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Ein Pfad führt über eine grüne Alm
Ein Junge gießt Pflanzen, die in einer Holzkiste wachsen
Eine Seilbahngondel schwebt über eine dicht bebaute Stadt

Reise 3/2011

Der Natur auf der Spur

Von Nordwesten nach Südosten: Eine Reise mit Fahrrad und Bahn durch Nationale Naturlandschaften Brandenburgs.

Foto: Jörg RöderEntlang der Flüsse Spree, Oder, Neiße und Elbe radeln und reiten oder auf den unzähligen Wasserwegen paddeln: Brandenburg gilt als Europas größtes vernetztes Wassersportrevier.

Montagmorgen, Berlin Hauptbahn­hof. Berufspendler hasten in die Büros der Stadt. Mich jedoch zieht es raus aus Berlin. Mit vollbepacktem Fahrrad stehe ich am Bahnsteig, zwei Fahrscheine in der Tasche: einer für mich, der andere fürs Rad. 20 Minuten später hält der Zug der S-Bahnlinie 3 in Berlin-Spandau, wo ich in den Regionalexpress 6 gen Norden umsteige. In Neuruppin, der preußischsten aller preußischen Städte, sitze ich endlich im Sattel: Hier, rund 60 Kilometer nördlich von Berlin, beginnt meine zunächst einsame Reise.

Auf dem „Seen-Kultur-Radweg“ durchfahre ich den Naturpark Stechlin-Ruppiner Land. Auf dieser Route Richtung Rheinsberg, die auf ausgebauten, meist asphaltierten und durchgängig beschilderten Radwegen verläuft, erlebe ich die mystische Seite der Mark Brandenburg: glasklare Seen, um die sich dichte Mischwälder drängen; Äcker, aus denen sich märkischer Feldstein bohrt. Es wird Abend, als ich die Residenzstadt Rheinsberg erreiche. Ich trinke einen Kaffee auf der Terrasse des altehrwürdigen Ratskellers und genieße den Blick auf das am Ostufer des Griene­ricksees ruhende Rokokoschloss.

Hellwach trete ich am nächsten Morgen in die Pedale, durchfahre die Kyritz-Ruppiner Heide in westlicher Richtung und erreiche schließlich die Bahnstation Netzeband. Die Morgensonne brennt, während ich auf die Regionalbahn der Linie 6 warte, die mich und mein Rad weiter in das rund 160 Kilometer nordwestlich von Berlin gelegene Wittenberge bringt. In der alten Handels- und Hafenstadt angekommen, stärke ich mich am Mittagstisch einer offensichtlich stadtbekannten Metzgerei.

Dann rolle ich den Elbdeich hoch: Der asphaltierte, im Prignitzer Abschnitt unmittelbar dem Flusslauf folgende Elberadweg führt mich vorbei an urwüchsigen Eichen und Eschen, mitten durchs Biosphärenreservat Flusslandschaft Elbe-Brandenburg. Schließlich erreiche ich in Rühstädt ein Besucherzentrum, das sich reizend in die Auenlandschaft einfügt.

Mehr Wassertouristen gewünscht

„Ohne Auto? Allemal!“, mit Bahn und Rad fährt auch Jan Schormann täglich ins Büro. Der Berliner Landschaftsplaner kümmert sich im Biosphärenzentrum um nachhaltigen Tourismus. „In erster Linie will ich den Wassertourismus auf der Elbe ankurbeln, der Fahrradtourismus klappt ja schon ganz gut“, lacht er. Allen voran die Berliner sollen die Havel hochpaddeln und mit Kanu oder Kajak die Elbe erobern.

„Länderübergreifende Planungen sind in unserer extrem dünn besiedelten Region sehr wichtig“, erläutert die stellvertretende Leiterin des Zentrums, Heike Garbe, das Konzept. Fünf Bundesländer haben teil am Biosphärenreservat entlang der Elbe. Wir schauen von der Terrasse des Besucherzentrums in die Auwälder – in der Abend­sonne gleicht die Landschaft einem Gemälde Caspar David Friedrichs.

