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Ein Pfad führt über eine grüne Alm
Ein Junge gießt Pflanzen, die in einer Holzkiste wachsen
Eine Seilbahngondel schwebt über eine dicht bebaute Stadt

Reise 6/2010

Zwischen Stille und Lärm

Der Rheinsteig ist nicht nur der Rettungsanker einer abgehalfterten Tourismusregion, er weist auch dem UNESCO-Weltkulturerbe den Weg.

Foto: Gerhard FitzthumDer Rheinsteig ist ein großartiger Weitwanderweg. Bei Braubach führt er an der Marx­burg vorbei, der einzigen noch im Original erhaltenen Höhenburg am Rhein.

Zwischen hüfthohen Traubeneichen schlängelt sich eine kleine Pfadspur aufwärts. Sie führt zu der markanten Felsengruppe, die wir vom Hauptweg erspäht haben. Schnell sind die Rucksäcke abgezogen, die Sitzmatten ausgebreitet, Brot, Käse und Obst auf dem mitgebrachten Tischtuch verteilt. Ein schönerer Pausenplatz ist kaum denkbar: Der Blick schweift über ein tief eingekerbtes Tal, auf dessen Schieferflanken sich kleine Eichenbäumchen festklammern. Strom- und Telefonkabel sind nirgendwo gespannt, auch von Siedlungen und Straßen bleibt das Auge verschont. Ganz hinten, im V-Ausschnitt der Steilhänge, glitzert der Rhein.

Dort ziehen immer wieder Ausflugsdampfer und Containerschiffe vorbei – bizarre Fremdkörper, die aber überhaupt nicht störend wirken. Denn die Wasserstraße ist weit genug entfernt und die Schiffe scheinen sich mit der gleichen Gemächlichkeit durch die Landschaft zu bewegen wie die Wanderer, die sich hier oben, zweihundert Meter über der Talsohle, tummeln.

Tummeln ist tatsächlich das richtige Wort. Ein paar Meter unter unserem Rastplatz ziehen die Rucksackträger im Fünfminutentakt vorbei, mal mit, mal ohne Hut, mal mit, mal ohne Stöcke, meist zu zweit, oftmals in kleineren, seltener in größeren Gruppen, gelegentlich aber auch ganz allein. Fast drei Dutzend haben wir in der letzten Viertelstunde gezählt. Kein Wunder, denn die Passage durch die Pulsbachklamm ist Teil des 320 Kilometer langen Rheinsteigs. Und der ist in den fünf Jahren seines Bestehens zum Sehnsuchtsziel der neuen deutschen Wanderbewegung geworden.

Ein Segen für die Region

Ursula Singer hätte jedenfalls nicht geglaubt, dass sie vor ihrem Wohnhaus einmal eine kleine Einkehrstation für durstige Hobbygeher eröffnen würde: „Früher sah man hier sonntags mal den einen oder anderen Wanderer“, erzählt die Oberkersterterin, „heute kann man sie selbst wochentags kaum zählen.“ Doris van Vlijmen, Ursula Singers Kollegin aus Wellmich, macht sogar richtige Statistiken. Obwohl ihr Gasthaus nicht direkt an der markierten Route liegt, kehren bei ihr im Durchschnitt dreißig Gäste am Tag ein. „Der Rheinsteig ist ein Segen für unsere Region“, frohlockt die lebenslustige Wirtin. Im letzten Jahr habe sie fünftausend Gäste bedient, mehr als sie früher in fünf Jahren zusammen hatte! Kein anderes Tourismusprojekt hat in Deutschland in den letzten dreißig Jahren einen so durchschlagenden Erfolg wie der Fernwanderweg von Wiesbaden und Bonn.

Mit dem Rheinsteig hat die Region nun ein Vorzeigeprojekt des sanften Tourismus, das einem UNESCO-Weltkulturerbe gut zu Gesicht steht. Sie macht die historisch gewachsene Einheit von Fluss, Stadt, Weinberg und Burg in einer neuen, viel intensiveren Weise erfahrbar, als es der bisherige Ausflugstourismus je vermocht hätte. Zudem werden Natur und Umwelt geschont und die Einheimischen profitieren: Vielerorts sind die Übernachtungszahlen in den letzten fünf Jahren um dreißig Prozent gestiegen und mit diesen die Einnahmen in der Gastronomie. Für eine Destination, die in die Sackgasse des Schunkeltourismus geraten war, nicht nur ein Segen, sondern geradezu ein Rettungsanker.

