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Ein Pfad führt über eine grüne Alm
Ein Junge gießt Pflanzen, die in einer Holzkiste wachsen
Eine Seilbahngondel schwebt über eine dicht bebaute Stadt

Titel 6/2011

Verkehr fällt nicht vom Himmel

Wer lebenswerte Städte möchte, muss Alternativen zum Autoverkehr anbieten und die Bürger bei der Planung einbeziehen, sagt Städte- und Verkehrsplanerin Gisela Stete.

Foto: Andreas LabesGisela Stete, 61, leitet das Verkehrs- und Stadtplanungsbüro Steteplanung in Darmstadt. Die Bauingenieurin ist unter anderem Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat des VCD und in der Vereinigung für Stadt-, Regional- und Landesplanung SRL. Deren Mitglieder – Städte-, Verkehrs-, Landschafts- oder Umweltplaner – setzen sich dafür ein, Umwelt, Gesellschaft und Planung zusammenzudenken und so einen „Beitrag zur Zukunftssicherung kommender Generationen“ zu leisten.

fairkehr: Wenn Sie ein Stadtquartier neu entwerfen könnten, wie sähe es aus?
Gisela Stete: Wichtig wäre, dass es kein monofunktionales Quartier ist, sondern eine gesunde Mischung aus allen Grunddaseinsfunktionen, also Wohnen, Versorgen, Einrichtungen für Kinder und Jugendliche, Schulen, Freizeitmöglichkeiten. Ein Stadtquartier sollte lebendig sein, es sollte viele Gelegenheiten geben, sich innerhalb des Quartiers zu bewegen, Stichwort Nahmobilität. Dafür ist auch die Qualität des öffentlichen Raumes entscheidend. Bei Straßen, die das Stadtviertel erschließen, sollte nicht die Verkehrsfunktion im Vordergrund stehen, sondern die Aufenthaltsfunktion.

Was heißt das?
Ich denke an Konzepte wie Shared Space oder Begegnungszonen, in denen alle Verkehrsteilnehmenden gleichberechtigt sind und nicht der Autoverkehr Vorrang hat. Damit meine ich auch den ruhenden Verkehr. Zum Beispiel in den Gründerzeitvierteln, die zu Zeiten entstanden, in denen es das Auto in der Form noch nicht gab, und die heute attraktive Wohnquartiere sind – aber einfach zugeparkt werden.

Wie lässt sich das ändern?
In solchen Quartieren kann Carsharing ein gutes Instrument sein, um die Aufenthaltsqualität im öffentlichen Raum wieder zu stärken. Dazu gehört allerdings, dass die Pkw-Stellplätze in dem Maße, wie man sie nicht mehr braucht, auch abgebaut werden. Zürich beispielsweise hat in den 90er Jahren den sogenannten historischen Kompromiss beschlossen. Er legt fest, dass in der Innenstadt die Anzahl von Stellplätzen von 1990 gehalten wird. Das heißt, für jedes neue Parkhaus müssen in der gleichen Größenordnung Parkplätze im öffentlichen Straßenraum abgebaut werden. Das täte auch unseren Städten gut. Wichtig ist, dass Verkehrs- und Siedlungsentwicklung als zwei Seiten ein und derselben Medaille gesehen werden.

So müssten das im Grunde alle Ihrer Kolleginnen und Kollegen sehen, oder? Man kann doch beide Aspekte gar nicht aus­ein­ander denken.
Nach dem Zweiten Weltkrieg ist dieses Verständnis einer integrierten Stadtentwicklung abhandengekommen. Glücklicherweise setzt sich zunehmend die Erkenntnis durch, dass Stadtentwicklung und Verkehr im Zusammenhang gesehen werden müssen. Und dass Verkehrsplanung nicht nur als technische Aufgabe zu sehen ist, für die es technische Lösungen braucht.

Der Zweite Weltkrieg ist nun schon etwas her, es hätte ein Umdenken stattfinden können. Woran liegt es, dass es sich noch nicht längst durchgesetzt hat?
Viele Städte und Verwaltungen haben häufig das Problem, dass die Zuständigkeiten verstreut sind. Dass beispielsweise die Verkehrsplanung nicht bei der Stadtplanung angesiedelt ist, sondern oft in einem eigenen Straßenverkehrs- und Tiefbauamt mit einer eher technischen Orientierung – und die Straßenverkehrsbehörde wiederum beim Ordnungsamt. Schwierig wird es vor allem, wenn die Ämter in Konkurrenz zueinander stehen und möglicherweise noch unterschiedlichen Dezernaten zugeordnet sind.

