fairkehr VCD-Magazin für Umwelt, Verkehr, Freizeit und Reisen

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Ein Pfad führt über eine grüne Alm
Ein Junge gießt Pflanzen, die in einer Holzkiste wachsen
Eine Seilbahngondel schwebt über eine dicht bebaute Stadt

Titel 6/2010

Du kannst nicht immer 70 sein

Über 60-Jährige sind heute so mobil wie noch nie, und sie wollen so lange wie möglich selbständig unterwegs sein – auch gern mit dem Auto. Das könnte sich als Bumerang erweisen.

Foto: Marcus Gloger

Sie ist 73 Jahre alt und wird immer schneller. Die Japanerin Noriko Iida hat in diesem Frühjahr zum dritten Mal am Sahara-Marathon teilgenommen. Sieben Tage haben die Läufer Zeit, um die fast 250 Kilometer lange Strecke in Südmarokko zu bewältigen. Bei 40 Grad schleppen sie Schlafsack und Verpflegung durch eine fast schattenlose Landschaft, in der sie immer wieder Sand­dünen und steinige Abschnitte überwinden müssen. 70 Stunden, 5 Minuten und 38 Sekunden hat Noriko Iida diesmal für den Parcours gebraucht – dann war die frühere Grundschullehrerin im Ziel. „Ich habe mich beim Laufen so gut gefühlt – das Alter spielt einfach keine Rolle“, sagte sie anschließend.

Noriko Iida ist zwar ein Extrembeispiel. Doch die althergebrachten Klischees vom Opa im Schaukelstuhl und der Oma am Ofen mit Gugelhupfform treffen die Realität ihrer Generation ebenso wenig. Die eigene Mobilität ist Senioren von heute überaus wichtig: Mehr als jeder vierte Mann zwischen 60 und 70 gibt an, regelmäßig zu joggen – Mitte der 80er Jahre waren es gerade einmal fünf bis acht Prozent. Noch nie hatten so viele Ältere einen Führerschein, und inzwischen ist jeder vierte urlaubsreisende Erwachsene älter als 60.

Wer ist eigentlich alt?

Doch was soll man überhaupt unter der „älteren Generation“ verstehen? Für die OECD gelten bereits Menschen ab 45 als „ältere Arbeitnehmer“. Dagegen sehen sich viele 65-Jährige als viel zu jung, um in Rente zu gehen. Etwa die Hälfte der 79-Jährigen bezeichnen ihre Gesundheit als zufriedenstellend oder sogar sehr zufriedenstellend – als altes Eisen empfinden sich die meisten nicht.

Relativ einfach ist es, beim Thema Alter die Geburtsdaten als biologische Tatsache zugrunde zu legen. Demnach sind wir unbestreitbar eine alternde Gesellschaft. Während heute die Gruppen der 50- bis 70-Jährigen und der 20- bis 40-Jährigen jeweils etwa ein Viertel der Bevölkerung stellen, werden im Jahr 2023 etwa 32 Prozent zur älteren Kohorte zählen. Hinzu kommt die sogenannte vierte Generation ab 70, die ebenfalls größer wird – nicht nur weil die geburtenstarken Jahrgänge irgendwann diese Altersgrenze erreichen, sondern weil die Lebenserwartung in industrialisierten Ländern weiter zunimmt. Wer als Mann die Rente erreicht hat, erlebt heute in der Regel noch mindestens seinen 75. Geburtstag, Frauen dürfen sogar damit rechnen, an die 90 zu werden. Die meisten Demografen gehen davon aus, dass die Lebenserwartung weiter wächst.

Seniorenteller ist Auslaufmodell

Zur älteren Generation zu zählen, gar als alt bezeichnet zu werden, entspricht in keiner Weise der Selbstwahrnehmung dieser Menschen. Der „Seniorenteller“ im Restaurant ist ein Auslaufmodell. Auch die Vorstellung, ältere Frauen sollten gedeckte Farben tragen und wären nach den Wechseljahren sowieso asexuelle Wesen, hat sich überlebt.

In punkto Autofahren veränderte sich die Realität in den letzten Jahren ebenfalls deutlich: Hatte kurz vor der Wiedervereinigung weniger als die Hälfte der Rentner unmittelbaren Zugriff auf ein Auto, so verfügen heute 80 Prozent der Ende 60-Jährigen über einen Pkw. Für die meisten ist es gar keine Frage, dass sie sich auch in höherem Alter noch hinters Steuer klemmen. So berichtet der frühere Rock’n’Roll-Star und begeisterte Autofahrer Peter Kraus, dass er auch mit 71 noch jährlich 40.000 Kilometer mit dem eigenen Auto durch die Gegend kurvt.

