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Ein Pfad führt über eine grüne Alm
Ein Junge gießt Pflanzen, die in einer Holzkiste wachsen
Eine Seilbahngondel schwebt über eine dicht bebaute Stadt

Service 6/2010

Neue Freiheit

Gerade frisch aus dem Schuldienst in die Rente entlassen, meldete sich Maria E. Heising in einem Radfahrkurs an. Die Frankfurterin beschreibt ihr Glück, endlich sicher und angstfrei Rad fahren zu können.

Foto: Asja CaspariZu Beginn des Kurses lässt Radfahrlehrer Christian Burmeister seine Schülerinnen Roller fahren.

Alter Flugplatz Frankfurt-Bonames: 65-Jährige flitzt mit dem Roller immer wieder vorsätzlich durch Pfützen und scheint auch noch höllischen Spaß dabei zu haben! – Reif für die Anstalt? So geschehen am 12. August 2008.

Die Geschichte beginnt aber sehr viel früher, nämlich im Sommer 2007, als ich in der „Hessenschau“ eine Sendung über einen Radfahrkurs am Alten Flugplatz sehe und denke: „Das wäre genau das Richtige für mich!?“ In der Nachkriegszeit aufgewachsen mit einem kleinen Holzroller, sehr viel später – da sind heutige Jugendliche schon in der Pubertät – einen der ersten Roller mit Ballonreifen besessen, im Kopf Träume von Rollschuhen und, gar nicht gewagt zu Ende zu träumen, von einem Fahrrad. Das hatten nur die Jungs, der große und später der kleine Bruder.

Der Wunsch, "es" endlich zu können

Radfahren „gelernt“ habe ich mit 30 – für die Gesundheit. Ein Klapp­rad, immer wieder mit dem Auto irgendwohin transportiert und begeistert gefahren – auch mal große Leihräder oder ein Tandem: Holland, Nordsee, Wattenmeerküste, Wind in den Haaren, herrlich – solange das Ding nur rollte. Beim Bremsen dagegen immer vorher schon Filme im Kopf gehabt, manchmal tatsächlich irgendwo gegengedonnert vor Angst, mehr­mals an Mauern entlanggeschrappt, oft schon Meter vor Kreuzungen abgesprungen, ohne Vorwarnung scharf gebremst, mit Kopfschütteln reichlich bedacht! Kurz vor dem Fahrradkurs habe ich erfahren, dass man (frau) mit der Handbremse bremsen darf, ohne sich zu überschlagen – wirklich?

Dann: Alter Flugplatz August 2009. Das als Kind ausgekostete Gefühl, auf dem Roller zu gleiten. Rauf und runter ohne Probleme, rechts, links, Kurven, Kreise, ein Superspaß! Anlauf und dann mit beiden Beinen obendrauf durch die Pfütze! Nicht zu beschreiben, wie schön das ist! Und mit dabei all die anderen: Hildegard, Renate, Ellen, Rita, Inge, Fareda, Gül, Anita und Antonia. Jede mit ihrer eigenen Fahrradgeschichte, alle für zwei Wochen zusammengeschweißt durch den Wunsch, „es“ endlich zu können. Und dann natürlich unser Radlehrer Christian: Wie ein Fels in der Brandung, nordseesturmerprobt. Als Pädagogin kann ich nur sagen: Der machte seine Sache super! Ermutigung, Bestätigung, Didaktik – so einen Schwimmlehrer als Kind, und ich könnte sicher anständig schwimmen.

Foto: Marie-Odile HeisingMaria E. Heising fährt jetzt fast täglich Fahrrad, denn geschmeidiges Radfahren braucht viel Übung. Und natürlich macht es Spaß.

Nach dem Roller kommt dann für zwei Tage das Laufrad dran. Vorher natürlich der Muskelkater von der ungewohnten Betätigung am Vormittag. Ja mal ehrlich: Wer kann sich das vorstellen? Wie niedlich die kleinen Zweijährigen immer mit dem Laufrad durch die Gegend flitzen. Ich muss oft stehen bleiben und zuschauen, ihr Gesicht sagt: „Ich kann’s, soooo schnell, wie toll!” Zum Laufrad kam Wind, dass die Fahnenstangen klapperten, ab und zu auch Regen. Der machte aber niemandem was aus. Genauso wenig wie die Stürze, die sich nicht immer vermeiden ließen.

