fairkehr VCD-Magazin für Umwelt, Verkehr, Freizeit und Reisen

Obere Wilhelmstraße 32 | 53225 Bonn | Telefon (0228) 9 85 85-85 | www.fairkehr-magazin.de

Ein Pfad führt über eine grüne Alm
Ein Junge gießt Pflanzen, die in einer Holzkiste wachsen
Eine Seilbahngondel schwebt über eine dicht bebaute Stadt

Titel 5/2011

Viele Wege, viele Fragen

Die Versuche mit elektronischen Fahrscheinen schreiten voran und versprechen mehr Komfort im Nah- und Fernverkehr. Der Aufwand nutzt bislang allerdings nur wenigen Fahrgästen.

Foto: DB AG/Martin KramerDie Deutsche Bahn testet den elektronischen Fahrschein im „Touch & Travel“-Pilotprojekt mittlerweile bundesweit.

Wenn Schüler aus Dortmund, Mönchengladbach oder Neuss morgens mit U-Bahn, S-Bahn oder Bus zum Unterricht fahren, tragen viele eine Chipkarte bei sich. Gespeichert sind auf diesem SchokoTicket – dem Jahresabo des Verkehrsverbunds Rhein-Ruhr (VRR) für Schüler – neben Namen und Geburtsdatum auch Angaben zur zeitlichen und räumlichen Gültigkeit. Seit 2003 setzt der VRR bei allen Abo-Angeboten auf die elektronische Fahrkarten-Variante, kurz E-Ticket genannt. Und das mit Erfolg, sagt VRR-Pressesprecherin Sabine Tkatzik. „Von unseren Kunden erhalten wir vorwiegend positive Rückmeldungen, vor allem von den Jugendlichen.“ Einige Kunden seien besorgt gewesen, dass mithilfe der Chipkarte Bewegungsprofile erstellt würden. Tkatzik versichert jedoch, dass der VRR die dafür erforderlichen Daten nicht erfasse.

Mittlerweile setzen sechs Regionen E-Tickets im Nahverkehr ein, unter anderem Saarbrücken, der Rhein-Sieg-Kreis und Schwäbisch-Hall. In Berlin-Brandenburg, Hamburg und im Rhein-Main-Gebiet soll die Technologie in den kommenden Monaten eingeführt werden. Außerdem testet die Deutsche Bahn den elektronischen Fahrschein unter dem Namen „Touch & Travel“ – beispielsweise in Berlin, auf Strecken im Rhein-Main-Gebiet, in Nordrhein-Westfalen und zwischen Kiel und Lübeck.

Unterscheiden lassen sich bei den E-Tickets im Wesentlichen zwei technische und organisatorische Varianten. Entweder sind wie beim VRR die Abo-Daten auf einem Chip gespeichert. Der Kauf funktioniert wie bei herkömmlichen Zeitkarten. Oder die Fahrgäste melden sich mit einer Chipkarte beziehungsweise mit ihrem Mobiltelefon beim Einsteigen an einem Terminal an und beim Aussteigen wieder ab. Bei diesem „Check-in-/Check-out“-Verfahren bucht das Verkehrsunternehmen den Fahrpreis nachträglich vom Konto der Karteninhaber ab, das heißt „postpaid“. Technisch möglich ist es auch, das Guthaben auf einem Prepaid-Konto zu belasten.

Technologische Basis für die unterschiedlichen E-Ticket-Varianten ist die VDV-Kernapplikation. Die VDV-Kernapplikations GmbH & Co. KG, eine Tochtergesellschaft des Verbands Deutscher Verkehrsunternehmen, hat sie­ zwischen 2002 und 2005 entwickelt. Seitdem bemüht sich das Unternehmen, den Datenstandard zu verbreiten und geeignete Rahmenbedingungen zu schaffen. Für das Projekt hat der Bund rund 14 Millionen Euro Fördermittel bereitgestellt. Zudem engagieren sich neben den Verkehrsverbünden Unternehmen wie Siemens, Philips, T-Systems oder Infinion ­finanziell.