Foto: Uta LinnertGründerzeitquartiere waren immer schon beliebte Wohngebiete – sie sind aber heutzutage leider völlig zugeparkt.

Woran liegt es, dass Städte und Quartiere nicht dem menschengerechten Ideal entsprechen? Passen sich die Menschen den Städten an oder die Städte sich den Menschen?
Die Faszination des Automobils war nach dem Krieg sehr stark und der Glaube daran, dass man mit einem entsprechenden Stadt- und Straßenausbau Gutes tut. Unterstützt durch die entsprechende Werbung der Automobilindustrie haben sich die Menschen den autoaffinen Strukturen angepasst und sich daran gewöhnt. Verkehr ist nichts, was vom Himmel fällt, sondern eine Folge von Nutzungen und deren Verteilung in der Stadt. Je weiter die Wege, desto mehr Verkehr, insbesondere Autoverkehr. Deswegen ist es elementar, dass sich alle wichtigen Ziele wie Supermärkte, Schulen oder Arztpraxen zu Fuß, mit dem Fahrrad oder mit Bus und Bahn erreichen lassen und dass bei der Planung und beim Bau eines Stadtviertels von Anfang an gleichwertige Mobilitätschancen zwischen dem Umweltverbund und dem Autoverkehr bestehen. Das Wohngebiet Rieselfeld in Freiburg ist ein gutes Beispiel – da fuhr schon die Straßenbahn hin, bevor überhaupt die ersten Menschen eingezogen waren.

Das reicht schon?
Natürlich müssen die Menschen gezielt angesprochen, motiviert und unterstützt werden, die Angebote zu nutzen, Stichwort Mobilitätsmanagement. Wichtig sind Kommunikation und finanzielle Anreize – unter anderem Jobtickets. Oder Mietertickets. In Bielefeld beispielsweise bietet eine Wohnungsbaugesellschaft ihren Mietern günstige ÖPNV-Monatskarten an, für die sie mit dem Verkehrsunternehmen einen Rabatt ausgehandelt hat. So etwas stärkt die Alternativen zum Auto.

Sollte man die Menschen bei der Planung von Städten und Quartieren nicht fragen, was sie eigentlich wollen?
Ja, es sollte viel mehr darum gehen, bei der Quartiersplanung die Nutzerinnensicht einzunehmen und zu fragen: Was brauchen Kinder und Jugendliche, was brauchen Seniorinnen und Senioren? Diese Sicht muss das Planungs-Know-How ergänzen. Neben dem Punkt, wie beispielsweise der ÖPNV als System optimal funktioniert, sollte gefragt werden: Wie sehen die Anforderungen der Menschen aus, die mit dem System leben sollen? Dafür sind Kommunikation und Bürgerbeteiligung wesentliche Faktoren. Hier müssen vor allem die Kommunen beziehungsweise Auftraggeber von der Notwendigkeit einer Bürgerbeteiligung überzeugt werden, die über die übliche Information über ein Projekt hinausgeht. Mit Bürgerbeteiligung kann eine Planung möglicherweise etwas länger dauern. Doch ich bin davon überzeugt, dass die Akzeptanz eine andere ist, wenn die Menschen sich einbringen konnten.

Was gehört zu einer Stadt für Menschen?
Städte sind lebenswert, wenn ihre Strukturen nicht die Abhängigkeit vom Auto fördern. Es hat sich schon was verändert: Tempo 30 in Wohngebieten ist mittlerweile selbstverständlich, man diskutiert über mehr Aufenthaltsqualität im öffentlichen Raum, und Bürgerbeteiligung ist nicht mehr zu übergehen. Städte weisen weniger Neubaugebiete auf der grünen Wiese aus und schauen, welche Möglichkeiten es in der Stadt gibt, Wohnraum zu schaffen. Eine Stadt für Menschen ist eine, in der sich Kinder und Jugendliche, Seniorinnen und Senioren, Erwerbstätige und solche, die mit Betreuungspflichten in der Familie betraut sind, wohl fühlen, wenn sie unterwegs sind, und sich gern im öffentlichen Raum aufhalten.

    Interview: Kirsten Lange

fairkehr 5/2023