fairkehr VCD-Magazin für Umwelt, Verkehr, Freizeit und Reisen

Obere Wilhelmstraße 32 | 53225 Bonn | Telefon (0228) 9 85 85-85 | www.fairkehr-magazin.de

Ein Pfad führt über eine grüne Alm
Ein Junge gießt Pflanzen, die in einer Holzkiste wachsen
Eine Seilbahngondel schwebt über eine dicht bebaute Stadt

Reise 2/2010

Immer anne Ruhr lang

Ruhrgebiet und Sauerland wollen mit dem Ruhrtalradweg in die erste Liga der Radfernwege aufsteigen. Sie setzen auf den einzigartigen Spannungsbogen von der Mittelgebirgslandschaft Sauerland zum industriellen Ballungsraum Ruhrgebiet.

Foto: Günter ErmlichIn Arnsberg wurde die Ruhr renaturiert und ihrem natürlichen Lauf überlassen. Der Radweg führt hier direkt am Wasser entlang.

Auch an diesem sonnigen Samstagmorgen ist der Dortmund-Sauerland-Express wieder pickpackevoll. Über 100 Räder mit ihren Fahrerinnen und Fahrern spuckt der Regionalzug am Bahnhof Winterberg aus. Denn hier beginnt der Ruhrtalradweg. Einige wollen nur eine Tagesetappe machen, andere wollen wie wir die Ruhr drei Tage auf dem Radweg begleiten, bis sie in Duisburg in den Rhein mündet. 230 Kilometer liegen vor uns.

Wie jeder richtige Fluss fängt auch die Ruhr klein an. Ein dünner Strahl wie aus dem Wasserhahn. Die Ruhr entspringt auf 674 Metern am Nordhang des Ruhrkopfs im Hochsauerland. Die Quelle war bis vor kurzem ein Ort der Bescheidenheit: Eine gemauerte Einfassung, ein Gedenkstein von 1849, ein paar Sitzbänke. Seit aber tausende Radler die Quelle ansteuern, wurden die ersten Flussmeter renaturiert und umgestaltet: Man fällte Bäume und lichtete dichte Gehölze, entfernte Rohre, sanierte die Einfassungsmauern und legte einen Steg an.

Die ersten Kilometer schlängelt sich das Bächlein, nach dem später ein ganzes Gebiet benannt ist, plätschernd durch die Wiesen. Nebenan auf der B 480 brum­men mit Baumstämmen beladene Laster und röhren motorisierte Biker in schwarzer Kluft. Meist radeln wir oberhalb der Ruhr auf Schotterwegen durch den Wald, dazwischen liegen lichte Hänge, entweder kahl rasiert oder mit Bartstoppeln von Baum­stümpfen. War es Orkan Kyrill oder Sturmtief Emma, die hier ganze Arbeit geleistet haben?

Hinter Niedersfeld, dem ersten Dorf an dem jungen Flüsschen, ragt ein Achthunderter auf. Der Langenberg, Nordrhein-Westfalens Höchster. Ein Pulk grellbunter Radrennfahrer, der durch Assinghausen rast, hat keine Augen für das Golddorf, das 1989 den Bundeswettbewerb „Unser Dorf soll schöner werden“ gewann. Herausgeputzte Häuser aus Fachwerk und Schiefer, jedes zweite ein Gasthaus oder eine Ferienwohnung. Es riecht förmlich nach Erholung.

Ruhr, wo bist du?

Wiesenhänge und Mischwälder, Schafe und Kühe, Scheunen und Holzstapel säumen den Weg. So weit, so schön. Doch im Sauerland geht die Radroute oft auf Distanz zum inzwischen schon fünf Meter breiten Fluss. Ruhr, wo bist du? Das Gefühl, an einem Fluss entlangzuradeln, wie man es zum Beispiel von der Elbe oder dem Main kennt, will sich nicht einstellen. Kein Wunder: Nur zu zwölf Prozent führt der Weg am Wasser entlang. Später im Ruhrgebiet sind es immerhin 44 Prozent. Stellenweise verlässt der Weg die Talsohle, dann müssen wir den Berg hochasten. Stellenweise verläuft er lange Kilometer eintönig an einer Bundesstraße. Schnell durch hier.