Vision: deutschlandweites Ticket

Etabliert werden soll mithilfe des VDV-Standards ein deutschlandweit einheitliches E-Ticket-System, das den Fahrgästen eine Reihe von Vorteilen verspricht. „Mit dem E-Ticket gehört die Suche nach Kleingeld der Vergangenheit an“, sagt Sjef Janssen, Geschäftsführer der VDV-Kernapplikations GmbH. „Kunden mit Zeitkarten müssen sich nicht mehr darum kümmern, monatlich die Wertmarken zu wechseln. Und bei Verlust der Chipkarte genügt ein Anruf, um das Ticket sperren zu lassen.“
Künftig sollen Kunden ihr E-Ticket in ganz Deutschland nutzen können. Mit den Tarifen in fremden Städten müssten sie sich dann nicht mehr beschäftigen. Voraussetzung ist allerdings, dass die VDV-Kernapplikation flächendeckend eingeführt wird und die Verkehrsverbünde und -unternehmen ihre Hintergrundsysteme miteinander verknüpfen.

Foto: HandyTicket DeutschlandSo sieht die Smartphone-Anwendung von HandyTicket-Kunden aus.

Ein erster Schritt in diese Richtung ist ein Sperrlistensystem, das Anfang Oktober in Betrieb gegangen ist. Eine Kartensperrung ist damit verbundübergreifend möglich, nicht nur in der eigenen Region. Mit der bisherigen Entwicklung ist Sjef Janssen zufrieden. „Wir haben vor einigen Monaten die fünfmillionste Chipkarte in Umlauf gebracht. Alle beteiligten Unternehmen zusammen realisieren momentan eine Milliarde Euro Einnahmen pro Jahr“, sagt er. „Wichtiger ist für uns aber, dass die Kunden offenbar zufrieden sind.“ Das zeigt eine Befragung von Stadtbus-Kunden in Schwäbisch Hall  zur Kolibricard, die das „Check-in-/Check-out“-Verfahren unterstützt. Eine Mehrheit beurteilt die Karte als sehr gut oder gut und stimmt der Aussage zu, dass man sich mit der Karte keine Gedanken um Fahrpreise machen müsse und dass sie die Nutzung des Stadtbusses erleichtere.

Praktische Fragen ungeklärt

Dennoch besteht nach wie vor Anlass zur Kritik, meint Matthias Kurzeck, Mitglied des VCD-Bundesvorstands. So trägt das E-Ticket seiner Einschätzung nach zurzeit nicht dazu bei, dass die Fahrgäste sich leichter orientieren und bequemer im Nahverkehr bewegen können. „Die Verkehrsverbünde und -unternehmen arbeiten mit verschiedenen Verfahren und etablieren immer neue Tarife. Das macht es den Kunden schwerer, sich zurechtzufinden“, sagt Kurzeck. Hinzu kämen vor allem beim „Check-in-/Check-out“-Verfahren organisatorische Herausforderungen, die bislang nicht zufriedenstellend gelöst worden seien. Beispielsweise bei der Abrechnung von Fahrten, bei denen sich ein Fahrgast beim Aussteigen nicht abgemeldet hat. „Hier müssen eindeutige Regelungen getroffen werden, die nicht einseitig die Kunden belasten“, fordert Matthias Kurzeck. Offen sei auch die Frage, wie sich die Fahrgäste verhalten sollen, wenn sie sich beim Einsteigen aufgrund technischer Probleme nicht im System anmelden können. Zudem ließen sich nicht alle Tarifarten – zum Beispiel Gruppentarife – sauber mit dem E-Ticket abbilden.

Ähnliche Probleme kennt Karl-Peter Naumann aus eigener Erfahrung. Der Bundesvorsitzende des Fahrgastverbands Pro Bahn ist „Touch & Travel“-Testkunde der Deutschen Bahn. „Es kommt immer wieder vor, dass ich mich mit meinem Mobiltelefon an einem Terminal anmelden möchte und der Vorgang eine ganze Zeit dauert. Wenn ich in Eile bin, ist das natürlich ungünstig“, stellt Naumann fest. „Verschärfen können sich diese Situationen noch, wenn gleichzeitig sehr viele Fahrgäste einchecken wollen.“ Schwierigkeiten sieht Naumann auch bei der Abrechnung von beruflichen Fahrten. Denn statt einzelne Papiertickets einzureichen, müsste dem Arbeitgeber die Monatsrechnung vorgelegt werden, auf der auch private Fahrten ausgewiesen sind. „Sicher möchte nicht jeder Arbeitnehmer, dass der Chef weiß, wann und wohin er in seiner Freizeit fährt“, sagt Naumann.