Individualität und Autonomie sind hohe Werte dieser Generation. Entsprechend wehrt sich die Mehrheit der über 70-Jährigen gegen den Vorschlag, regelmäßige Fahrtests für ihre Altersgruppe vorzuschreiben. Die Möglichkeit einer freiwilligen Teilnahme findet sie dagegen gut, wie eine kürzlich veröffentlichte Studie der Verkehrswachtstiftung Niedersachsen belegt. Zwar räumen viele Ältere ein, auf dem Beifahrersitz neben einem über 70-Jährigen schon mal Angst verspürt zu haben. Je älter die Fahrer werden, umso häufiger sind sie bei einem Unfall auch die Hauptverursacher. Ab 75 Jahren zu fast 80 Prozent – also in vier von fünf Fällen. Doch eine vom ADAC herausgegebene Statistik belegt auf der anderen Seite, dass Senioren unterdurchschnittlich oft Unfälle mit Verletzten oder gar Toten verursachen.

Ohne Zweifel hilft ihnen ihre lange Fahrpraxis, viele schwere Fehler auszugleichen. Und die Autoindustrie bemüht sich nach Kräften, die nachlassende Reaktionsgeschwindigkeit und Sehkraft durch neue Hilfselektronik wie Einparksignale auszugleichen. Kurz vor der Serienreife stehen sogenannte Kreuzungsassistenten. Sie sollen Vorfahrtfehler vermeiden helfen, die bei über 65-Jährigen doppelt so häufig vorkommen wie bei jüngeren Fahrern.

Im besten Alter mobil

Solche Neuerungen an Mann und Frau zu bringen, ist im Prinzip nicht schwierig, denn die Generation „Ü 50“ verfügt über viel Geld. Wie in der Gesamtgesellschaft ist der Reichtum zwar zunehmend ungerecht verteilt, und insbesondere unter den Frauen gibt es viele mit winzigen Renten. Doch insgesamt kann die ältere Generation in Deutschland als überdurchschnittlich wohlhabend gelten. Zugleich legt sie weniger auf die hohe Kante als früher ihre Eltern.

Foto: iStockphoto.comDie heutigen Rentnerinnen und Rentner sind ausgesprochen reisefreudig. Vor allem ­Alleinstehende lassen sich einen Urlaub wesentlich mehr kosten als jüngere Leute.

Kein Wunder also, dass sich die Werbewirtschaft inzwischen um sie bemüht. Während bis vor kurzem allein die 14- bis 49-Jährigen als „werberelevante Jahrgänge“ galten, widmen sich die Agenturen zunehmend den ab 50-Jährigen, die sie als „Best Ager“ bezeichnen. Auch die rüstigen Rentner bis 75 geraten zunehmend ins Visier der Branche – wobei die Models in der Reklame immer mindestens zehn Jahre jünger sein sollten als das Zielpublikum, um deren gefühltem Alter zu entsprechen.

Die heutigen Rentner sind ausgesprochen reisefreudig – und vor allem alleinstehende Senioren lassen sich einen Urlaub wesentlich mehr kosten als jüngere Leute, wie der 5. Altenbericht der Bundesregierung belegt. Neben Fernzielen stehen auch Wellnessreisen hoch im Kurs. Dagegen gelten Reiseangebote für Pflegebedürftige als noch zu beackernder Wachstumsmarkt.

Ältere auf dem Land abgehängt

Die heutige Autonomie und Mobilität der alternden Generation könnte sich irgendwann als Bumerang erweisen – nämlich dann, wenn viele nicht mehr selbst Auto fahren können.

In den vergangenen Jahrzehnten wurde die Infrastruktur immer stärker auf den Individualverkehr ausgerichtet. Schon heute können acht Millionen Menschen in Deutschland den nächsten Lebensmittelladen nicht mehr zu Fuß erreichen. Insbesondere in ländlichen Regionen und in Ostdeutschland müssen Patienten weit fahren, um einen Arzt zu erreichen. Zwar tüfteln Verkehrswissenschaftler an Lösungen wie Anrufsammeltaxis und anderen flexiblen Transportmöglichkeiten. Doch angesichts zunehmend leerer öffentlicher Kassen und einer schrumpfenden jungen Generation könnten vor allem die Alten auf dem Land irgendwann abgehängt werden.

Vielleicht macht aber auch hierzulande ein Trend Schule, der seit einigen Jahren in den USA zu beobachten ist: Rentnersiedlungen. In Sun City in Arizona dürfen sich nur über 55-Jährige ansiedeln. Die Infrastruktur ist ganz auf die Sport-, Ruhe- und Pflegebedürfnisse der etwa 40.000 Bewohner abgestimmt. Kinderwagen und Kinderfahrräder sieht man hier nicht.

Annette Jensen

fairkehr 5/2023