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Ein Pfad führt über eine grüne Alm
Ein Junge gießt Pflanzen, die in einer Holzkiste wachsen
Eine Seilbahngondel schwebt über eine dicht bebaute Stadt

Reise 5/2010

Zu Fuß von München nach Venedig

Der Weitwanderweg von München nach Venedig ist auch als Familie zu schaffen – und eine seltene Gelegenheit, viel Zeit gemeinsam in der Natur zu verbringen.

Foto: Gerhard von KapffZu Fuß über die Alpen: Gerhard von Kapff wandert am liebsten mit seiner Frau Sibylle und den beiden Söhnen Lukas und Felix.

Felix schaut mich flehend an. „Ich kann nicht mehr“, jammert der Achtjährige. „Papa, magst du nicht meinen Rucksack tragen?“ Das geht gut los. Exakt 554 Kilometer sind es, wenn man zu Fuß von München bis Venedig will, und wir sind gerade mal vier Stunden unterwegs. Zu den 17 Kilo, die ich mir selbst aufgelastet habe, kommen nun weitere dreieinhalb. Sicher werden wir den sogenannten Traumpfad, einen der bekanntesten Weitwanderwege über die Alpen, als Familie mit zwei Kindern in Abschnitten gehen. Doch dass es so katastrophal beginnt, war nicht geplant.

Aufgebrochen sind wir am Münchner Marienplatz nicht etwa frühmorgens, wie das unter Wanderern so Usus ist, sondern mittags – und dann wollten wir uns auch noch am Viktualienmarkt mit ein paar Weißwürsten und einem großen Glas Bier auf die Wanderung einstimmen. Mit dem Effekt, dass die Würste im Magen liegen und das Bier müde macht. Ich überlege erstmals, ob diese Wanderung wirklich eine so glänzende Idee war.

Die beiden Jungs konnten es ohnehin kaum fassen, was ihr verrückter Vater vorhatte. „Papa spinnt“, versuchte vor allem mein zehnjähriger Sohn Lukas meine Frau Sibylle auf seine Seite zu ziehen. Zu spät, denn sie war längst vom Virus gefangen, einmal im Leben die Alpen zu überqueren. Nicht mit dem Auto, wie meine beiden Söhne hofften, sondern zu Fuß. Ein Urlaub ohne Auto, ohne Stau und Autobahngebühren, unterwegs nur mit den Füßen und einem Rucksack auf den Schultern. Unglaublich reizvoll für Erwachsene, unglaublich schwachsinnig für Kinder.

Foto: Gerhard von KapffBerge und Grenzen zu Fuß überwinden: eine unglaublich reizvolle Idee für Erwachsene, eine unglaublich schwachsinnige für Kinder – zunächst.

Dass wir am nächsten Tag trotz eines Ganzkörpermuskelkaters weiterlaufen, ist reine Sturheit. Wie peinlich wäre es, schon nach der ersten Etappe zu scheitern? Die Jungs sind ohnehin topfit. Während wir uns morgens unter Schmerzen die Treppe des Gasthofes herunterhangeln, springen sie draußen auf dem Trampolin herum. Mehr noch als gestern macht sich Abenteuerstimmung bei den Kindern breit. Lukas läuft schon nach wenigen Minuten fröhlich singend voraus. Felix ist von der Landschaft an der Isar begeistert und fragt uns Löcher in den Bauch. Der Weg vom Isarufer zum Meeresstrand, die bevorstehenden 22.000 Höhenmeter und die drei Länder, die wir dabei berühren werden, faszinieren ihn plötzlich unendlich.

Nichts ist mehr zu spüren von der ursprünglichen Ablehnung – es sei denn, man würde nachfragen. Eine Weitwanderung ist, das merken die Kinder, die perfekte Urlaubsform, auf der die Eltern einmal unendlich viel Zeit haben. Stunde um Stunde laufen wir, und die Jungs nutzen die Chance, all das zu erzählen, was im Alltag meist untergeht. Von lustigen Erlebnissen auf dem Pausenhof und Problemen mit Klassenkameraden. Wann sonst hat man die Zeit, seinen Söhnen lange über die eigene Kindheit oder die Ferien mit Oma und Opa zu erzählen? Wir merken schnell, wie gut es ist, unterwegs zu sein.

Heftigen Muskelkater ignorieren

Mal sind es nur sieben oder acht Kilometer pro Tagesetappe, wenn es im Karwendel oder in den Tuxer Alpen steil bergauf geht, mal zehrende 30 Kilometer in der Tiefebene vor Venedig. Die Anforderungen sind so unterschiedlich wie die Wegstrecken selbst. In der Ebene sind wegen der immer gleichen Bewegungen Zähigkeit und der Wille notwendig, den einen oder anderen grausamen Muskelkater zu ignorieren – im Hochgebirge Trittsicherheit und die richtige Ausrüstung.

