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Ein Pfad führt über eine grüne Alm
Ein Junge gießt Pflanzen, die in einer Holzkiste wachsen
Eine Seilbahngondel schwebt über eine dicht bebaute Stadt

Titel 4/2010

Schönrechnen mit System

Die Autolobby befeuert seit Jahren nahezu unwidersprochen den Mythos, dass jeder siebte ­Arbeitsplatz in Deutschland vom Auto abhängt. Direkt ist es höchstens jeder 50. Job.

Foto: VWDer Arbeitsplatz dieses Mannes hängt zweifellos von der Automobilindustrie ab – nicht jedoch der Job desjenigen, der die weiße Arbeitskleidung nähen lässt.

Bundeskanzlerin Angela Merkel weiß es, SPD-Chef Frank Walter Steinmeier auch, DGB-Chef Michael Sommer glaubt daran und der Präsident des Verbandes der deutschen Automobilindustrie (VDA) Matthias Wissmann sowieso: „Jeder siebte Arbeitsplatz hängt vom Auto ab.“ Eigentlich weiß das jedes Kind. Muss auch stimmen, weil man ja so viele Autos sieht. Alle Straßen, alle Städte, alle Parkplätze sind voll davon.

Aber ist es auch wahr? Schaffen Millionen Autos auch Millionen Jobs? Hängt wirklich jeder siebte Beschäftigte in Deutschland am Auto? Wie viele und welche Arbeitsplätze wären das? Und hängen sie alle davon ab, dass die deutsche Autoindustrie die Vehikel herstellt?

Viele Milliarden Steuergelder fließen Jahr für Jahr in gute Rahmenbedingungen für die Autoindustrie. Zu nennen wären ohne Anspruch auf Vollständigkeit der Straßenbau, Steuerermäßigungen für Dieselfahrzeuge und Dienstwagen, Abwrackprämie und Konjunkturprogramme. Zur Rechtfertigung für solche Unterstützung unserer „Leitindustrie“ wird gern das „Jeder siebte Arbeitsplatz“-Argument als Legitimation eingebracht. Bei den hier in Rede stehenden Summen sollte man eine Fülle wissenschaftlicher Studien erwarten, die die herausragende Bedeutung dieser Industrie für Wohlstand und Beschäftigung in unserem Land belegen.

Schon 1978 nur jeder 21. Job

Das Gegenteil ist der Fall. Der Mythos Arbeitsplätze in der Automobilindustrie hat seinen Ursprung im Jahre 1978, als Forscher des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung DIW erstmals eine Zahl für die Beschäftigungswirkung des Autobaus errechneten. Es war auch damals nur jeder 21. Arbeitsplatz in Westdeutschland. Der VDA blies die Zahlen auf und befeuert seitdem nahezu unwidersprochen den Mythos und entwickelt ihn kreativ weiter. Erstaunlich ist, dass er sich dabei immer einer erklecklichen Schar ebenso willfähriger wie unreflektierter Zitierer sicher sein kann.

Versuchen wir also, die Fakten zu recherchieren. Dass viele Menschen in Deutschland mit dem Motorenbau, dem Anschrauben von Kotflügeln, dem Einbau von Windschutzscheiben und dem Polieren des Lacks ihren Arbeitsalltag verbringen, ist klar. Aber wie viele wä­ren jeder siebte?

Bei der Frage fängt die statistische Verwirrung schon an. Nehmen wir als Bezugsgröße die rund 35,8 Millionen Arbeitnehmer oder die 40,2 Millionen Erwerbstätigen, die Selbständige und Beamte mit umfassen? Da in den Verflechtungen der Autobranche durchaus auch Straßenbau, Verkehrsschilder und Verkehrstechnik eine Rolle spielen, legen wir die rund 40 Millionen Erwerbstätigen als Maßstab an. Jeder siebte wären also rund 5,7 Millionen Jobs in Deutschland.
Einig sind sich die Statistiker der Bundesagentur für Arbeit und des Statistischen Bundesamts, dass zwischen 700.000 und 750.000 Menschen direkt in der Herstellung von Kraftfahrzeugen und Kraftfahrzeugteilen Lohn und Brot finden. Der VDA liegt mit seinen Zahlen etwas darüber, allerdings nur um ein paar Tausend. Damit wir im Bilde bleiben: Hier wären wir bei jedem 50. Arbeits­platz.

