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Ein Pfad führt über eine grüne Alm
Ein Junge gießt Pflanzen, die in einer Holzkiste wachsen
Eine Seilbahngondel schwebt über eine dicht bebaute Stadt

Titel 5/2010

Unser Ort soll leiser werden

Bürger können etwas tun gegen Verkehrslärm vor ihrer Haustür: Eine EU-Richtlinie verpflichtet Kommunen, ihre Einwohner vor Lärm zu schützen und sie bei den Planungen einzubeziehen.

Die Stadt Essen erreichten im Sommer 2009 mehr als 1000 Hilferufe wie dieser vom Internetnutzer „guest“: „Mein Zimmer befindet sich direkt an der Paulinenstraße und die Lärmbelästigung sowie die Belästigung durch Abgase hat in den letzten Jahren deutlich zugenommen. Meine kleinen Geschwister können nachmittags vor lauter Lärm nicht einmal einschlafen und die Abgase, die beim Lüften während der Hauptverkehrszeit in die Zimmer gelangen, sind mehr als Besorgnis erregend. Ich schlage daher vor, die Straße wenigstens für Lkw zu sperren, die meiner Meinung nach auch nichts auf einer Straße mit lediglich zwei Spuren zu suchen haben.“

Essen muss wie fast 100 weitere Ballungsräume in Deutschland seine Bürger besser gegen Lärm schützen. Das sieht die EU-Umgebungslärmrichtlinie von 2002 vor, die 2005/2006 in deutsches Recht umgesetzt wurde. Unter Umgebungslärm versteht die Richtlinie „belästigende und gesundheitsschädliche Geräusche im Freien, die durch menschliche Aktivitäten verursacht werden“ – gemeint ist der Krach von Autos, Zügen, Flugzeugen und Industrieanlagen. In einer ersten Stufe mussten für Ballungsräume mit mehr als 250000 Einwohnern und für Orte, die an Hauptverkehrsstraßen, Hauptschienenstrecken oder Großflughäfen liegen, bis spätestens Juli 2007 Lärmkarten erstellt werden.

In einer zweiten Stufe sind alle Ballungsräume mit mehr als 100.000 Einwohnern hinzugekommen, die die Lärmkartierung bis Ende Juni 2012 abgeschlossen haben müssen. Mit einer aufwändigen Methode wird berechnet, in welchen Stadtteilen wie viele Menschen, Flächen, Wohnungen, Schulen und Krankenhäuser tagsüber und nachts welcher Art von Lärm ausgesetzt sind. Anhand der Lärmkarten müssen die Kommunen innerhalb eines Jahres Aktionspläne mit Lärmschutzmaßnahmen stricken. Hier kommen die Lärmgeplagten selbst ins Spiel: Die EU-Richtlinie sieht vor, dass die Bürger die Aktionspläne mit ausarbeiten.

Essen hat dabei neue Wege beschritten: Gefördert vom Landesumweltministerium NRW richtete die Ruhrgebietsstadt als Pilotprojekt eine Online-Plattform ein. In einem ersten Schritt konnten Betroffene im Sommer 2009 unter essen-soll-leiser-werden.de von Problemen berichten und Lösungen vorschlagen. Auch viele E-Mails und einige Briefe erreichten die zwei Zuständigen im Umweltamt Essen, manche Bürger kamen sogar persönlich vorbei. Mehr als 1000 Essener nutzten ihr Mitspracherecht. „Wir waren überwältigt von der Resonanz“, sagt Nicole Cremer vom Umweltamt, die die Öffentlichkeitsbeteiligung gemeinsam mit ihrem Kollegen Werner Kuhlmann abwickelt.

Nicht für Laubbläser zuständig

Bereits im Vorfeld hatten die beiden gut zu tun: Um die Bürger über ihre Mitwirkungsmöglichkeiten zu informieren, initiierten sie Berichte in den örtlichen Medien, organisierten Bürgerversammlungen, ließen Plakate aufhängen und warfen Flugblätter in die Briefkästen der Anwohner vielbefahrener Straßen. Fast die Hälfte der Bürgervorschläge floss in den Lärmschutzplan ein. „Die restlichen Anliegen fielen nicht in unsere Zuständigkeit, für Geschwindigkeitsübertretungen beispielsweise ist die Polizei zuständig“, erklärt Cremer. „Oder es handelte sich um Lärmprobleme, die die EU-Richtlinie nicht abdeckt, wie Nachbarschaftslärm.“

Beschwerden über laute Partys, dröhnende Laubbläser oder klappernde Gullideckel ignorierten Nicole Cremer und ihr Kollege jedoch nicht einfach, sondern leiteten sie an die zuständigen Behörden weiter. Geeignete Bürgervorschläge stellte das Umweltamt zusammen mit geplanten Maßnahmen der Stadt im Winter 2009 online. In einer zweiten Beteiligungsphase konnten die Bürger die Vorschläge kommentieren und bewerten.