Der spektakulärste Teil des Traumpfades steht ab dem 13. Wandertag an: Wir laufen einmal quer durch ganz Südtirol. Durch genau die Landschaft, die unsere Eltern – und auch wir in jungen Jahren – ignorierten, da die Adria reizte und alles dazwischen nur ein lästiges Hindernis war. Was haben wir ver­passt! Wanderungen durch das namenlose, weltentrückte Tal unterhalb des Weißferners, die wohl schönste Wanderung des Traumpfades über die Lüsener Alm, der betörende Anblick, wenn sich der bleiche Fels der Dolomiten aus dem Morgendunst schält. Schön, das alles jetzt nachzuholen. Vor allem der achtjährige Felix ist von den Dolomiten begeistert. „Mann, ist das schön“, sagt er immer wieder, wenn er stehen bleibt und ausgiebig die spektakuläre Bergwelt bewundert.

Fast eine Zeitreise

Die Hüttenübernachtungen sind Höhepunkte der Tour. Jeden Abend sitzen wir zusammen, spielen Karten, schreiben in die Tagebücher, unterhalten uns. Nichts Spektakuläres passiert, es ist ein weiteres Stück Entschleunigung auf dieser Tour. Fast eine Zeitreise, wie früher, als der Fernseher ausblieb und abends gespielt oder gebastelt wurde.

Die meisten Wanderer brechen die Tour in Belluno ab und fahren mit dem Zug nach Venedig. Sie fürchten die vermeintlich langweilige Tiefebene und verpassen ein paar traumhafte Tage entlang des Piave. Längst fließen die Gewässer dem Meer entgegen, und die Bäche, Seen und Flüsse sind oft so warm, dass die Kinder länger darin baden können. Baden ist kurioserweise eines der großen Themen dieses Fernwanderweges. Alle zwei oder drei Tage ist es möglich, irgendwo kleinere Badepausen einzulegen – auch wenn die in so manchem bitterkalten Bergsee auf 2000 Metern Höhe extrem kurz ausfallen.

Foto: Gerhard von KapffIn der Tiefbene sind wegen der immer gleichen Bewegungen Zähigkeit und der Wille notwendig, den einen oder anderen grausamen Muskelkater zu ignorieren – im Hochgebirge Trittsicherheit und die richtige Ausrüstung.

Vier Tage noch bis Venedig. Es ist August und wir sind im Proseccoland, zwischen dem Nevegal und dem Piave, unterwegs. Der Weg führt durch Weinberge mit schon fast reifen Trauben, vorbei an herrschaftlichen alten Anwesen und trutzigen Burgen. Klar, dass wir die gewaltige Burg von Callalto besichtigen wollen. Die Kinder sind gegen Mittag doch sehr erschöpft. Eine echte Burg, das wird sie aufbauen! Was sind wir Eltern doch für Phantasten? „Nein. Die sehe ich mir ganz sicher nicht an“, sagt Lukas und jagt damit alle romantischen Vorstellungen von einer Burgbesichtigung zum Teufel. „Das könnt ihr total vergessen!“ Daheim macht er Ritter-Strategiespiele am PC – doch eine echte Burg interessiert ihn nicht. Verstehe das, wer will. Wortlos stapft der Zehnjährige weiter. Reicht schon, wenn der Vater unbedingt nach Venedig laufen will.

Am letzten Tag hängen dicke Wolken am Himmel. Erstmals auf dem Traumpfad gehen wir an verstopften Straßen entlang. Einige Fahrer mit Münchner Kennzeichen sehen so aus, als seien sie die ganze Nacht durchgefahren. Dann der Strand. Just in diesem Moment reißt der Himmel auf, und ein kleines Stückchen Adria glitzert zwischen den Hotelanlagen hindurch. Wir springen ausgelassen ins Wasser und wissen, etwas geschafft zu haben, das wir eigentlich selbst kaum für möglich hielten. Klar, dass die Jungs stolz sind – vielleicht sogar ein bisschen auf mich. „Schön, dass ich einen so verrückten Vater habe, der mit uns von München nach Venedig gehen wollte“, sagt Lukas jetzt. Schon dafür hat es sich gelohnt.

Gerhard von Kapff

Details zu den Tagesetappen sind im Buch „Mit zwei Elefanten über die Alpen. Eine Familie wandert von München nach Venedig“ zu finden. Die An- und Abreise zu den Etappenorten ist umweltfreundlich überall per Bus und Bahn möglich.
Gerhard von Kapff: Mit zwei Elefanten über die Alpen, 208 Seiten mit 102 Abbildungen, terra magica Verlag 2010, 19,95 Euro


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