Die Wirtschaft ist verflochten

Unzweifelhaft müssen Autos verkauft, repariert und betankt werden. Auch hier zählen die Statistiker einvernehmlich in den vergangenen Jahren um die 800.000 Beschäftigte. Der VDA hat 860000 errechnet, aber geschenkt. Produktion und alle Dienstleistungen addiert ergeben jeden 26. Arbeitsplatz.

Kurt Tucholsky wird folgendes Bonmot zugeschrieben: Was die Wirtschaft angeht, so ist sie verflochten. Das gilt für die Automobilindustrie in besonderem Maße – auch jenseits der direkten Zulieferer wie Bosch oder Michelin. Die Textilindustrie liefert Bezüge für die Sitze, die Forstwirtschaft Holz für die Armaturenbretter, die chemische Industrie den Lack. Um diesen sogenannten Vorleistungsverbund zu quantifizieren, haben Volkswirte die gängige Methode der Input-Output-Analyse entwickelt. Zugrunde liegen komplizierte Tabellen, die den Verflechtungsgrad messen und beim Eingeben der gemessenen Nachfrage nach einem Produkt den direkten und indirekten Beschäftigungseffekt modellhaft berechnen, der aus einem Arbeitsplatz bei VW am Band resultiert.

Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung kommt hier auf weitere knapp 1,4 Millionen Arbeitsplätze, die mit den gut 1,5 Millionen Jobs in der Produktion und Dienstleistung rund ums Auto verflochten sind. Das Statistische Bundesamt kommt zu einem sehr ähnlichen ­Ergebnis. Der VDA errechnet 1,46 Millionen. Macht zusammen rund 2,9 Millionen Jobs mit allen erdenklichen Verflechtungen – das heißt jeder 14. Arbeitsplatz.

So weit, so sicher? Keineswegs. Zwei grundsätzliche Einwände relativieren diese scheinbar klaren Werte. Dietmar Edler vom DIW gibt zu bedenken, dass mehr als die Hälfte der deutschen Automobilproduktion in den Export geht, also nicht von der deutschen Nutzung deutscher Automobile abhängt. Das relativiert das Jobargument in den Fällen, in denen es um staatliche Subventionen für die Automobilbranche im Heimatmarkt geht.

Mythos Arbeitsplätze ist absurd

Gravierender ist der Einwand des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung RWI. Der stellvertretende Leiter der Kompetenzgruppe Unternehmen und Innovation, Michael Rothgang, kommt in seiner Analyse lediglich auf 1,7 Millionen Beschäftigte inklusive Verflechtung. Das liegt daran, dass Rothgang seine Input-Output-Be­rechnungen lediglich auf den Herstellungsbereich anwendet. „Der Mythos von jedem siebten Arbeitsplatz gründet in ein paar absurden Annahmen“, begründet Rothgang seine Berechnung. Natürlich würden in Deutschland auch Straßen gebaut, Autos verkauft und repariert und Taxis gefahren, wenn es keine deutsche Autoindustrie gäbe. In den Niederlanden und in Österreich ist die Autodichte kaum geringer als im Autoland Deutschland. Daher könne man als Basis für die Beschäftigungswirkung der Automobilindustrie in Deutschland nur die Zahlen aus der Produktion heranziehen. Bei Lichte betrachtet ist also doch lediglich jeder 25. Arbeitsplatz von der deutschen Automobilproduktion abhängig.

Foto: Daimler MediaWie viele Jobs schafft dieser Smart?

Der VDA sieht das natürlich ganz anders. Zu den rund 2,9 Millionen aus Produktion, Dienstleistungen und Vorleistungen addiert der Verband munter drauf, bis er die fünf Millionen erreicht hat, die zur Begründung jedes siebten Arbeitsplatzes nötig sind. Fast 400.000 Jobs kommen aus einem ominösen Bereich Investitionen und indirekte Exporte. Kein Wissenschaftler, mit dem wir gesprochen haben, konnte sich diesen Bereich erklären. Weitere 660.000 Arbeitsplätze findet der VDA im Bereich Administration und Infrastruktur.

