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Ein Pfad führt über eine grüne Alm
Ein Junge gießt Pflanzen, die in einer Holzkiste wachsen
Eine Seilbahngondel schwebt über eine dicht bebaute Stadt

Reise 2/2011

Bis ans Ende der Welt

Heißer Tee und Birken – wie eine Reise mit der Transsibirischen Eisenbahn das Zeitgefühl verändert.

Foto: Carmen EllerUnd draußen zieht die Welt vorbei: Von Moskau bis Wladiwostok ist man gut sechs Tage unterwegs.

Streng blickt die Schaffnerin mit den kirschroten Lippen auf mein Zugticket. Während sie noch den Pass kontrolliert, betrachte ich verstohlen ihre gestärkte Uniform und die fliederfarbenen Lider. „Okay“, sagt sie dann und winkt mich in den Zug. Dann ist der nächste Passagier an der Reihe. Alles geht hier an den Moskauer Gleisen so ernst vonstatten, als gelte es, die Grenze in ein anderes Land zu passieren. Tatsächlich startet hier am Jaroslawler Bahn­hof eine Reise durch Russland, die viel mehr bedeutet, als von A nach B zu kommen. A – das ist Moskau, die Weltmetropole, in der die Menschen im Zeitraffer leben. B – das ist Wladiwostok, die Hafenstadt am Japanischen Meer, der östliche Endpunkt der Transsibirischen Eisenbahn. Dazwischen entsteht ein neues Zeitgefühl.

Mit einem kurzen Ruck und langem Ächzen setzt sich der Zug in Bewegung. Die Transsibirische Eisenbahn ist die längste durchgehende Bahnverbindung der Welt. Die Reise auf Schienen verläuft über zwei Kontinente, 9288 Kilometer und sieben Zeitzonen. Auf der Route liegen Großstädte wie Perm, Jekaterinburg, Omsk, Nowosibirsk, Irkutsk, Ulan-Ude oder Chabarowsk. Insgesamt gibt es knapp 400 Bahnhöfe auf der Strecke. Ohne Aufenthalt an den Zwischenstopps ist man gut sechs Tage unterwegs. Viele Passagiere steigen aus, bevor der Zug im Fernen Osten Russlands zum Stehen kommt. Wladiwostok mutet auf der Landkarte an wie das Ende der Welt.

Was den Bewohnern der Metropole Moskau oft fehlt, bietet die Zugreise im Überfluss: Gemütlichkeit und Zeit. Hier kann ich in die Welt der russischen Romane eintauchen, die so umfangreich sind, als hätten Tolstoi und Dostojewski sie speziell für Transsib-Reisende geschrieben.

Passagiere im Morgenmantel

Über Brücken, durch Tunnel und endlose Wälder rattert der Zug Tag für Tag durch die russische Landschaft. Irgendwann hört der Reisende die Räder nicht mehr. Von Nacht zu Nacht schlafe ich tiefer und gewöhne mir ab, auf die Uhr zu schauen. Zum einen ist der nächste Stopp meist noch Stunden entfernt. Zum anderen ändert sich ständig die Ortszeit, je nachdem wo der Zug gerade Station macht. Das spielt aber keine Rolle, denn für Bahnfahrer gilt in ganz Russland die Moskauer Zeit. Sie steht auf jedem Ticket, ganz egal, ob man es in Wladiwostok oder Chabarowsk löst. Die Natur ersetzt die Uhr. Morgenröte und Mittagssonne, Dämmerung und Sonnenuntergang bestimmen den Rhythmus der Reise.

Foto: Carmen EllerBei den Zwischenstopps können sich die Reisenden am Bahnsteig mit selbstgemachten regionaltypischen Gerichten verpflegen.

Für fünf Rubel gibt es Teebeutel bei der Schaffnerin. Auch sie hat rote Lippen und geschminkte Lider. Das Glas mit dem heißen Tee stellt man in schöne Messingbecher mit verschnörkeltem Henkel. Alle paar Stunden laufe ich zum Wasserspender. Bald verbinde ich das Reisen mit der Transsib vor allem mit zwei Dingen: heißer Tee im Bauch und Birken vor dem Fenster. Tagelang nur Birken.
Die Waggons sind Küche, Wohn- und Schlafzimmer in einem, die Zugtoilette dient auch als Badezimmer. Die Russen schlurfen in Hausschuhen über die Gänge und manche auch im Morgenmantel. Frauen tragen Turbane aus Handtüchern über frisch gewaschenen Haaren. Männer mit nacktem Oberkörper paffen Zigaretten am Zugfenster.

Durch die Wetterküche Sibiriens

Das Beste am Zugfahren sind die Bekanntschaften mit den reisenden Russen. Zum Beispiel Alexander und Alja, die mit der Transsib zurück in ihre Heimat Wladiwostok fahren. Das ältere Paar hat den kleinen Klapptisch am Fenster reichlich gedeckt. Es gibt Pilzkuchen und Pelmeni, gefüllte Teigtaschen. Dazu schottischen Whisky. Alexander hebt sein Glas: „Sa snakomstwo, auf das Kennenlernen.“ „Wir kennen Moskau nur aus dem Fernsehen“, sagt Alja und bietet mir eingelegte Erdbeeren an. „Einmal im Leben möchte ich über den Roten Platz spazieren, aber die Reise dorthin ist zu teuer.“ Ihr Mann nickt. „Wenn Geld kein Thema wäre, wären wir auch nicht tagelang mit dem Zug gefahren, um eine Hochzeit am Baikalsee zu besuchen.“ Mit lautem Zischen öffnet er eine Dose Sibirskaja Korona. „Fliegen kostet einfach zu viel.“

Alexander schneidet sich ein Stück Pilzkuchen ab. „Die Ehe ist auch wie eine lange Zugreise. Man weiß nicht, was unterwegs passieren wird. Aber wissen Sie, was am wichtigsten ist?“ Der korpulente Russe schaut mich eindringlich an: „Dass man ein gemeinsames Ziel hat.“

Zurück im eigenen Abteil lese ich über das vorläufige Ziel meiner Reise: Wladiwostok. Russlands Ferner Osten ist einer der letzten Refugien des Amurtigers, der auch das Stadtwappen von Wladiowstok ziert. Wer Zeit und Geld hat, kann von hier aus Flüge in ein russisch-amerikanisches Tigerreservat buchen.