„Bis Havelberg reicht mein Horizont“, Hans-Adolf Nickel streicht sich dau­mendick Butter aufs Brot und schmunzelt, „nicht weiter.“ Kurz vor dem Mauerbau war er dennoch in den Westen geflohen. Nach der Wende kam er sofort zurück. Mit Ehefrau Heidi, unüberhörbar eine waschechte Hamburgerin, bewirtschaftet er nun in seiner alten Heimat einen geschmackvoll restaurierten Ferienbauernhof in Klein Lüben, einem Ortsteil von Bad Wilsnack. Wohn- und Gästehaus heizt ein wuchtiger Holzvergaserofen. „Öl? Wozu? Wir haben doch unseren eigenen Wald hinterm Haus.“

Natur gemeinsam erleben

Die Nickels haben sich mit weiteren ökotouristischen Partnern vernetzt. Sie sind mit ihrem Ferienbauernhof dem Verband zur Förderung des ländlichen Raumes im Land Brandenburg „pro agro“ beigetreten. „Wir bieten Qualifizierung und Zertifizierung für Landurlaubsangebote an“, sagt pro-agro-Ver­bandsgeschäftsführer Gerd Lehmann, „denn nur geprüfte Qualität wird neue Gäste ins Haus bringen und Stammgäste auf Dauer halten können.“ In erster Linie will der Verbandschef Familien und aktive Gruppenreisende erreichen: „Das Erlebnis Natur ist gemeinsam in der Familie oder einer Gruppe besonders nachhaltig, weil es viel Gesprächsstoff gibt und jeder die Natur anders erlebt.“ Die Nickels freuen sich natürlich trotzdem über jeden einzelnen Gast, wie sie mir bei meiner Abreise versichern.

Foto: Jörg RöderRadtouristen wissen Brandenburg bereits zu schätzen.

Tag drei meiner Brandenburg-Tour verbringe ich fast 100 Kilometer von früh bis spät auf dem Rad. Zunächst geht es wieder hoch auf den Elbdeich, zurück auf den Elberadweg, der an der Mündung der Havel in den Havelradweg übergeht. Von hier, bei Quitzöbel, sind es noch rund 20 Kilometer bis Havelberg, von wo aus der Weg in südöstlicher Richtung tief in den Naturpark Westhavelland hineinführt.

Das größte Schutz­gebiet Brandenburgs liegt rund 70 Kilo­meter westlich von Berlin. ­Zwi­schen Rathenow und meinem Etappenziel, Brandenburg an der Havel, verlaufen die Radwege größtenteils entlang der Landstraße, weshalb ich entscheide, für das letzte Stück wieder die Schiene im Verkehrsverbund Berlin-Brandenburg zu nutzen.

Müde, aber zufrieden checke ich nach Sonnenuntergang in meiner Unterkunft ein, die ironischerweise „Zum Faulen Hund“ heißt. In dem Appartement, das größer als unsere Wohnung in Berlin zu sein scheint, verliere ich mich fast und vermisse Frau und Tochter, die aber fürs Wochenende versprochen haben nachzukommen. Mit dem Regionalexpress 1 steuere ich am nächsten Morgen Werder an der Havel an und reise meiner Familie damit ein Stück entgegen.

Der pro-agro-Verband informiert in seinem Ausflugsplaner über Hofläden, Märkte und Gasthöfe. Die Erzeuger von Obst und Gemüse in Brandenburg sind gut vernetzt und ihre Produkte begehrt. Mehr als 60 Direktvermarkter setzen auf das Biosiegel.

Alles aus Sanddorn

Auch Christine Berger mit ihrer Sanddornproduktion ist dabei. Frau Berger kennt rund um Werder an der Havel jedes Kind. Darauf angesprochen schmunzelt die erfolgreiche Geschäftsfrau. „Ach, die Berger“, seufzt sie süffisant in Erinnerung an den Klatsch im Dorf nach der Wende, „lass die mal machen, haben alle gesagt und gelacht.“ Heute leitet Christine Berger ein florierendes Unternehmen mit 18 Mitarbeitern. Sie hat sich auf die Verarbeitung von heimischem Sanddorn spezialisiert und sich in einer ­ehemaligen Gärtnerei einen Frucht-Erlebnis-Garten mit Hofladen und eigenem Restaurant aufgebaut. Es gibt Sanddornweine und -fruchtaufstriche, Sanddornlikör und Bio-Fruchtbärchen mit Sanddorngeschmack, alles aus eigener Produktion.

Foto: Jörg RöderEin Teil der „Wasserstadt“ Werder liegt auf einer Insel. Schwielowsee, Glindowsee, Großer Plessower See und Zernsee sowie ein Teil der Havel umsäumen das Stadtgebiet.

Am Bahnhof Bad Belzig, eine Bahnstunde südwestlich von Berlin, habe ich am nächsten Tag endlich meine Familie wieder. Gut gelaunt schiebt meine Frau ihr Fahrrad mit Kindersitz aus dem Radfahrabteil des Regionalexpress der Linie 7, die Kleine an der Hand. Ich hatte mich mit dem Rad durch den Naturpark Ho­her Fläming hierher aufgemacht.