Jobs in der Umlaufbahn

Und weil das nicht reicht, müssen obendrein die „autonahen Berufe“ herhalten, Taxifahrer und Fernfahrer etwa. Das macht nochmal 1,24 Millionen Arbeitsplätze – und schon ist man bei 5,3 Millionen Jobs. Diese Zahl wird mit den lediglich 35 Millionen angestellten Arbeitnehmern ins Verhältnis gesetzt – et voilà! Damit beweist der VDA: Jeder siebte Arbeitsplatz hängt vom Auto ab.

Die Experten beim Statistischen Bundesamt nennen solche Rechenspiele „Satellitenmodelle“. Da wird alles in die Umlaufbahn geschickt, was einem bestimmten Thema irgendwie zugeordnet werden kann. Klar ist dann jedoch auch, dass es große Überschneidungen mit anderen Bereichen gibt. Mit anderen Worten, wenn alle so rechnen würden, hätte Deutschland am Ende 200 Millionen Arbeitsplätze.

Alte Industrien vernichten Arbeitsplätze

Das gebetsmühlenartige Wiederholen der großen Zahlen der Autolobby im Lande folgt der Methode der „self fulfilling prophecy“. Man muss eine möglichst einfache Zahl nur oft genug wiederholen, dann wird sie geglaubt und das Handeln strebt nach deren Erfüllung.

Was auf der Strecke bleibt, ist das Denken in Alternativen. Der Sinn automobiler Großprojekte wird nicht mehr in Frage gestellt, wer will schon jeden siebten Arbeitsplatz vernichten. Dabei liegt es auf der Hand, dass der sehr maschinenintensive Straßenbau kaum Menschen beschäftigt, der Bau von kleinteiligen Radwegen, Fußgängerbereichen oder Bahnsteigen dagegen viel Handarbeit erfordert.

Reinhard Haller vom Forschungsbereich Verkehrsplanung und Verkehrstechnik der Technischen Universität Wien hat sich mit den Beschäftigungswirkungen von Verkehrsinvestitionen befasst. „Die Hauptarbeit bei der Automobilität fällt bei der Herstellung des Autos selbst an“, sagt Haller, „und die wird immer mehr automatisiert.“ Beim öffentlichen Verkehr hingegen sei das Hauptarbeitsfeld der Betrieb der Busse, Bahnen, Bahnhöfe, Reisezentren oder Bahnhofsbuchhandlungen. Hinzu kommt, dass eine globale Autoindustrie überall auf der Welt Autos bauen könne. Der öffentliche Verkehr schaffe alle Arbeitsplätze stets in der Region.

Das zu lange Festhalten an überholten Industrien vernichtet Jobs am Ende. Zu beobachten ist das derzeit an der einfallslosen wie arroganten amerikanischen Autoindustrie. Auch Michael Rothgang vom RWI erinnert an den notwendigen Strukturwandel. Deshalb beschreiben die Beschäftigtenzahlen, die der Autoindustrie zugeschrieben werden, auch lediglich den Ist-Zustand. Abhängig seien die Jobs keineswegs vom Automobilbau. Wenn die Autonachfrage ausbleibe, würden all die betroffenen Arbeitnehmer nicht in eine Starre fallen, sondern sich nach und nach umorientieren. „Wandel ist auch eine Chance auf neuen Wohlstand“, sagt der Wirtschaftswissenschaftler.

1998 hat der VCD gemeinsam mit dem Öko-Institut diesen Wandel unter dem Titel „Hauptgewinn Zukunft – Neue Arbeitsplätze durch umweltverträglichen Verkehr“ berechnet. Das Zieljahr war 2010. Wenn das damals skizzierte „Move-­Szenario“ – mit teuererem Sprit und Kerosin, Investitionen in den öffentlichen Verkehr, Fuß- und Radverkehr, der Förderung von Carsharing, der massenhaften Verbreitung des Drei-Liter-Autos, der Integration von Rad, Bahn und Autoverkehr und der besseren Information der Menschen – heute Wirklichkeit wäre, hätten wir 30 Prozent weniger CO2 aus dem Verkehr und 200.000 Arbeitsplätze mehr. Noch ist es nicht zu spät, damit anzufangen.

Michael Adler

fairkehr 5/2023