Sattsehen können wir uns an den Kulturen von Nadelhölzern. Denn Sauerland ist Christbaumland: Jeder vierte deutsche Weihnachtsbaum kommt aus dem „Land der 1000 Berge“. In vielen Orten werben Plakate für eine weitere Spezialität der Gegend: die Schützenfeste und Kinderschützenfeste der Schützenbruderschaften.
Unter der Regie des Regionalverbands Ruhr haben in zwei Jahren 23 Anrainerstädte- und Gemeinden im Ruhr-gebiet und Sauerland gemeinsam die Infrastruktur der Wege verbessert und aus großteils bereits bestehenden Strecken einen durchgehenden, inzwischen gut beschilderten Fernradweg entwickelt. Seit der Eröffnung im Jahr 2006 wurden neue Wegabschnitte auf ausgedienten Bahntrassen angelegt und schlechte Uferstrecken asphaltiert, eigene Radbrücken über verkehrsreiche Straßen geführt, touristische Infotafeln aufgestellt und schließlich die gesamte Route eindeutig ausgeschildert.

Die Tourismusstrategen von Ruhrgebiet und Sauerland wollten mit der Ruhrroute möglichst schnell in die erste Liga der Radfernwege von Elbe und Weser, Main und Donau aufsteigen. Sie setzen auf den einzigartigen Spannungsbogen von Natur und Kultur, von der Mittelgebirgslandschaft Sauerland zum industriellen Ballungsraum Ruhrgebiet, von Wäldern, Heide und Mooren, Burgen und Fachwerkstädtchen zu den „Erlebnisstationen“ der vergangenen Kohle- und Stahlzeit wie der Henrichshütte in Hattingen, der Kruppschen Villa Hügel in Essen und dem von August Thyssen gebauten Wasserturm in Mühlheim.

Rund 100000 Freizeitradler waren 2009 auf dem Ruhrtalradweg unterwegs. Laut Radreiseanalyse 2010 des Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Clubs (ADFC) steht er auf Rang 12 der beliebtesten Radfernwege hierzulande. Im Januar zeichnete ihn der Radfahrerverband als „ADFC-Qualitätsradroute“ mit vier Sternen aus, vor allem wegen der abwechslungsreichen Routenführung mit zahlreichen Attraktionen am Wegesrand sowie der Anbindung der Strecke an öffentliche Verkehrsmittel.

Foto: Günter ErmlichDie kleine Fähre Hardenstein setzt an Spitzentagen bis zu 2000 Personen ans andere Flussufer über. Die Wasserkraft der Ruhr treibt das extra für den neuen Radweg gefertigte Schiffchen an­: Es hängt an einem Seil über dem Fluss und nutzt die Strömung.

Nette Dönekes geben dem Weg die Würze

Wir sind jetzt reif für Meschede.  In der Sauerländer Landbäckerei will es eine neugierige Kundin wissen: Sind Sie Radfahrer? Ja. – Fahren Sie kein Auto? Doch! – Aber Radfahren bei schönem Wetter ist schöner, woll?! Sicher! Hinter Freienohl, wo die Ruhr lieblich mäandert, sucht eine Einheimische Anschluss. Die flotte 50-plus-Raddame dreht ihre Feierabendrunde. In Oeventrop leitet sie uns – ein kleiner Abstecher – durch die „Negersiedlung“. „Die heißt so, weil hier alle Häuser schwarz gebaut wurden.“

Vor uns liegt Arnsberg, das heutige Etappenziel, mit seiner mittelalterlichen Altstadt, auf dem Bergrücken thront die kurfürstliche Schlossruine. Unsere Raddame macht leider kehrt. Denn nette Dönekes einheimischer Mitradler geben dem Weg die Würze. Das Hotel Menge an der Schlacht gehört zum Netzwerk der radfahrerfreundlichen „Qualitätsbetriebe Ruhrtalradweg“ und bietet eine feine regionale Küche an. Die Besitzerin Monika erzählt beim Frühstück, dass an schönen Tagen nicht nur ihr Hotel, sondern ganz Arnsberg voller Ruhrradler sei. Reservierung empfohlen.

Vom Sauerland hinein ins Herz des Ruhrgebiets

Niedereimer, Obereimer, Bruchhausen. Ruhr, wo bist du? Wir passieren Industrie- und Gewerbegebiete, Wohnsiedlungen, Waldstücke. Ab Neheim haben wir endlich wieder Kontakt zur Ruhr – allerdings auch zur Autobahn, die, nur durch eine grüne Wand getrennt, neben uns rauscht. Von einer Holzkanzel – „Station zur Beobachtung einer naturnahen Fließstrecke der Ruhr“ – überblicken wir die Ruhraue Bachum, wo der Fluss seinem natürlichen Lauf überlassen wurde. Steilufer brachen ab, eine kleine Insel entstand.

