fairkehr VCD-Magazin für Umwelt, Verkehr, Freizeit und Reisen

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Ein Pfad führt über eine grüne Alm
Ein Junge gießt Pflanzen, die in einer Holzkiste wachsen
Eine Seilbahngondel schwebt über eine dicht bebaute Stadt

Reise 3/2010

Ruhrpott original

Etwas abseits der Touristenpfade treffen Revier-Besucher auf Perlen, Profigriller und Projektkünstler.

Foto: Matthias Duschner/Stiftung ZollvereinVom Bett aus blicken Gäste der „Ruhrpott-Perle“ Ingegret Josefs auf den Doppelbock der Zeche Zollverein in Essen.

Schlafen unterm Förderturm

Ingegret kommt aus dem Germanischen und bedeutet „die von Ingolf geschätzte Perle“. Wenn Ingegret Josefs das erzählt, lacht sie. Überhaupt lacht die Ruhrpott-Perle viel und gern, wenn sie ihren Gästen Dönekes erzählt. Sie ist das personifizierte Lokalkolorit. Frau Josefs vermietet in ihrem Haus von 1919 die 63 Quadratmeter große Dachgeschosswohnung komplett an Touristen. Sie gehört zu den 56 Vermietern, die im Essener Norden Unterkünfte im ehemaligen Zechenmilieu anbieten. Zwischen 20 und 60 Euro pro Nase kostet die Nacht.

Seit Zollverein Touristik im Jahr 2002 das Projekt „Übernachten unterm Förderturm“ rund um das Weltkulturerbe Zeche Zollverein startete, ist die Nachfrage nach Privatquartieren gestiegen. In diesem Jahr verzeichnet Zollverein Touristik bereits 2500 Übernachtungen. Die Kulturhauptstadt Ruhr.2010 zieht viele Besucher in die „Metropole Ruhr“.

Vom Bett aus können Ingegret Josefs’ Gäste auf den imposanten Doppelbock, das Fördergerüst über Schacht 12 der Zeche Zollverein, blicken. Wenn sie das viele Grün bestaunen – „Sie haben ja Bäume!“ –, kontert die 69-Jährige trocken: „Wir haben sogar fließend Wasser!“ Meist hat sie „guten Mittelstand“ zu Besuch, auch Herrschaften, die sonst wohl nur „im Sheraton“ logieren. Daher legt die Vermieterin Wert auf guten Service. Besonders preist sie ihr „Fünf-Sterne-Frühstück“ mit Rosenthal-Geschirr, nichts von Aldi, alles frisch, Wildschwein­schinken und Wasabi-Käse, 100-prozentiger Orangensaft. Ihre Gäste schät­zen das. Letztens schenkte eine Berliner Familie ihr sogar einen kleinen Hollywood-Oscar.

Zollverein-Touristik, Tel.: (0201) 8605940, www.zollverein-touristik.de

Foto: Günter ErmlichProfigriller Raimund Ostendorp ist 16 Stunden am Tag am Grill präsent.

Der Profi-Grill

Die Pommesbude liegt an der Bochumer Straße in Bochum-Wattenscheid. Graue Häuser, Durchgangsverkehr, Straßenbahnschienen. Hartz-IV-Land. 45 Quadratmeter Schnellimbiss: links die Küchenzeile und Theke, in der Mitte zwei Stehtische, rechts vier Tische (karierte Wachstischdecken, Plastikblumen) mit Stühlen und Sitzbank unterm Fenster. Ein Spielautomat. An den Wänden Rahmen mit Zeitungsausschnitten, Urkunden und Pommes-Wurst-Motiven.

„Eine Bude muss einfach sein“, sagt Raimund Ostendorp. Gründlich satt hat der 42-Jährige, ein Schlaks mit welligem Haar, die Medienberichte mit dem Mantra: „Drei-Sterne-Koch betreibt Imbissbude.“ Denn er war nie Sternekoch, sondern er kochte in einem Düsseldorfer Sternerestaurant. Mit 21 Jahren, 1990, stieg Ostendorp aus – zu viel Stress und Chichi, kein Kontakt zu den Gästen. Er machte sich mit dem Profi-Grill selbstständig. Statt Trüffel und Gänseleber nun also Wurst und Pommes.

12 Uhr mittags. Die Bude ist rappelvoll. Rücken an Rücken sitzen Metallbauer in Arbeitskluft und zwei ältere Ehepaare aus Aachen im feinen Zwirn. Der Ruhrpott-Klassiker Currywurst-Pommes- Mayo, dazu ein Petersilienblatt, ist der Renner. Im Profi-Grill ist alles paletti, nichts Außergewöhnliches. Ostendorp selbst macht den Unterschied: seine positive Aura – „Ich bin ein Menschenfreund“ –, seine Präsenz am Grill mit 16- Stunden-Tagen, seine Kunst zu kommunizieren. Hier ein Handschlag, da ein Schwätzchen: „Isses lecker?“, „Wars gut?“ Nachbarn und Touristen, Grundschüler und Greise, Arbeitslose und Manager, alle kommen vorbei. „Dieses Wir-Gefühl des Ruhrgebiets“, sagt Ostendorp, „zeigt man Leuten von außen am besten, wenn man zu mir essen kommt.“

Profi-Grill, Bochumer Straße 96, 44866 Bochum-Wattenscheid, www.profi-grill.de

Foto: Günter ErmlichHauptsache kreativ: Im Unperfekthaus ist fast alles erlaubt.

Das Unperfekthaus

Das Unperfekthaus, kurz UPH, liegt mitten in der Essener Innenstadt. 4.000 Quadratmeter groß, sieben Etagen hoch. Alles ist kreatives Chaos. Das bunt besprayte Treppenhaus, das neongrelle Erlebnis-WC, die Lounge mit Sofas und riesiger TV-/PC-Leinwand, Kicker und Tischtennisplatte auf den Fluren. Der Unternehmer Reinhard Wiesemann ließ ein ehemaliges Franziskanerkloster zum Künstlerzentrum umbauen. Seine Idee: Eine unperfekte Umgebung schafft mehr Raum für Kreativität. Das UPH soll Sprungbrett für Existenzgründer und Künstler sein. In der ehemaligen Klosterkapelle spielt eine Death-Metal-Combo, Mädchen auf Inlineskates proben den Starlight Express.

Jeder kann übers Internet ein Projekt anmelden. Die Projekte müssen lediglich kreativ, öffentlich und legal sein. „Wir sind da sehr pragmatisch, echte Ruhrgebietskinder“, sagt Pressesprecher Markus Urselmann. Zurzeit gibt es etwa 400 Projekte von Musikern, Bildhauern, Näherinnen, Sprayern, Ernährungsberatern, Tarot-Kartenlegern. Alle zahlen nur 45 Euro für drei Monate, um einen Raum inklusive Technik zu mieten.

Für 5,50 Euro Eintritt können Besucher zuhören und zusehen, im Café beliebig viele alkoholfreie Getränke trinken, Spiele und Internet nutzen.

Unperfekthaus, Friedrich-Ebert-Str. 18, 45127 Essen-City, www.unperfekthaus.de

Günter Ermlich

fairkehr 5/2023