Foto: Carmen EllerSieben Zeitzonen und 9300 Kilometer Distanz trennen Wladiwostok, die russische Hafenstadt am Pazifik, von Moskau.

Den schönsten Anblick aus dem Abteilfenster bietet der Baikalsee, die „Wetterküche Sibiriens“. Die Einheimischen nennen ihn auch ehrfürchtig das „heilige Meer“. Mit rund 1630 Metern ist er der tiefste und mit rund 25 bis 30 Millionen Jahren der älteste See der Welt. Wer ihn ausgiebig erkunden will, sollte bei Taischet auf die nördliche Transsib umsteigen, die Baikal-Amur-Magistrale. Mit der BAM, wie sie kurz genannt wird, kommt man beispielsweise nach Sewerobajkalsk an der Nordspitze des Baikalsees.

Im Gegensatz zur flachen Einöde, die sich dem Reisenden auf der südlichen Transsib bietet, führt die nördliche BAM an einer praktisch unberührten Gebirgs- und Flusslandschaft vorbei. Manchmal sind die Schienen so nah am Wasser gebaut, dass man über die riesigen Ströme zu schweben glaubt. Wenn die Lok die Gebirgsflanken hochschraubt, fliegen die Blicke über die endlosen grünen Täler der Taiga, durchzogen von glitzernden Seen und Flüssen, in denen sich Himmel und Erde spiegeln.

Immer wieder stoppt die Transsib an maroden Bahnhöfen. Manchmal umringen Kinder mit verfilzten Haaren die Reisenden und betteln um Rubel. Häufig verkaufen alte Frauen selbstgemachte Pelmeni, eingelegtes Gemüse oder geräucherten Fisch. Ein Gaumenschmaus. Meist dauert die Rast rund 15 Minuten, dann rollt der Zug weiter. Stunden und Tage vergehen. Dann ist es irgendwann so weit. Vor meinem Fenster kommt Wladiwostok in den Blick. Schon aus dem Abteil sehe ich das Meer. Die Stadt besitzt einen morbiden Charme, so, als habe sie ihre besten Tage bereits hinter sich. Graue Sowjetarchitektur, so weit das Auge reicht. Bis 1991 war Wladiwostok für Ausländer nicht einmal zugänglich. Als ich das schwere Gepäck aus dem Waggon hieve, brennt die Sonne auf meine Haut. So warm hätte ich mir das Ende der Welt nicht vorgestellt.

Carmen Eller

Informationen zur Reise

Berlin ist das Tor zum Osten. Von dort starten dreimal die Woche Züge über Minsk nach Moskau. Ab Düsseldorf/ Dortmund und Basel/Frank­furt besteht täglich eine direkte Kurs­wagenverbindung nach Moskau. Die Berliner Bahnagentur Gleisnost verkauft auch Transsib-Tickets.

Wer Spaß an Individualreisen und Mut zum Abenteuer hat, kann die Tickets für die Transsibirische Eisenbahn direkt in Moskau kaufen. An den Bahnhöfen der größeren Städte lassen sich auch kurzfris­tig Privatunterkünfte finden.

Vor einer solchen Reise sollte man jedoch möglichst Grundkenntnisse der russischen Sprache erwerben. Organisierte Transsib-Reisen für Gruppen und Einzelpersonen bieten etwa der Schweizer Veranstalter Globotrek oder GO EAST.

Wer die Reise nutzen will, um Russisch zu lernen oder seine Kenntnisse zu vertiefen, kann sich an Perelingua wenden.

Virtuell von Moskau nach ­Wladiwostok: Ganz umsonst und ohne den heimischen Sessel verlassen zu müssen, kann man unter der Internetadresse www.google.ru/transsib die Reise mit der Transsib antreten. 200 Stunden Zugfahrt wurden aus dem Abteilfenster gefilmt. Zu den bewegten Bildern von Städten und Landschaften hört man wahlweise klassische Musik, russisches Radio oder auch Literatur im Original, etwa Lew Tolstois Roman „Krieg und Frieden“.

Buchtipps

Als Lektüre für die Zugreise nach Moskau oder für die Reise im Kopf: Unsere Autorin Carmen Eller hat das Buch „Ein Jahr in Moskau. Reise in den Alltag“ geschrieben. Erschienen im Herder Verlag, Oktober 2010, 192 Seiten, 12,95 Euro

Das Handbuch "Outdoor" aus der Connexions-Reihe des Peter Meyer Verlags ist perfekt für alle Aktivitäten unterwegs und in der Natur, in Städten und bei der Begegnung mit Menschen. Wer weit reist, sollte diesen Nothelfer gegen Pleiten, Pech und Pannen vorher studiert haben. Peter Meyer Verlag 2010, 256 Seiten, 19,95 Euro

 

fairkehr 5/2023