die sind lebensgefährlich. 39 Radfahrer kamen im laufenden Jahr in Guadalajara ums Leben, meist überrollt von rücksichtslosen Auto- oder Busfahrern. Denn in der zweitgrößten Stadt Mexikos gilt wie im Rest des Landes das Recht des Stärkeren. Vorfahrt hat, wer über mehr PS verfügt.

Radrundfahrten der kritischen Masse

De la Torre ist der wissenschaftliche Kopf einer in Lateinamerika ungewöhnlichen Bürgerbewegung, die eine radikale Umkehr in der Verkehrspolitik fordert. „Ciudad para Todos“ heißt die Gruppe, Stadt für alle. „Wir wollen eine Stadt für Menschen, nicht für Autos“, fordert die 39-jährige, in London und Barcelona ausgebildete Urbanistin. Dafür setzt „Stadt für alle“ auf kreativen bürgerlichen Ungehorsam. Mal wird zu nächtlichen „Radrundfahrten der kritischen Masse“ eingeladen, an denen sich dann locker 5000 Menschen beteiligen. Mal werden Straßen gesperrt, damit die Kinder Fußball spielen können.

Internationale Beachtung fanden schließlich die von „Stadt für alle“ initiierten „bürgerlichen Radwege“. Im Januar und März pinselten jeweils rund 30 Freiwillige in Überraschungsaktionen Radstreifen auf die Straße und verhängten Geschwindigkeitsbegrenzungen – ohne lästige Absprache mit den Behörden. Guadalajaras Stadtregierung machte angesichts des Medienrummels gute Miene. Statt die Polizei zu schicken, entsandte sie einen Bautrupp, besserte die anarchistischen Radwege nach und nahm sie in den dünnen offiziellen Radwegeplan auf.

Eine Stadt entdeckt das Fahrrad

Guadalajara ist nicht die erste Stadt des Subkontinents, die langsam das Fahrrad entdeckt. Das kolumbianische Bogotá baute in den letzten Jahren mehr als 350 Kilometer Radwege. Und auch der Oberbürgermeister von Mexiko-Stadt, Marcelo Ebrard, setzt sich gerne publikumswirksam aufs Rad. „Sie haben ähnliche Ziele“, sagt de la Torre, „doch ihre Form ist autoritär“. Der grüne Wandel werde dort letztlich von oben verordnet.

In Guadalajara hingegen sind es die Bürger, die eine Abkehr von der einseitigen Autopolitik fordern. Denn nirgendwo anders im Land sind deren Konsequenzen so deutlich wie in der zentralmexikanischen Metropole. Elf Stun­denkilometer ist dort die Durchschnittsgeschwindigkeit. Das ist deutlich tiefer als in anderen Städten Mexikos.

Auslöser der ersten Bürgerproteste war der ebenso verzweifelte wie absurde Versuch der Stadtregierung im Jahr 2007, den drohenden Verkehrsinfarkt zu lösen. Sie stellte die Ampeln in Nebenstraßen tagelang auf Dauerrot, um den Verkehr auf den Hauptachsen zu verflüssigen. Wohnquartiere wurden damit zerschnitten, das Überqueren der Hauptachsen lebensgefährlich. Dagegen gingen spontan Tausende auf die Straße. „Da sahen wir, dass wir viele sind“, erinnert sich de la Torre. „Stadt für alle“ war geboren.

Foto: Salvador MedinaVor allem Jugendliche in Mexiko zeigen großes Umweltbewusstsein und Engagement.

Einmal wöchentlich trifft sich die Gruppe und diskutiert neue Aktionen. Verpönt sind die klassischen Märsche und Demos. Kreativ soll der Protest vielmehr sein. Das hat Erfolg. Im April begrub Guadalajaras Regierung die Pläne für eine neue Stadtautobahn, nach einer über Facebook und Twitter organisierten Kampagne von „Stadt für alle“. Nie zuvor war es einer Bürgergruppe in Mexiko gelungen, ein öffentliches Bauvorhaben dieser Größe zu stoppen. Auch das hat sich im Ausland herumgesprochen. So war Guadalajara im September Sitz des X. Weltkongresses für autofreie Städte. Felipe Reyes, Politstratege von „Stadt für alle“, sieht einen konkreten Effekt für Mexiko: „Das Bewusstsein für eine andere Form von Verkehrs- und Stadtplanung wächst. Auch die Politik nimmt das Thema auf.“

