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Ein Pfad führt über eine grüne Alm
Ein Junge gießt Pflanzen, die in einer Holzkiste wachsen
Eine Seilbahngondel schwebt über eine dicht bebaute Stadt

Titel 5/2010

Unerhörter Krach

Lärm ist das am meisten unterschätzte Umweltproblem. Doch Lärm bedeutet nicht immer gleich Lautstärke: Was für den einen Klang, ist für den anderen Krach.

Fotos: www.istockphoto.com, Fotolia, Marcus Gloger

Die Party ist in vollem Gange, ekstatisch hüpfen die Leute durch den Raum – da steht die Polizei vor der Tür. Beim ersten Besuch bitten sie höflich, leiser zu drehen. Doch der Nachbar kann immer noch nicht schlafen, und so landet der Verstärker wenig später auf dem Revier. Wer sich und seinen Gästen ein solch abruptes Ende des Tanzvergnügens ersparen will, hat jetzt eine Alternative: Jeder bekommt einen Funkkopfhörer, im Raum herrscht Ruhe. In manchen Discos dringen die DJs bereits regelmäßig auf diese Weise zu den Ohren ihrer Fans durch, verschiedene Musikrichtungen können im selben Raum abgefeiert werden. „Silent Disco“ heißt das.

Was für den einen Klang, ist für den anderen Krach – was für den einen ein euphorisches Gefühl von Entgrenzung auslöst, fühlt sich für andere als trostloses Ausgeliefertsein an. Die Empfindung von Lärm ist subjektiv und nicht immer mit Lautstärke verbunden: Manch einer erträgt bereits das Ticken eines Weckers oder einen tropfenden Wasserhahn nicht. Dagegen bezeichnet kaum jemand die Geräusche eines tosenden Wasserfalls oder eines aufgeregten Vogelschwarms als Lärm. Im Gegenteil verbinden viele Menschen ein solches Naturkonzert mit äußerer und innerer Ruhe. Insofern ist Lärm ein menschengemachtes Ärgernis.

Ohren schlafen nie

Geräuschen kann sich der Mensch nicht entziehen. Ohren haben keinen Ausschaltknopf. Auch im Schlaf hören sie mit, was in der Umgebung los ist. Ein lauter Knall, Donner oder plötzliches Dröhnen löst unwillkürlich archaische Stressreaktionen aus: Schließlich bedeutete ein abrupt erhöhter Schallpegel in früheren Zeiten fast immer Gefahr, der Mensch musste schnell auf den Beinen sein.

Der Schall wird über den Hörnerv zum Gehirn, ins Rückenmark und zum vegetativen Nervensystem abgeleitet. Stresshormone werden ausgeschüttet, Gefäße verengen sich, Blutdruck und Puls steigen, Muskeln spannen sich an. Auch heute noch reagieren unsere Körper so auf einen kläffenden Hund im Hinterhof oder ein in der Nähe startendes Flugzeug. Und selbst wenn Betroffene glauben, dass nächtlicher Lärm sie nicht stört, belegen Untersuchungen in Schlaflaboren das Gegenteil: Auch bei Menschen, die nicht aufwachen, verschieben sich die Schlafphasen, und ihre Herzfrequenz ändert sich.

Nette Nachbarn dürfen saugen

Lärmbelästigung ist lediglich zu einem Drittel über den reinen Pegel abzubilden. Den Rest machen unter anderem die Einstellung zur Lärmquelle – der nette Nachbar darf so viel Staub saugen, wie er möchte, der unsympathische sollte besser Ruhe geben – und die Einschätzung darüber aus, ob der Krach nicht vermeidbar wäre. Neben Lautstärke, Klangfarbe und individuellen Vorlieben beeinflussen auch kulturelle Unterschiede das Geräuschempfinden. Während die in den USA permanent arbeitenden Klimaanlagen offenbar kaum jemandem auffallen, stören sich viele Ausländer am Dauerbrummen. Auch eine Geräuschkulisse wie auf einer italienischen Piazza finden die meisten Deutschen vorm eigenen Fenster äußerst lästig. Fest steht jedoch: Dauerhaft hohe Pegel, besonders nachts, schaden jedem Menschen, auch dem entspanntesten Römer. Wenn der Körper es nicht schafft, sich im Schlaf zu regenerieren, wird er krank.

