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Ein Pfad führt über eine grüne Alm
Ein Junge gießt Pflanzen, die in einer Holzkiste wachsen
Eine Seilbahngondel schwebt über eine dicht bebaute Stadt

Politik 5/2010

Oben bleiben

Schluss mit dem Milliardengrab „Stuttgart 21“ – das Geld würde dem Schienenverkehr an anderer Stelle mehr nützen.

Foto: Jens Zehnder/pixelio.deDie Abrissarbeiten am Stuttgarter Kopfbahnhof gehen weiter – die Demonstrationen gegen „Stuttgart 21“ ebenfalls.

In der Bundestagsdebatte um den Haushalt 2011 hat sich nach langem Schweigen auch Bundeskanzlerin Angela Merkel in die Diskussion um „Stuttgart 21“ eingemischt. Wer sich für den Schienenverkehr einsetze, dürfe doch nicht dagegen sein, wenn ein Bahnhof neu gebaut werde, so ihr Credo. Damit ist Kanzlerin Merkel auf einen der vielen „Stuttgart 21“-Mythen reingefallen: „Stuttgart 21“ ist keine sinnvolle Investition ins Schienennetz – sondern ein Städtebauprojekt, für das ein leistungsfähiger Bahnknoten geopfert werden soll.

Den bisherigen Kopfbahnhof mit 16 Gleisen wollen die Planer in einen Tiefbahnhof mit nur noch acht Gleisen umwandeln. Alle Gleisanlagen in der Stuttgarter Innenstadt sollen unter die Erde verlegt, der Flughafen und eine Neubaustrecke nach Ulm mit einem langen Tunnel angebunden werden. Auf den in der Innenstadt frei werdenden Flächen soll ein neuer Stadtteil entstehen.

Der VCD lehnt die Planungen ab und hat deshalb schon vor vielen Jahren die Alternative „Kopfbahnhof 21“ maßgeblich mitentwickelt. Der geplante Tiefbahnhof ist zu klein und wird zum Nadelöhr im Schienennetz. Ein integraler Taktfahrplan nach Schweizer Vorbild mit aufeinander abgestimmten Anschlüssen ist nicht mehr möglich, so dass Umstiege für Fahrgäste schwieriger werden. Im Durchgangsbahnhof können Züge nicht mehr aufeinander warten, denn um das Verkehrsaufkommen mit nur acht Gleisen zu bewältigen, sind für den Halt höchstens zwei Minuten eingeplant. Auch im Personennahverkehr und im weiter wachsendenden Güterverkehr wird „Stuttgart 21“ keine Engpässe beseitigen. Da die Bauarbeiten in quellfähigem Gips geplant sind, rechnen unabhängige Gutachter für Bahnhofsumbau und Neubaustrecke mit deutlich mehr als zehn Milliarden Euro, offiziell sind derzeit sieben Milliarden Euro veranschlagt. Kosten und Nutzen stehen in keinem vernünftigen Verhältnis.

CDU-Ministerpräsident riskiert Amt

Die Proteste gegen „Stuttgart 21“ finden inzwischen bundesweite Aufmerksamkeit. Jede Woche gehen mehr Menschen auf die Straße, um friedlich gegen das Milliardenprojekt zu demonstrieren. Erstaunlich, da es den relativ wohlhabenden Stuttgartern doch eigentlich ganz gut geht. Die Menschen fühlen sich jedoch betrogen von immer wieder geschönten Kostenrechnungen, von unter Verschluss gehaltenen kritischen Studien und von Politikern, die sich nicht an den Interessen der Bevölkerung orientieren.

Um einen weiteren „Stuttgart 21“-Mythos zu entkräften: Das Projekt ist umkehrbar. Mit „Kopfbahnhof 21“ steht eine leistungsfähige Alternative zur Verfügung, die etwa ein Drittel von „Stuttgart 21“ kostet und schrittweise umgesetzt werden kann. Es mangelt jedoch am politischen Willen, Alternativen ernsthaft zu prüfen und eine ehrliche, transparente Diskussion um den Bahnknoten Stuttgart zu führen. Baden-Württembergs CDU-Ministerpräsident Stefan Mappus riskiert mit seiner Wir-ziehen-das-jetzt-durch-Taktik sein Amt bei der anstehenden Landtagswahl, da eine deutliche Mehrheit der Wähler „Stuttgart 21“ nicht will. Landtagsvizepräsident Wolfgang Drexler (SPD) hat seinen Job als Projektsprecher für „Stuttgart 21“ angesichts der Proteste und eines unklaren Kurses seiner Partei schon aufgegeben.

Täglich kommen neue Informationen auf den Tisch, die „Stuttgart 21“ und die Neubaustrecke nach Ulm in einem un­günstigeren Licht erscheinen lassen. Der Tiefbahnhof ist für den Eisenbahnverkehr kontraproduktiv. Die Mittel wä­ren an anderer Stelle sinnvoller eingesetzt – sowohl in Baden-Württemberg als auch für Bahnprojekte mit bundes- und europaweiter Bedeutung. So ist beispielsweise der viergleisige Ausbau der Rheintalbahn zwischen Karlsruhe und Basel bis 2020 elementar für den Güterverkehr. Doch da fehlt das Geld. Werden keine Mittel umgeschichtet, wird die Strecke selbst 2040 noch nicht in Betrieb gehen können.

Matthias Lieb

Der Autor ist Vorsitzender des VCD Baden-­Württemberg.

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