Seit 2010 steht vielen ÖPNV-Kunden mit dem HandyTicket eine weitere Möglichkeit zur Verfügung, ohne Bares einen Fahrschein zu bekommen. Das HandyTicket basiert ebenfalls auf der VDV-Kern-applikation. Es wurde von 2007 bis 2010 im Pilotbetrieb getestet. Fahrgäste melden sich einmalig über ein Internetportal bei einem von zurzeit 14 Verkehrsverbünden an. Anschließend können sie in allen 14 Regionen Fahrkarten per Handy kaufen: via Smartphone-App, mobiles Internet, telefonisch oder per SMS. Sie bezahlen im Lastschriftverfahren, mit Kreditkarte oder über ein Prepaid-Konto.

Hoher Aufwand, wenig Nutzen

Alles in allem sieht der VCD die Entwicklungen beim E-Ticket und beim HandyTicket kritisch. So befürchtet Matthias Kurzeck vom VCD-Bundesvorstand, dass die Ausweitung der elektronischen Fahrscheine zu einem weiteren Abbau von Verkaufsstellen führt. „Außerdem betreiben die Verkehrsverbünde und -unternehmen einen hohen Aufwand, um Angebote für eine vergleichsweise geringe Zahl von Fahrgästen zu entwickeln und zu unterhalten“, sagt er. „Kosten und Nutzen stehen in keinem vernünftigen Verhältnis. Statt in neue Technologien zu investieren, sollten die Mittel genutzt werden, ein deutschlandweit einheitliches Tarifsystem umzusetzen.“ Davon profitieren alle Fahrgäste.

Michael Schwengers

Im Überblick: So funktionierts

Foto: HandyTicket Deutschland

E-Ticket Deutschland
Im Wesentlichen lassen sich zwei Varianten unterscheiden: Der VRS und der VRR beispielsweise geben Abos als E-Tickets aus. Fahrkartenkontrolleure überprüfen den Chip mit den gespeicherten Daten in einem Lesegerät. In Schwäbisch Hall und im Hohen­­­lohekreis arbeiten die Verbünde mit dem „Check-in-/Check-out“-Verfahren. Die Fahr­­gäs­te melden sich beim Einsteigen an und beim Aussteigen wieder ab, indem sie ihre Chipkarte an die markierte Fläche an einem speziell gekennzeichneten E-Ticket-Terminal halten. Ein Bordrechner erkennt die Fahrtlänge und berechnet die Kosten. Abgerechnet wird zurzeit „postpaid“: Das Geld wird im Nachhinein vom Konto abgebucht. Es ist technisch jedoch auch möglich, das Ticket mit einem Guthaben aufzuladen. 23 Verkehrsverbünde und -unternehmen arbeiten mittlerweile mit einer Form des E-Tickets, darunter der HVV in Hamburg, die BVG in Berlin oder die Stadtwerke Bielefeld.

„Touch & Travel“
ICE, S-Bahn und Bus deutschlandweit mit dem Mobiltelefon nutzen und später bezahlen – das ist das Ziel des „Touch & Travel“-Pilotprojekts der DB AG, das seit 2006 läuft. Im Fernverkehr kann „Touch & Travel“ seit diesem Juli deutschlandweit genutzt werden. Die Kunden brauchen dafür entweder ein Handy mit der sogenannten NFC-Übertragungstechnologie, von denen es in Europa bislang allerdings nur wenige Modelle gibt, oder ein Smartphone mit der „Touch & Travel“-App. Vor der Fahrt checken sich die Fahrgäste an blauen „Touchpoints“ an den Bahnsteigen ein. Im Zug überprüft der Kontrolleur das Handy. Nach der Fahrt melden sich die Kunden am „Touchpoint“ ab. Der Preis wird automatisch im Display angezeigt. Die Fahrten sind jederzeit im Kundenportal einsehbar, abgerechnet wird monatlich vom hinterlegten Konto.

HandyTicket Deutschland
In mittlerweile 14 Regionen Deutschlands funktioniert das Handy als Fahrkartenautomat. Wer sich einmalig als Kunde online registriert, braucht künftig kein Kleingeld mehr in Bus und U-Bahn, sondern kauft sein Ticket per App, mobilem Internet, Anruf oder SMS. Die Fahrkarte erscheint als Bilddatei auf dem Display. Bezahlt wird „prepaid“ oder im Nachhinein via Lastschrift oder Kreditkarte.

Kirsten Lange

fairkehr 5/2023