Mittlerweile liegt ein fertiger Lärmaktionsplan vor, den die Stadt nun nach und nach erfüllen will. Die Maßnahmen reichen von Parkleitsystemen über nächtliche Tempolimits bis hin zu mehr Rad- und Fußverkehr sowie der Förderung des öffentlichen Nahverkehrs und der Elektromobilität. Erste Schritte hat Essen bereits umgesetzt: Die Stadt hat laute Straßen mit lärmoptimiertem Asphalt und Wohnungen an Hauptverkehrsadern mit Schallschutzfenstern versehen. „Andere Maßnahmen wie bessere Bedingungen für Radfahrer und Fußgänger sind ein eher langwieriger Prozess“, stellt Cremer fest.

Ehrgeizige Ziele in Essen

Die EU-Umgebungslärmrichtlinie bestimmt, dass die Kommunen alle fünf Jahre neue Lärmkarten erstellen – ein wichtiges Instrument, um den Erfolg der Aktionspläne zu überprüfen, sagt Matthias Hintzsche, Lärmexperte beim Umweltbundesamt (UBA): „Wenn die Gemeinde bei der neuerlichen Kartierung beispielsweise feststellt, dass weiterhin sehr viele oder sogar noch mehr Menschen als zuvor unter Verkehrslärm leiden, muss nachgebessert werden.“

Das Essener Umweltamt hat ein ehrgeiziges Ziel formuliert: Der Lärmaktionsplan soll dazu beitragen, dass kein Bürger mehr in einer Umgebung leben muss, in der die Pegel von 70 db[A] am Tag und 60 db[A] nachts überschritten werden. Diese Grenzwerte hat das Land Nordrhein-Westfalen festgelegt. Die Umgebungslärmrichtlinie der EU gibt keine verbindlichen Werte vor, so dass jedes Bundesland oder, wenn das Land nichts empfiehlt, jede Kommune selbst bestimmen kann, vor welchen Pegeln sie die Bürger bewahren sollte. Das Umweltbun­desamt als Unterbehörde des für Lärmschutz zuständigen Bundesumweltministeriums empfiehlt maximal 65 db[A] tagsüber und 55 db[A] in der Nacht, damit Lärmbetroffene nicht krank werden.

Bürgerdiskussion von Anfang an

Die EU-Richtlinie regelt auch nicht, auf welche Weise Kommunen ihre Bürger an der Lärmaktionsplanung beteiligen müssen. Nicht alle Gemeinden beziehen ihre Einwohner so umfassend ein wie Essen. Matthias Hintzsche vom UBA nennt die Großstädte Hamburg und Berlin als weitere Positivbeispiele. Andere Kommunen setzen allerdings auf „klassische Beteiligung“ und legen lediglich im Rathaus den fast fertigen Lärmaktionsplan zur Ansicht aus. „Das ist nicht im Sinne der Richtlinie“, sagt Hintzsche. „Sie will die ergebnisoffene Diskussion mit den Bürgern von Anfang an befördern, nicht erst, wenn die Aktionsplanung im Grunde abgeschlossen ist.“

Kritik daran, dass die meisten Ballungsräume der ersten Stufe, darunter auch Essen, die von der EU gesetzte Frist zur Ausarbeitung der Aktionspläne nicht einhielten, lässt Hintzsche nicht gelten. Bis Ende Juni 2007 hätte die Ruhrmetropole die Lärmkartierung abschließen, bis Mitte Juli 2008 ihren Aktionsplan fertig haben müssen. Eine anspruchsvolle Zeitvorgabe für einen so großen Ballungsraum, findet Hintzsche. Zumal die EU-Richtlinie erst 2006 endgültig ins deutsche Recht umgesetzt war und die Kommunen Neuland betraten. Der Lärmexperte glaubt, dass die zweite Umsetzungsphase unkomplizierter verläuft. „Dass es überhaupt feste Fristen gibt, ist neben der Öffentlichkeitsbeteiligung ein großer Vorteil der Richtlinie“, sagt er.

Nicole Cremer ist denn auch „richtig stolz“ auf die Umsetzung der EU-Umgebungslärmrichtlinie in Essen. „Wir haben hart daran gearbeitet“, sagt die Zuständige im Umweltamt. Und viele Bürger reagieren positiv. So schrieb eine Anwohnerin der vierspurigen Oberschlesienstraße nach dem Umbau einer lauten Kreuzung: „Endlich hat mal jemand mitgedacht. So leise war es hier noch nie.“

Kirsten Lange

fairkehr 5/2023