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Ein Pfad führt über eine grüne Alm
Ein Junge gießt Pflanzen, die in einer Holzkiste wachsen
Eine Seilbahngondel schwebt über eine dicht bebaute Stadt

Reise 4/2010

Merkwürdigkeiten entdecken

Spaziergangsforscher Bertram Weisshaar erzählt, warum Tagebau-Landschaften wunderschön sind, er gern auf Parkhäusern geht und Spaziergänger immer wieder Überraschungen erleben.

Foto: www.istockphoto.deSpaziergangsforscher erkunden Orte, wo andere normalerweise nicht promenieren.

fairkehr: Herr Weisshaar, werden Sie schief angeguckt, wenn Sie sich als Spaziergangsforscher vorstellen?
Bertram Weisshaar: Nee, wieso denn? Jeder kennt doch das Spazierengehen, egal welchen Beruf er ausübt oder aus welcher Bildungsschicht er kommt. Aber viele fragen mich in der Tat: Was ist das? Der Begriff Spaziergangswissenschaft weckt auf jeden Fall das Interesse der Menschen.

Spaziergangsforschung klingt arg nach Seminar und wenig nach Müßiggang.
Sie ist ja auch eine ernste Angelegenheit. Die Spaziergangswissenschaft oder Promenadologie entstand in den achtziger Jahren an der Gesamthochschule Kassel im Seminar des Schweizer Soziologen Lucius Burckhardt und war im Studiengang Stadt- und Landschaftsplanung angesiedelt.

Wie sind Sie zum Spaziergangsforscher geworden?
Durch zwei Begegnungen. Zum einen mit Lucius Burckhardt. Ich erinnere mich beispielsweise an seinen Spaziergang für Studienanfänger durch den Park Wilhelmshöhe in Kassel. In dieser wunderschönen Parklandschaft sagte Burckhardt: Landschaft gibt es gar nicht! Sie gibt es nur bei uns im Kopf. Das Bild der Landschaft ist eine kulturell geprägte Erfindung: der Wald mit Vögeln im Hintergrund, die Wiese mit Kuh im Vordergrund. Die Autobahn und der moderne Milchtanklaster gehören nicht dazu.

Und Ihre zweite Begegnung?
Das war Mitte der neunziger Jahre der stillgelegte Braukohlentagebau bei Dessau. Dieser Ort wurde nicht als Landschaft erkannt, sondern nur als Landschaftszerstörung gesehen. Mich hat diese Landschaft aber elektrisiert, ich fand sie wunderschön.

Warum wunderschön?
Die besondere Vegetation, dort fängt die Evolution von null an. Die karge Erde, die dem Bild einer Wüste nahekommt. Diese transitorische Landschaft, durch permanente Veränderung der Erosion und der Pflanzen geprägt, fordert unmittelbar unsere Fantasie heraus. Man weiß: So, wie es ist, bleibt es nicht. Nur sehr wenige Landschaften sind derart bedeutungsoffen.

Was heißt das?
Normalerweise können wir uns den Wald nur als Wald denken, die Wiese ist die Wiese, der Parkplatz der Parkplatz. Wir kommen nur selten auf die Idee, darüber nachzudenken, wie unsere Lebenswelt statt der jetzigen Situation noch sein könnte. Hier setzt die Spaziergangswissenschaft an. Sie will anleiten, Umwelt bewusst zu machen, vom Sehen zum Erkennen zu gelangen, Landschaften sichtbar zu machen. Der französische Gartenarchitekt Bernard Lafuss sagt: Jede Gestaltung einer Landschaft birgt immer das Risiko, dass man eine vorhandene Landschaft zerstört, die man nur noch nicht erkannt hat.

Foto: Stefan CopBertram Weisshaar, 48, ist studierter Landschaftsplaner und Fotograf und arbeitet heute als Spaziergangsforscher in Leipzig.

Was unterscheidet den Spaziergangsforscher vom Sonntagsspaziergänger?
Der Spaziergänger genügt sich selbst, er macht eine Pause vom Alltag. Dem Spaziergangsforscher geht es darum, etwas zu erfahren, das Beobachtete zu reflektieren, einzuordnen, zu vermitteln. Und Orte zu erkunden, wo man sonst nicht spazieren geht.

