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Ein Pfad führt über eine grüne Alm
Ein Junge gießt Pflanzen, die in einer Holzkiste wachsen
Eine Seilbahngondel schwebt über eine dicht bebaute Stadt

Titel 6/2011

Frankreichs grüne Hauptstadt

Dank eines visionären Bürgermeisters macht La Rochelle im Südwesten Frankreichs seit 40 Jahren den Menschen und nicht das Auto zum Maßstab der Stadtentwicklung.

Foto: Reinhard SiekemeierAuf dem Quai Duperré am alten Hafen von La Rochelle wurde eine Fahrspur Fußgängern, Joggern, Skatern und Radlern eingeräumt.

Sylvie Laporte gestikuliert am Steuer ihres Minivans. Sie will mit ihrem kleinen Sohn schnell weiter zum Kinderarzt. Doch Eric Bazin, Mitarbeiter der Stadtverwaltung von La Rochelle, ist unerbittlich. Mit fünf Kolleginnen und Kollegen hat er frühmorgens Posten bezogen an einer Straßensperre in der Avenue du General de Gaulle. Auf den Zufahrtsstraßen ins Zentrum gibt es heute kein Weiterkommen für Benziner, Diesel, Mopeds, Motorräder, Motorroller und was sonst noch brummt und knattert. Nur Busse, Taxen, Ambulanzen und die Polizei dürfen passieren. Doch selbst die ist mit dem Fahrrad unterwegs.

Es ist der 22. September, der alljährliche autofreie Tag in der Hauptstadt des Départements Charente-Maritime. Bereits zum 15. Mal heißt es „In die Stadt ohne mein Auto“. E-Autos dienen in dringenden Fällen als Shuttle von den Straßensperren ins Zentrum. Eric Bazin setzt Frau Laporte mit Kind kurzerhand in seinen elektrischen Peugeot Partner. So kommen sie doch noch pünktlich zum Arzttermin.

Die meisten Elektrofahrzeuge in La Rochelle sind im Besitz der Stadtverwaltung und von Yélomobile, einer vom Transportunternehmen Proxiway Veolia betriebenen und von der Stadt finanzierten Carsharing-Organisation, die ausschließlich E-Autos im Bestand hat. Und das nicht erst seit gestern.

1986 fuhren die ersten E-Autos durch die 80.000-Einwohner-Stadt. Sechs Jahre später schloss La Rochelle einen Vertrag mit Peugeot und wurde Frankreichs Modellstadt für Elektromobilität: Überall im Stadtgebiet wurden Ladesäulen aufgestellt und 1999 setzte die Kommune mit dem Libre Service Electrique, dem Vorläufer von Yélomobile, das weltweit erste Carsharing-Projekt mit E-Autos um. Ziel war es, die Stadt von Lärm und Abgasen zu entlasten.

Foto: Reinhard SiekemeierGelbe Leihfahrräder, gelbe Elektro-Minibusse – Gelb ist die Marken­farbe der öffentlichen Verkehrsmittel in La Rochelle.

Doch La Rochelles Ruf als Frankreichs „grüne Hauptstadt“ beruht nicht nur auf Elektroautos und dem Tag ohne Auto. Weit früher machte die Stadt mit ökologischer Stadtentwicklung und Förderung alternativer Mobilität von sich reden.

Zentrum als geschützter Bereich

Bereits 1971 begann die Stadtverwaltung mit regelmäßigen Luftschadstoffanalysen und erklärte das Zentrum zum „geschützten Bereich“, zum „Secteur sauvegardé“. 1975 entstand Frankreichs erste Fußgängerzone gegen den erbitterten Widerstand von Geschäftsleuten. Ein Jahr später richtete die Stadt einen Leihfahrradservice ein: „Vélos jaunes“. Heute stehen mehr als 300 gelbe Räder, verteilt an 55 mit Solarstrom betriebenen Selbstbedienungsstationen, im Stadtgebiet. 1981 folgte eine Kampagne gegen Lärm in der Stadt, 1998 lief die erste von heute drei solarunterstützten elektrischen Fähren vom Stapel. Die Schiffe sind die Ersten ihrer Art in Frankreich.

Zusammen mit ihren Bürgern gestaltete die Stadt zur Jahrtausendwende den nationalen „Plan de Deplacement Urbain“ (PDU). Die beispielhafte Umsetzung des PDU in La Rochelle, die Bus und Bahn, Fahrradfahrern und Fußgängern Vorrang gibt, wurde von der französischen Umweltschutz- und Energieagentur und vom nationalen ÖPNV-Verband ausgezeichnet. 2005 startete die Verwaltung eine Energieeffizienz- und Klimaschutzkampagne und erstellte eine CO2-Bilanz für La Rochelle.

