Politik 5/2010
Voneinander lernen
Die Frage, wie man heutzutage den Verkehr in Ballungsräumen organisiert, ist komplex. Zukunftsfähige Mobilität bedeutet, neueste Technologie mit Umwelt- und Klimaschutz zu verbinden, auf Sicherheitsaspekte zu achten und Lärm zu vermeiden. Junge und alte Menschen müssen Zugang zum Nahverkehr haben, der wiederum muss finanzierbar bleiben. Verkehrsplaner müssen also eine schier unglaubliche Menge von Faktoren miteinander in Einklang bringen, wenn sie lebenswerte städtische Räume erhalten oder wiederherstellen wollen. Integrierte Verkehrsplanung, die alle Verkehrsträger und -teilnehmer einbindet, ist das Gebot der Stunde.
Es ist deshalb kein Wunder, dass 1989 in Brüssel das europäische Städte- und Regionennetzwerk POLIS entstand. POLIS setzt sich für innovative Strategien und Lösungen im Nahverkehr ein. Es hat sich vor allem vier Bereichen verschrieben: Umwelt und Gesundheit, Mobilität und Verkehrseffizienz, Sicherheit von Verkehrssystemen sowie den wirtschaftlichen und sozialen Aspekten von Verkehr. Der Austausch von Wissen ist eines der wichtigsten Ziele des Netzwerkes. Lobbyarbeit für die spezifischen Mobilitätsinteressen von Städten bei EU-Kommission und Europäischem Parlament ist der zweite Arbeitsschwerpunkt.
Bessere Kontakte nach Osteuropa erhofft
Heute zählt POLIS über 70 Mitglieder aus 17 europäischen Staaten, Tendenz steigend. In Deutschland sind Berlin, Dresden, Frankfurt am Main, Hamburg, Köln und Stuttgart dabei. Dresden hat 2010 die Präsidentschaft von POLIS inne und richtet am 25. und 26. November den Jahreskongress unter dem Motto „Innovationen im Verkehr für nachhaltige Städte und Regionen“ aus.
„Die Stadt ist nicht in erster Linie wegen ihrer Projekte zur diesjährigen POLIS-Präsidentin gewählt worden“, sagt Oliver Jung, der in Brüssel für die deutschen Pressekontakte bei POLIS verantwortlich ist. Von Dresden erhoffe sich das Netzwerk zuallererst bessere Kontakte in die osteuropäischen EU-Mitgliedstaaten, die in der Organisation noch unterdurchschnittlich vertreten sind. Als Vorzeigeprojekt nennt Jung dennoch die Dresdener Güterstraßenbahn CarGoTram, die Auto-Komponenten von einem Logistikzentrum am Bahnhof Dresden-Friedrichstadt in die „Gläserne Manufaktur“ von VW im Stadtzentrum transportiert. Stolz ist Dresden auch auf die innerstädtische Verkehrsführung, die seit 2007 die Zufahrt zur A 4 und A 17 je nach Pkw-Aufkommen regelt. Dynamische Wegweisertafeln werden von einem Rechner gesteuert, der laufend die aktuelle Verkehrssituation in der Stadt und auf den Autobahnabschnitten analysiert. Live-Bild-Kameras, Induktionsschleifen in den Straßen und Infrarotdetektoren an den Ampeln liefern die notwendigen Informationen.
Dresden ist kein Musterbeispiel
Professor Udo Becker vom Lehrstuhl für Verkehrsökologie an der Technischen Universität Dresden und Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat des VCD hält Dresden allerdings nicht für ein Musterbeispiel innovativer Lösungen und integrierter Ansätze. Im Gegenteil: Für ihn ist jede andere Stadt beispielhafter als Dresden – und das nicht nur wegen des Baus der umstrittenen Waldschlösschenbrücke über das UNESCO-geschützte Elbtal. Auf dem Stand zukunftsfähiger Verkehrsplanung werde die Stadt erst 2025 sein, sagt Becker. Bis dahin will Dresden den Verkehrsentwicklungsplan 2025plus umgesetzt haben, der für den Professor das Prädikat „Integrierte Verkehrsplanung“ erstmals wirklich verdient. Neben der Stadtverwaltung arbeiten Fachverbände, Vereine und Wissenschaftler an dem Projekt, unter anderem Beckers Lehrstuhl für Verkehrsökologie. Bis Ende 2011 will die Stadt einen ersten Entwurf des Plans vorlegen.