Neue Radwege braucht die Stadt

Bisher größter Erfolg von „Stadt für alle“ ist der letztes Jahr vorgestellte integrierte Mobilitätsplan für Guadalajara, den die Gruppe der Regierung abtrotzte. Der erste Plan dieser Art in Lateinamerika sieht unter anderem vor, das Radwegnetz der Metropole von derzeit 40 auf 1500 Kilometer auszubauen. Zugleich sieht er 26 verkehrsberuhigte Zonen vor.

Autorin des Plans ist wiederum de la Torre. Zwei Jahre lang befragte sie dazu Bürger und organisierte Workshops. Das Ergebnis ist jetzt zwar offiziell Regierungsstrategie, doch die Umsetzung läuft selbst für mexikanische Verhältnisse quälend langsam. Gerade kündigte die Regierung den Bau der ersten drei Radwege an.

Die Stadtplanerin zeigt sich dennoch zuversichtlich und vertraut auf anhaltenden Druck der Bürger. „Gerade bei der Jugend gibt es ein enormes ökologisches Bewusstsein.“ Dann blickt sie lächelnd auf ihren acht Monate alten Sohn, der während des gesamten Interviews selig geschlafen hat: „Er wird eines Tages selbst mit dem Rad zur Schule fahren können.“  

Matthias Knecht

Matthias Knecht ist Mexikokorrespondent des Nachrichtendienstes epd, der „NZZ am Sonntag“ und anderer deutschsprachiger Publikationen. Für seine in der „Financial Times Deutschland“ erschienene Reportage über den bürgerlichen Radwegbau in Guadalajara wurde er für den Deutschen Journalistenpreis nominiert.

Mörderischer Autoverkehr

Foto: Salvador MedinaMit selbstgebastelten Schablonen pinseln junge Mexikaner Radfahrsymbole und Vorrangzeichen auf die Straße.

24.000 Menschen kommen in Mexiko jährlich im Straßenverkehr um. Das sind fast doppelt so viele wie im Drogenkrieg. Die Mehrheit der Todesopfer sind Fußgänger und Radfahrer.

Ursache ist der für Schwellenländer typische Autoboom. In den Metropolen Mexikos hat sich der Motorfahrzeugbestand in den letzten 20 Jahren vervierfacht. Die derzeit knapp 30 Millionen Autos landesweit werden bis zum Jahr 2020 auf 45 Millionen anwachsen, erwarten Verkehrsexperten. Hinzu kommen der schlechte Zustand der Straßen und die mangelnde Ausbildung der Verkehrsteilnehmer. In Mexiko-Stadt etwa ist der Führerschein ohne jegliche Prüfung erhältlich.

Das Fahrrad hingegen ist bei der Mehrheit verpönt. Ein „Radfahrer-Dorf“ ist im mexikanischen Spanisch die Bezeichnung für einen besonders rückständigen Ort. So favorisiert Mexikos Politik nach wie vor massiv das Auto. Mit umgerechnet elf Milliarden Euro jährlich subventioniert der Staat das Benzin. Der Liter kostet an der Tankstelle derzeit 55 Cent. Mehrere Bundesstaaten schafften die Fahrzeugsteuer ganz ab. Ab nächstem Jahr ist das auch in der Hauptstadt der Fall. Nahezu das gesamte Verkehrsbudget geht währenddessen in den Bau neuer Schnellstraßen und Autobahnen, um den Verkehrskollaps abzuwenden.

Einige wenige Politiker Mexikos profilier­ten sich bisher mit ökologischen Bekenntnissen, allen voran Marcelo Ebrard, Oberbürgermeister von Mexiko-Stadt. Er schreibt deren Angestellten vor, mindestens einmal im Monat mit dem Rad zur Arbeit zu fahren. Und er hat ein Verleihsystem für Räder eingeführt, mit derzeit 90 Stationen im Stadtzentrum. Doch Wege dafür hat er nicht geschaffen. Auf die 10.000 Kilometer Straßennetz in Mexiko-Stadt kommen gerade einmal 90 Kilometer Radwege.

fairkehr 5/2023