Kulturlandschaft verliert ihr Gesicht

Freilich ist nicht alles so rosig, wie es einem im ersten Moment erscheint. Denn die tausend Jahre alte Kulturlandschaft ist dabei, ihr Gesicht zu verlieren. Weil der traditionelle Weinbau vielerorts aufgegeben wurde, wuchern die kleinräumig terrassierten Steilhänge langsam zu, womit auch die Artenvielfalt zurückgeht. Die nötige Entbuschung erweist sich als schwierig und kostspielig. Nicht nur Ziegenherden werden ins Gelände geschickt, hie und da experimentiert man auch mit exotischen Schaf- und Kuhrassen, die sich durch Dornen nicht den Appetit verderben lassen. Um der Wurzelteppiche von Schlehe, Weißdorn und Brombeere Herr zu werden, kamen zudem Panzerketten zum Einsatz.

Andererseits weiß man aber auch, dass aufgrund der Arbeitsintensität in Steilhanglagen ein neuerlicher Weinanbau nur auf ganz wenigen Flächen rentabel sein wird. Im Dienste der Wiederbestockung würde das UNESCO-Konzept sogar eine Neuauflage der Flurbereinigung akzeptieren – obwohl diese einen negativen Einfluss auf das Landschaftsbild hätte, wie man rund um Rüdesheim unschwer erkennen kann.

Foto: Gerhard FitzthumDer Rheinsteig bei Boppard: Sogar Smaragd­­­­­­eidechsen leben in den typischen Trockenmauern, mit denen die Landschaft vor 800 Jahren terrrassiert wurde. Diese ­mediterrane Trockensteppe am Rhein droht langsam zuzuwachsen.

Das zweite, noch viel größere Problem drängt sich immer dann ins Bewusstsein, wenn sich der Rheinsteig ins Haupttal zurückwendet. Obwohl die Autobahnen anderswo gebaut wurden, sieht und hört man, dass die markante Einkerbung zwischen Taunus und Hunsrück zu den frequentiertesten Transit­schneisen Europas gehört. 60.000 Frachter und Containerschiffe sind jedes Jahr auf dem drittlängsten Fluss des Kontinents unterwegs und transportieren dabei nicht weniger als zwei Millionen Tonnen Güter. Zudem schlängeln sich an jedem Ufer je eine Bundesstraße und eine Bahnlinie.

Welche Belastungen der Autoverkehr mit sich bringt, wird gern übersehen, weil dieser, was den Lärm angeht, vom Schienenverkehr klar in den Schatten gestellt wird. Schwer beladene Güterzüge donnern teilweise im Fünfminutentakt direkt an den Wohnhäusern vorbei. Aus dem Schutz der Bebauung aufzusteigen macht die Sache erstmal sogar noch schlimmer – akustisch betrachtet gleicht der felsige Talkessel einem Amphitheater, in dem rund um die Uhr die Sinfonie des Warentransports gespielt wird. Wirkliche Stille erlebt man im sechzig Kilometer langen Welterbe-Streifen aber nur dort, wo sich der Weg, wie in der Pulsbachklamm, in eines der zahlreichen Seitentäler wendet.

Dass in den Talsiedlungen der Einbau schalldichter Fenster subventioniert wur­de, hat den Schaden nur marginal begrenzt. Auch die mancherorts vollzogene Dämmung der lärmintensiven Betonschwellen hat nicht wirklich viel ­gebracht. Man müsste die Graugussbremsen austauschen, mit denen die Gü­ter­­waggons der älteren Generation be­­stückt sind. Das aber ist der DB zu teuer. Und für die geforderte Neubaustrecke fehlt natürlich erst recht das Geld.