„Generell geht Verkehrsplanung in Deutschland noch immer zu wenig von den Bedürfnissen der Nutzer aus“, sagt Udo Becker. „Es geht meistens darum, zugewiesenes Geld auszugeben, egal wie.“ Beispielhaft ist für den Wissenschaftler der englische Ansatz, der zurzeit europaweit Schule macht. In England stellen Verkehrsplaner die Menschen in den Mittelpunkt. Sie fragen, wie man ihnen Zugang zu Orten ermöglicht, die sie jeden Tag erreichen müssen, beispielsweise Supermärkten, Apotheken oder Kinderspielplätzen. „Die deutsche Verkehrsplanung stellt die Reisezeitverkürzung in den Fokus“, kritisiert Becker. „England dagegen fragt: Wie bekomme ich die Menschen an ihr Ziel?“
EU-Kommission bietet Hilfe an
Nach Aussage von POLIS-Sprecher Jung hat sich die EU-Kommission sehr lange nicht für Verkehrsprobleme in den Städten interessiert. Europaweit gebe es immer noch zu wenig Daten zu städtischen Verkehrsproblemen und meistens stünden sie nur auf nationaler Ebene zur Verfügung, sagt Jung.
Erst der fortschreitende Klimawandel hat die Dämme gebrochen. 2007 veröffentlichte die EU-Kommission ein Grünbuch zur Mobilität in der Stadt und beschloss, darauf aufbauend, 2009 den Aktionsplan städtische Mobilität. Die Verkehrsminister der EU-Mitgliedstaaten segneten ihn im Juni dieses Jahres ab.
Mit dem Aktionsplan will die EU Städte, Regionen und Mitgliedstaaten dabei unterstützen, integrierte, nachhaltige Verkehrspolitik schneller umzusetzen. Die Beteiligung an den vorgeschlagenen Themen und Projekten ist freiwillig. Die Kommission bietet Unterstützung für 20 Maßnahmen an. Darunter sind Forschungs- und Demonstrationsprojekte für emissionsarme und emissionslose Fahrzeuge – beispielsweise Elektroautos –, Kampagnen, die die Menschen dazu bewegen sollen, nachhaltig mobil zu sein, und Studien zur Frage, wie die sogenannten externen Kosten des Verkehrs – also Kosten für Unfälle, Lärm oder Luftverschmutzung – ihren Verursachern in Rechnung gestellt werden können.
Außerdem will die EU mit Hilfe des Aktionsplanes ihr Wissen über die Verkehrsprobleme von Städten vertiefen und den Wissensaustausch zwischen den Städten verbessern. Die langjährige Lobbyarbeit des Städtenetzwerkes POLIS war damit nicht vergebens. Es ist gut möglich, dass die Städte als sehr wichtige Akteure im Umwelt- und Klimaschutz mit ihren Problemen in Zukunft mehr Gehör bei der EU-Kommission finden.
Christoph Nick
Das Städtenetzwerk POLIS
- ist ein Netzwerk führender europäischer Städte und Regionen für nachhaltige und innovative Mobilität
- wurde 1989 gegründet und hat zurzeit über 70 Mitglieder und ein ständiges Büro in Brüssel
- arbeitet auf vier Feldern: 1. Umwelt und Gesundheit, 2. Mobilität und Verkehrseffizienz, 3. Sicherheit, 4. Wirtschaftliche und soziale Aspekte von Verkehr
- organisiert den Wissensaustausch zwischen seinen Mitgliedern
setzt sich bei EU-Kommission und im Europäischen Parlament für die Mobilitätsinteressen von Städten und Ballungszentren ein - unterstützt seine Mitglieder dabei, bei Ausschreibungen von EU-Projekten den Zuschlag zu bekommen
- ist bei über 20 EU-Projekten direkt als Partner beteiligt