Bürgermeister setzen auf Grün

Die Vorreiterrolle der Stadt geht zurück auf Michel Crépeau. Der Anwalt und Politiker der Linken, des Mouvement des Radicaux de Gauche, war von 1971 bis zu seinem Tod 1999 Bürgermeister und Präsident des Großraums La Rochelle. In seiner fast dreißigjährigen Amtszeit verfolgte der begeisterte Radfahrer konsequent die Idee, eine Stadt zu schaffen, in der der Mensch der Maßstab ist.

„Luftiger, gesünder und grüner. Eine glücklichere Stadt für glücklichere Menschen“ sollte La Rochelle werden, verkündete Crépeau in seinem ersten Wahlkampf. Er blieb diesem Motto zeitlebens treu. Die Bürger bestätigten ihn viermal im Amt, er wurde über Parteigrenzen populär und unter Präsident François Mitterand unter anderen Minister für Umwelt.

Gleich nach Amtsantritt stoppte Crépeau mehrere große Neubauprojekte in der Stadt zugunsten einer kleinteiligeren Planung. Eine seiner Lieblingsaufgaben wurde das Bäumepflanzen: Innerhalb weniger Jahre wurde der Anteil der Grünflächen im Stadtgebiet vervierfacht.

Heute verfügt La Rochelle über 410 Hektar an öffentlichen Parks und Gärten, ausgedehnte Fußgängerzonen, Tempo-20-Zonen, viele Park&Ride-Parkplätze sowie ein gut ausgebautes Busnetz. Als eine der ersten Städte Frankreichs führte die Stadt Busse mit weniger Abgas- und CO2-Emissionen ein. Auf der Expresslinie Illico werden sie mit Rapsöl betrieben, Solarmodule auf dem Dach unterstützen die Klimaanlage. Die Busse fahren auf Sonderspuren, die mit Pfosten abgesperrt sind. Der Busfahrer kann sie ferngesteuert versenken und hochfahren.

Gelbe Karte für die Solarfähre

Einzigartig in Frankreich ist das Programm Elcidis – Electric City Distribution –, das den Schwerlastverkehr in die Innenstadt reduziert. Pakete und Paletten werden von großen Lkw in elektrische Lieferwagen oder einen 3,5-Tonnen-Elektro-Kleinlaster umgeladen und dann – unabhängig von Zufahrtsbeschränkungen – in das verkehrsberuhigte Zentrum gefahren. Auch die Stadtreinigung und die Stadtgärtnerei sind elektrisch unterwegs.

Foto: Reinhard SiekemeierBürgermeister Maxime Bono freut sich über jeden, der Alternativen zum eigenen Auto entdeckt.

Crépeaus Nachfolger Maxime Bono führt die nachhaltige Verkehrs- und Stadtentwicklung fort. Sein Ziel ist es, den Individualverkehr weiter zu reduzieren. Dabei sind die Rochellaner kreativ: Erstsemester-Studenten stellt die Stadt unentgeltlich für ein Jahr Fahrräder zur Verfügung. Elektrische Kleinbusse verbinden einen großen Parkplatz mit der Altstadt. Die Verkehrspässe „PassPartout“ für die Region und „Carte Yélo“ für den Großraum La Rochelle erschließen alle öffentlichen Verkehrsmittel inklusive Solarfähren, gelbe Fahrräder und Carsharing-Elektroautos. Eine vom Großraum im Internet eingerichtete Mitfahrerzentrale war so erfolgreich, dass der Dienst auf Nachbarregionen ausgedehnt wurde.

Die städtische Initiative „Car à Pattes“ – Schulbus auf Füßen – richtet sich an Grundschüler und Eltern: Ausgewählte Erwachsene begleiten die Kinder ehrenamtlich auf ihren Fußwegen von und zur Schule, die Routen hat die Stadt vorher festgelegt. Sie organisiert und bewirbt das System: Zu Beginn eines Schuljahres kommen Mitarbeiter der Stadtverwaltung in die Schulen, um Lehrer und Eltern für das Programm zu gewinnen.

150 Kilometer Fahrradwege, für Fahrräder in beide Richtungen freigegebene Einbahnstraßen und das Leihfahrradsystem „Vélos Jaunes“ laden auch Touristen ein, die Stadt auf zwei Rädern zu erkunden. Sie können sich die Fahrräder tagsüber gratis beim Office du Tourisme ausleihen.

„Ich gratuliere allen, die Alternativen zum eigenen Auto wählen“, so Bürgermeister Bono zum diesjährigen Tag ohne Auto in La Rochelle, „und ihre Zahl wächst glücklicherweise.“ Vielleicht gehört 2012 auch Sylvie Laporte dazu.

Reinhard Siekemeier

fairkehr 5/2023