Zwar sehen sich Polizei und Behörden in punkto Lärm am häufigsten mit Beschwerden über Nachbarn konfrontiert, weil deren Verhalten beeinflussbar scheint. Doch weitaus stärker leiden Menschen unter Verkehrsgeräuschen. Fast 60 Prozent der Bevölkerung fühlen sich gemäß einer Umfrage durch Straßenverkehr belästigt, startende und landende Flugzeuge stören etwa 30 und vorbeirauschende Züge knapp 25 Prozent der Einwohner Deutschlands. „Lärm ist das am stärksten unterschätzte Umweltthema unserer Zeit“, betont Jochen Flasbarth, Präsident des Umweltbundesamtes, das die Umfrage vor zwei Jahren veröffentlicht hat.

Dabei war das einzelne Fahrzeug in den 70er Jahren wesentlich lauter als heute. Damals emittierte ein Lkw-Motor satte 12 Dezibel (dB[A]) mehr als heute. Auch der Käfer und seine Zeitgenossen muteten der Umgebung um etwa 10 dB[A] höhere Geräuschpegel zu als aktuelle Modelle – 10 db[A] mehr nimmt der Mensch subjektiv als eine Verdoppelung der vorigen Lautstärke wahr. Doch der enorme Verkehrszuwachs hat die Ingenieursleistungen längst zunichte gemacht: Messungen an Autobahnen und Bundesstraßen belegen, dass es dort immer lauter geworden ist und sich die Lärmkorridore immer weiter in die Landschaft hineingefressen haben.

Ab einer Geschwindigkeit von 40 Stundenkilometern übertönt heute das Reifen-Fahrbahngeräusch den Motorenlärm eines Pkw, bei Lkw ist dieser Punkt ab Tempo 70 erreicht. Neben Lärmschutzwänden kann auch sogenannter Flüsterasphalt etwas Abhilfe schaffen: Dabei wird dem Bitumen grobkörniger Splitt beigemischt. So entstehen winzige Schluchten in der Straßenoberfläche, die den Schall teilweise schlucken. Doch zum einen hält ein solcher Belag weniger lange als Beton oder üblicher Asphalt. Zum anderen sammeln sich in den Poren Staub und Reifenkrümel, was bei Nässe die Rutschgefahr erhöht. Und schließlich ist ein solcher Straßenbelag auch besonders teuer. Hohe Kosten, die niemand übernehmen will, sind auch der Grund, warum die meisten Güterzüge bis heute extrem laut sind. Wären sie mit einer schallarmen Radtechnik ausgestattet, könnte der Schienenlärm um die Hälfte reduziert werden.

Verkehrslärm ist ungerecht

Wissenschaftliche Forschungen belegen, dass das Herzinfarktrisiko von Männern signifikant steigt, wenn sie Tag für Tag von mehr als 65 dB[A] Lärm umtost werden – wobei hierunter ein über den ganzen Tag gemessener Mittelwert verstanden wird. Ob der zustande kommt, weil permanent Fahrzeuge vor der Haustür vorbeirauschen oder von Zeit zu Zeit besonders laute Jumbos übers Dach fliegen, sagt die Zahl nicht aus. Zur Orientierung: Eine laute Unterhaltung schlägt bei einem Messgerät im Abstand von 7,5 Metern mit etwa 60 dB[A] aus – die Experten als Stressgrenze bezeichnen –, eine verkehrsreiche Straße erreicht einen Passanten mit 70 bis 80 dB[A]. Wer wissen will, wie laut seine Umgebung ist, kann mit Hilfe des VCD-Lärmrechners im Internet eine Abschätzung vornehmen. Allerdings haben Anwohner bestehender Straßen keinen Rechtsanspruch auf die Einhaltung bestimmter Grenzwerte. Nur politischer Druck kann zu einem anderen Straßenbelag oder der Ausweisung einer Tempo-30-Zone führen.

Lärm nervt und macht krank. Dass aber auch das Rufen und Lachen spielender Kinder zu Rechtsstreitigkeiten führt, ist ein eher deutsches Phänomen. Das Bundesverkehrsministerium hat angekündigt, Klagen gegen Kinderlärm zu erschweren.

Rund 15 Prozent der deutschen Bevölkerung müssen heute unter gesundheitsbedrohlichen Bedingungen leben. Etwa 2000 bis 4000 Menschen sterben jährlich an den Folgen der Dauerbeschallung. Auch Bluthochdruck und zunehmender Medikamentengebrauch wurden beobachtet. Allein durch Krankheit und Todesfälle verursacht Verkehrslärm Kosten von etwa zwei Milliarden Euro im Jahr. Was den Nachweis derartiger Zusammenhänge schwierig macht, ist die Tatsache, dass die Patienten häufig auch anderen Umweltbelastungen ausgesetzt sind: Schließlich ist die Luft an großen Straßen nicht die beste, und wer hier wohnt, hat meist wenig Geld. Insofern ist Verkehrslärm auch Thema mangelnder Umweltgerechtigkeit.