Wo zum Beispiel?
Ich gehe gern auf Parkhäusern spazieren, weil man von dort schöne Ausblicke hat, oft sogar auf die historischen Altstädte. Traditionell ist der Wahrnehmungsmodus: Parkhäuser sind scheußlich, man will das Auto schnell loswerden, man guckt nicht nach links und rechts, weil es nichts zu sehen gibt. Seit einigen Jahren beobachte ich aber, dass Stadtstrände mit Palmen und Liegestühlen, die zunächst auf Baulücken entstanden sind, wegen der schönen Ausblicke zunehmend auf Parkdecks wandern, wie zum Beispiel in Frankfurt am Main, Braunschweig, Köln und Berlin.

Was ist denn der Unterschied, ob ich mit einem normalen Stadtführer gehe oder mit Ihnen eine Stadt erkunde?
Der klassische Stadtführer vermittelt historische Daten, zeigt die bekannten Sehenswürdigkeiten, Denkmäler und Bauwerke. Mir geht es vor allem um Merkwürdigkeiten oder Denkwürdigkeiten, um eine Auseinandersetzung mit der Stadtbaukultur, um ein räumliches Verständnis der Stadt. Dazu gehören auch unbeachtete Orte wie zum Beispiel Brach­flächen. Bei einem Spaziergang waren einige Leipziger zunächst stinkig, weil sie meinten, ich wolle ihnen eine Dreckecke vorführen. Doch dann erkannten sie diesen Ort als einen ganz eigenen Raum, den man auch ästhetisch erleben kann.

In Berlin führen Sie Gruppen nicht über die Flaniermeile der Friedrichstraße, sondern durch das verkehrsumtoste Autobahn-Dreieck am Funkturm.
Wenn man dort zu Fuß unterwegs ist, erlebt man eine ganz andere Realität als im Auto, obwohl man am selben Ort ist. Als Spaziergänger erleben wir die Gegend als Patchwork mit vielen Kontrasten und Überraschungen: stillgelegter Autobahn­zubringer, Golfplatz, Bahnbrache, Friedhof Grunewald. Zum Beispiel liegen 100 Nackte auf der FKK-Wiese am Halensee, direkt daneben staut sich der Verkehr auf der meistbefahrenen Autobahn Deutschlands, der A 100 mit zwölf Fahrspuren. Dieses Nebeneinander zu entdecken und zu begreifen, geht am einfachsten zu Fuß.

Wollen Sie mit Ihren Spaziergängen auch politisch etwas bewegen?
Es geht schon um eine kritische Ausein­andersetzung mit der Realität – die Modernisierung der Städte und ihre Herrichtung für den Autoverkehr – und das Aufzeigen von Alternativen. In den vergangenen dreißig Jahren hat sich der Pkw-Bestand in Deutschland verdoppelt. Aber wir leben heute nicht besser, also könnten wir den Bestand in den nächsten zwanzig Jahren wieder um die Hälfte zurückfahren und hätten wieder doppelt so viel Platz und freie Sicht in unseren Städten. Das wäre eine Befreiung wie damals, als die Stadtmauern und -befestigungen abgerissen wurden.

Eine schöne Utopie. Wie könnte man diese Trendwende bewerkstelligen?
Ein Beitrag hierzu ist möglich durch Car­sharing, das in großen Städten bereits gut funktioniert. Ein Carsharing-Fahrzeug ersetzt acht bis zwölf private Autos. Bei einem Spaziergang in Frankfurt wurde dieses Umdenken sinnbildlich inszeniert: An einem Verkehrserziehungs-Garten stand ein platt gedrücktes, schrottreifes Auto neben einem Carsharing-Fahrzeug. Die jetzt heranwachsende Generation muss im Verkehrsgarten insbesondere einen anderen Umgang mit Mobilität erlernen.

Interview: Günter Ermlich

Bertram Weisshaar initiiert Projekte in ganz Deutschland.

fairkehr 5/2023