Ein Teilstück läuft auf dem internationalen Fernradweg R1, der von der Atlantikküste bis zu den masurischen Seen in Polen führt. So habe ich auf meiner Fahrradfahrt die wunderschönen Belziger Landschaftswiesen kennengelernt. Zusammen rollen wir auf einer von Autos kaum befahrenen Straße durch einen Kiefernforst bis nach Groß Briesen, wo wir im gleichnamigen Reiter- und Erlebnisbauernhof erwartet werden.

Alles ist erreichbar

„Auf einem Pony reiten, unsere Tochter?“ Die ist doch noch viel zu klein! Während im Speisesaal an diesem sonnigen Samstagmorgen duftender Kaffee serviert wird, gelingt es der Managerin, uns Eltern zu überzeugen. Etwas ängstlich nehmen wir nach dem Mittagessen das Halfter vom Haken und stapfen quer über die Koppel. Schon am Zaumzeug erkennt die jugendliche Reitlehrerin, zu welchem Pferd wir wollen: „Kieck an, du bist also die Kleene mit dem Benny.“ Unsere Tochter strahlt. Hinter dem hintersten Heuhaufen lugt ihr neuer Freund hervor.

Dann trottet das winzige Shetlandpony neben uns her zum Dressurplatz. Stolz, gar nicht ängstlich lässt sich unsere Tochter auf Bennys Rücken im Viereck führen. Mama und Papa haben derweil Zeit, den frischen Kuchen der Hofbäckerei zu kosten. Erst am späten Samstagnachmittag radeln wir die zehn Kilometer zurück nach Bad Belzig.

Foto: Jörg RöderNicht zu klein fürs Shetland-Pony: Während Töchterchen reitet, gibts für die Eltern Kaffee und Kuchen.

Der Verkehrsverbund Berlin-Brandenburg wirbt mit dem Slogan „Alles ist erreichbar“. Pro-agro-Chef Gerd Lehmann sagt allerdings: „Die öffentlichen Verkehrsmittel bringen nicht jeden Gast bis zu jedem Ziel im ländlichen Raum. Vielmehr müssen Anbieter und Reiseveranstalter pfiffige Kombinationen aus ÖPNV und individuellen Lösungen finden.“

Zwischen den Tarifgebieten Potsdam-Mittelmark, zu dem die ­Fläming-Region zählt, und der Oberspreewald-Lausitz, unserem nächsten Ziel, müssen wir zwar viermal umsteigen, einmal von der Deutschen Bahn auf einen Konkurrenzanbieter und wieder zurück zur DB.

Wir stellen jedoch fest: Auch mit zwei Fahrrädern und einem dreijährigen Kind ist das im Liniennetz des Regionalverkehrs Berlin und Brandenburg kein Problem. Wir fahren mit dem R 7 bis Michendorf im Süden Berlins und steigen dort in den R 22, der uns zur Bahnstation Flughafen Berlin-Schönefeld bringt. Von hier aus geht es mit dem R 2 ins Biosphä­renreservat Spreewald, rund 100 Kilometer von Berlin im Südosten Brandenburgs gelegen.

Eine Fahrradtour führt uns auf dem „Gurkenradweg“ über gut ausgebaute, as­phaltierte Pisten von Lübbenau in ein Gebiet, das mit seinen unzähligen Wasserwegen als Auen- und Moorlandschaft für den Naturschutz überregionale Bedeutung besitzt. Hauptmerkmal sind die natürlichen Flussverzweigungen der Spree, die, durch Kanäle deutlich erweitert, zum Irrgarten für Wasserwanderer wurde.

„Wer hier ertrinkt, ist zu faul zum Stehen!“, ruft uns der Bootsverleiher am Sonntagmorgen nach. Womöglich, weil wir gleich nach dem Ablegen bestenfalls unkoordiniert im seichten Wasser paddeln. Von den umstehenden Touristen ernten wir mitleidige Blicke, hören aufmunternde Worte. Hinter dem nächsten Abzweig sind wir endlich allein. Auf unserer Tagestour im Dreierkanu werden wir mit jedem Meter auf den Kanälen etwas besser und schaffen es schließlich, das Kanu in der Spur zu halten. Erlen, Eschen und Ulmen säumen die Ufer der Kanäle und verflechten sich zu einem grünen Blätterdach. Das Wasser glitzert in der Sonne. „Schau, da windet sich eine Ringelnatter durch das kühle Nass.“

Nach einer letzten Nacht im Spreewald, keine 24 Stunden später, schlängeln wir uns geübt durch den steten Strom der Berufspendler. Montagmorgen, Berlin Hauptbahnhof.

Jörg Röder

fairkehr 5/2023