Eines der entscheidendsten Kriterien für den Wert einer Wohnimmobilie ist hierzulande die ruhige Umgebung. Anders gesagt: Eine neue Straße oder ein Flughafen mindern den Wert eines Hauses enorm. Kerstin Giering, Schallschutz-Professorin aus Trier, hat ausgerechnet, dass Vermietern aufgrund von Umgebungslärm jährlich sieben Milliarden Euro durch die Lappen gehen. Summa summarum belastet der Krach auf deutschen Straßen die Volkswirtschaft mit über neun Milliarden Euro.

Taub durch Beethoven

Zu laut ist es auch an vielen Arbeitsplätzen. Lärmschwerhörigkeit ist heute die häufigste Berufskrankheit, etwa 5000 Fälle werden jährlich anerkannt. Verursacht wird sie in der Regel durch Presslufthammer und andere Maschinen, die mit einem Schalldruckpegel von 85 dB[A] oder mehr stundenlang auf die Beschäftigten eindröhnen. Manchmal kann jedoch auch ein einmaliger Knall von mehr als 120 dB[A] die Hörzellen abtöten – ein sogenanntes Knalltrauma. Seit 2007 gilt in Deutschland deshalb eine EU-Richtline, die Arbeitgeber verpflichtet, ihren Beschäftigten ab 80 dB[A] einen Gehörschutz zur Verfügung zu stellen; ab 85 dB[A] besteht Tragepflicht. Schließlich entstehen neben dem persönlichen Leid auch enorme Kosten für die Allgemeinheit.

Allerdings sind Kopfhörer in manchen Arbeitsbereichen kaum einsetzbar. Wer eine Kindergartengruppe leitet, kann sich kaum durch Ohrstöpsel abkapseln. Und auch ein Dirigent ist darauf angewiesen, die Töne sehr differenziert wahrzunehmen. Dabei herrschen in einem Orchestergraben bei einem Fortissimo gut und gern 110 dB[A]. Vor allem wer unmittelbar vor den Blechbläsern sitzt, ist extrem hohen Geräuschpegeln ausgesetzt. Gemittelt über die Woche schwappen über Trompeter und Schlagzeuger Schalldruckwellen von durchschnittlich 85 dB[A] hinweg, wie eine Recherche der Schweizer Unfallversicherungsanstalt belegt. Ohrensausen, Tinnitus und sogar Gehörverluste gehören zum Berufsrisiko.

Anders als bei Bauarbeitern treffen Lärmschutzvorschriften hier jedoch häufig auf polemische Reaktionen. Die Wiener Philharmoniker verwahren sich gegen jede Einmischung von Arbeitsmedizinern: Man sei ein Privatverein und werde weiter so laut spielen, wie man es vom künstlerischen Standpunkt aus für nötig hält. Für die Haarzellen in den Innenohren ist es allerdings irrelevant, ob sie durch Beethoven-Klänge oder Ambossschläge absterben.

Leise erscheint uneffektiv

Während erwünschte Musik für die Hörer oft gar nicht laut genug sein kann, nerven andere Geräusche wegen ihrer klanglichen Zusammensetzung. Besonders aufreibend empfinden die meisten Menschen beispielsweise die akustischen Emissionen von Laubbläsern und -saugern, was an deren Frequenzbereich zwischen 500 und 4000 Hertz liegt. Auch die Überlagerung der Geräusche von Turbinen, Rotoren und anderen Komponenten beim Flugzeugstart können fürs menschliche Ohr äußerst lästig sein.

Klangdesigner können bei solchen Problemen Abhilfe schaffen. Vor allem in der Autoproduktion verdienen Klangexperten viel Geld. Nicht nur der Motor, auch Scheibenwischer, Fensterheber und das Zuschlagen der Türen werden bei Luxuskarossenherstellern akustisch designt. Der Aufwand darf ruhig groß sein, um den Kunden das zu liefern, was sie von einem teuren Auto hören wollen. So suggerieren die BMW-Ingenieure dem Fahrer ein bestimmtes Motorbrummen, indem sie den Klang über die interne Lautsprecheranlage beeinflussen. Ziel ist es, das Gefühl von Fahrkomfort zu unterstützen und dem Menschen am Lenker insbesondere beim Beschleunigen das Geräuscherlebnis zu verschaffen, das er sich von einem teuren Auto wünscht.

Auch bei Haushaltsgeräten bedienen die Konstrukteure die Erwartungen der Nutzer: Obwohl es technisch längst möglich wäre, sehr leise Staubsauger zu entwickeln, verzichten die Firmen auf eine Dämmung: Die Kunden könnten das Modell für uneffektiv halten.

Annette Jensen

fairkehr 5/2023