Ein professioneller Wanderweg

Entsprechend stur reagieren viele Hoteliers und Gastronomen, vor allem auf der rechten Seite, der des Rheinsteigs. Solange nicht alle Register des Lärmschutzes gezogen werden, mag kaum jemand an eine touristische Zukunft glauben und ist deshalb auch nicht zu Investitionen bereit. Schon gar nicht, wenn man sieht, dass die punktuellen Verbesserungen durch die ständige Erhöhung der Zug-Frequenzen sofort wieder aufgefressen werden. So wurstelt man weiter wie bisher, orientiert sich also einfach an der pflegeleichten Gästeschicht der letzten Jahrzehnte, die dem Image der Region mehr schadet als nützt: Busgesellschaften von Senioren, die mit Dumpingpreisen zu Verkaufsveranstaltungen gelockt werden, oder trinkfeste Sportvereine und Kegelclubs.

Einige Gasthäuser, in denen innovativ gekocht wird und regionale Produkte auf den Tisch kommen, gibt es zwar, aber man muss lange suchen. Immerhin läuft seit zwei Jahren ein Zertifizierungsprojekt für Rheinsteig-Gast­geber, das erste Erfolge zeitigte. Dennoch bleiben die Möglichkeiten zu einer qualitätsorientierten Neuausrichtung, die der professionellste Wanderweg Deutschlands angestoßen hat, unausgeschöpft.

Die Allergie gegen Eigeninitiative mag in mancher Welterbegemeinde noch ziemlich ausgeprägt sein, die anfängliche Skepsis gegen den UNESCO-Status hat sich aber aufgelöst. Die eigens für das Rheintal entworfene Schutz-Kategorie der „fortbestehenden Kulturlandschaft“ macht es den Anwohnern auch leicht. Wirkliche Einschränkungen müssen sie nicht befürchten. Statt auf den Erhalt des Status quo zu verpflichten, hält die UNESCO eine dynamische Weiterentwicklung nicht nur für unvermeidlich, sondern für geradezu geboten. Weil das Welterbe „Oberes Mittelrheintal“ ausdrücklich als „Verkehrslandschaft“ anerkannt wurde, hat das Komitee keine grundsätzlichen Einwände gegen den geplanten Bau einer neuen Rheinbrücke.

Brücke erzeugt Autoverkehr

Ob verbesserte Straßenanbindungen das Verkehrsproblem lösen werden, darf aber natürlich bezweifelt werden. Die Befürworter argumentieren damit, dass die einzige Brücke zwischen Bingen und Koblenz den Vorteil hätte, den voneinander isolierten Welterbe-Gemeinden der beiden Rheinseiten in Zukunft bessere Kooperation zu ermöglichen, besonders, was Schulen, Krankenhäuser und Einzelhandel anbelangt. Warum das nicht mit verbesserten Fährenfahrplänen gehen soll, wird dabei nicht verraten. Und die Nachteile für Radfahrer und Fußgänger werden ebenso verschwiegen wie die Tatsache, dass durch den Wegfall von vier Fähren zusätzlicher Autoverkehr erzeugt wird.

Gegen die Ambitionen der Brückenbauer könnte auch die Karriere des Rheinsteigs hilfreich sein. Die nach landschaftsästhetischen Gesichtspunkten angelegte Route lockt wie nie zuvor ein gebildetes und anspruchsvolles Publikum in die Region. Kommunalpolitiker und Geschäftsleute werden nicht umhin kommen, die höhere Umweltsensibilität der neuen Klientel ernst zu nehmen, sich also auf Qualitätserwartungen einzustellen, von denen die Region jahrzehntelang verschont geblieben war.

Die neuen Wanderer kommen schließlich nicht, um bei Stimmungsmusik, Wein und Currywurst den tristen Alltag auszublenden, sondern um eine historisch gewachsene Kulturlandschaft aktiv zu erleben und mit allen Sinnen zu genießen. Neue Straßenbauprojekte werden bei ihnen mindestens so viel Unmut erzeugen wie der endlose Schienenverkehr. Womöglich wird sogar die DB irgendwann einlenken – nicht wegen der berechtigten Lärmschutzinteressen der Anwohner, sondern aus Furcht vor dem schlechten Image, das die sonst so zufriedene Kundschaft des „Top Trails of Germany“ ins ganze Land hinaustragen könnte.

Gerhard Fitzthum

fairkehr 5/2023