Ganz schön zäh und mutig war’n da einige – mit Christians psychologischem Geschick. Mit dem Laufrad gab’s nun wie schon mit dem Roller ganz viele Spiele: Mit einem Bein oben, dann mit dem anderen Bein, mit beiden Beinen, mit ei­nem Bein Kreise in die Luft malen, dann Namen schreiben, Anlauf mit Rollenlassen, hin zur Wand, weg davon, mit dem Lenker wackeln, auch mal eine Hand loslassen, Melodien im Kopf summen und vor allem Kurven, Kurven, Kurven. Denn geradeaus fährt das Rad von allein, sagt Christian. Komisch, bei mir waren die Rechtskurven leichter, bei anderen war’s genau umgekehrt. Aufsteigen, losfahren, absteigen, lernen, nach welcher Seite das Rad sich neigt, wenn man den Lenker rechts oder links einschlägt, dadurch nicht vom Rad umgerissen werden. Dann die vielen schönen Linien und Kurven, die Hütchen und Seile langfahren, umfahren, überfahren, abbremsen, an-­einander vorbeifahren, alles mal ernst, mal lustig, immer mit Lerneffekt.

Rollenspiele auf Rädern

In der zweiten Woche gibt’s dann „richtige“ Räder, große, kleine, immer mal im Wechsel, bis jeder sein „Lieblingsrad“ hat und damit geht’s richtig los. Am ersten Tag Runden, Runden, Runden. Nun lässt Christian der Rollenspiel­fantasie freien Lauf: „Ihr seid Kinder, coole Halbwüchsige, Flegel, hochnäsige Damen, Hamburgerinnen, Omas, tatterige Herren, verschlafen …“ Der Trick dabei: Man kann den inneren Gruselfilm vom Stürzen vergessen, den man (frau) jahrelang im Gepäck hatte. Dann geht’s mit innerem Pfeifen und Singen, ran an die Kante, weg von der Kante.

Um die 90-Grad-Kurven heißt es immer „Schwuppdiwupp“ – Trick 17: „Erst kurz in die Gegenrichtung lenken, dann lässt sich das Rad fast von alleine in die gewünschte Richtung lenken.“ Echt gut! Schon ganz schön weit sind wir, als wir durch eine immer enger werdende Gumischnurgasse am Ende zwischen zwei Mülltonnen durchmussten – nee, ganz falsch, wir sollen ganz lässig fahren und am Ende entscheiden: Fahr ich durch oder halt ich an. Pffff, die Luft raus, Gelassenheit stellt sich ein statt dem inneren Film: „Oje, ein Durchgang, ich fahr sicher dagegen, dagegen, dagegen.“ Immer wieder mal ein Donner (nein, kein Gewitter!), selten jemand, der zu Boden geht. Dann den gelernten Frauenautomatismus vergessen: „Oh Gott, oh Gott, schnell die arme Kollegin aufheben!” Sie soll Zeit haben, sich selbst aufzurappeln, wieder auf die Beine zu kommen.

Foto: Asja CaspariDie Erwachsenen holen in den Radfahrkursen einen Teil ihrer Kindheit nach – das Radfahren lernen sie quasi nebenbei.

Zwischen den einzelnen Übungen immer wieder in den Kreis kommen, neue Anweisungen erhalten. Die Stunden vergehen im Flug. Dann kommt der letzte Tag: Wer sich traut, darf mit zur Ausfahrt an die Nidda. Nochmal wieder ganz neu, den Schutzraum Flugplatz verlassen. Schade, dass gerade die eifrige Hildegard dabei stürzt, ich hoffe sehr für sie, dass sie später weitergemacht hat.

Von mir kann ich sagen: Am Wochenende drauf „Führerschein“ mit 30 Kilometern Radtour am Mainufer von Offenbach bis Mühlheim. Sonntag. Hochbetrieb: nicht angeleinte Hunde, Kinder zu Fuß und auf dem Rad, Spaziergänger ohne Führerschein, Omas (bin zwar selber eine!). Ich bin nur abgestiegen, wenn ich es wollte oder es unbedingt notwendig fand. Immer ein bisschen an der Grenze, aber super fürs Selbstbewusstsein. Dann ein Spätsommer und Herbst mit fast täglichem Radfahren! Tat super gut! Und nun? Ausdauertraining auf dem Heimtrainer. Wie wird’s im Frühjahr werden? Ansatz beim Herbst oder schmutzige Filme im Kopf? Nee, die gibt’s nicht mehr! Sonst wär ja hoffentlich wieder der Christian da – zum Auffrischen.

Maria E. Heising

Der ADFC hat eine Liste von Radfahrschulen zusammengestellt, die zum Teil von VCD-Aktiven geleitet werden.

Das Buch

Das praxisbezogene Arbeitsbuch zum spielerischen Umgang von Kindern mit dem Fahrrad hat der Radfahrlehrer für Erwachsene geschrieben. Es richtet sich an Eltern, Großeltern und Erzieher, die mit ihren Kindern lustige und sinnvolle Roller- und Radfahrübungen machen wollen.

Christian Burmeister: SCHWUPPDIWUPP. Spielerische Übungen mit und auf dem Fahrrad. R.G. Fischer Verlag, Frankfurt 2010, 125 Seiten, 9,80 Euro

fairkehr 5/2023