Sauerland ade, willkommen im Ruhrgebiet. Ab jetzt verläuft der Radweg meist am Flussufer. Schön und eben. Wir passieren goldgelbe Rapsfelder, sattgrüne Wiesen und mausgraue Äcker, Herrenhäuser und Wasserschlösser, Ruhr-auen, in denen Eisvögel nisten und Kröten laichen. Essen selbstgebackenen Kuchen auf dem Biolandhof Ohler Mühle und trinken ein Radler in der ehemaligen Pumpstation Rohrmeisterei. An der ehemaligen Zeche Nachtigall kommen auch wir nicht vorbei. Die Wiege des Ruhrbergbaus im lauschigen Muttental bei Witten, die erste Tiefbauzeche des Reviers, aus der das „schwarze Gold“ zutage gefördert wurde, ist heute ein attraktives Industriemuseum mit Zechen- und Ziegeleigebäuden, Besucherstollen und Bethaus der Bergleute.

Kampf der Freizeitsportkulturen

Ein paar Radlängen weiter bringt uns die kleine Fähre Hardenstein, die nach der nahen Burgruine benannt ist, ans andere Flussufer zur Schleuse Herbede. Das mit Wasserkraft betriebene, extra für den neuen Radweg gefertigte Schiffchen setzt an Spitzentagen bis zu 2000 Personen über, erzählt der Fährmann. Zwischen Bochum und Essen radeln wir ganz entspannt auf alten Leinpfaden, auf denen im 19. Jahrhundert Arbeitspferde die Kohlekähne stromaufwärts treidelten. Knorrige Weiden tauchen ihre Äste ins Wasser, Schwäne und Kanuten teilen sich den Fluss. Diesseits ruft ein Kuckuck, jenseits quaken Frösche.

Das alles ändert sich schlagartig am Essener Baldeneysee, einem von fünf Stauseen im Mittleren Ruhrtal. Vor allem bei Wochenend und Sonnenschein wie heute. Dann tobt der Kampf der Freizeitsportkulturen: Fußgänger und Radfahrer, Jogger und Inlineskater kommen sich trotz des breiten Weges am Hardenbergufer ziemlich nah, manchmal auch böse in die Quere. Tack, tack, tack stöckelt eine Nordic-Walking-Kampftruppe in breiter Front über den Asphalt. „Die kannze alle inne Tonne kloppen“, mosert eine gewöhnliche Spaziergängerin. Am Haus Scheppen, früher ein adliges Lehnsgut, gesellt sich noch die Biker-Fraktion dazu, viele Ledermänner und -frauen aus DU, MH, OB und BO mit ihren knatternden Kisten.

Bei Kettwig hat sich die Ruhr ausgestaut. Vorbei an eingezäunten Flächen zur Wassergewinnung führt jetzt der holprige Schotterpfad auf die Autobahnbrücke aus turmhohen Betonstelzen zu, die das weite Flusstal überspannt und die Bauernhäuser und Pferdekoppeln darunter wie Märklin-Spielzeug aussehen lässt. In Mülheim haben die Planer den Radweg mit viel Geschick zusammengepuzzelt, er führt durch den Schlossgarten Broich und über den Naturlehrpfad, durch die Styrumer Ruhraue zum imposanten Wasserturm mit dem multimedialen Aquarius Wassermuseum.

Foto: Günter ErmlichEine alte Eisenbahnbrücke überspannt die Idylle der Ruhrauen bei Oberhausen.

Die junge Radroute kann noch besser werden

Es dämmert schon. Zeit zum Endspurt. In Duisburg-Ruhrort wird die Ruhr im labyrinthischen Hafengebiet noch einmal industriell hart rangenommen. Wir finden unseren Weg auf dem geschotterten Deich zwischen Fluss und Rhein-Herne-Kanal, zwischen Hafenarmen und Schleusenbecken mit Blick auf Halden von Kohle und Altmetall, Containertürme und Dutzende von Kränen. Dann verschwindet die Ruhr im Rhein. Von der Promenade mit der Schifferbörse und dem Museumsschiff Oskar Huber schauen wir auf die mächtige Stahlstele Rheinorange, eine Landmarke, die das Flussende signalisiert.

Die alte Ruhr hat alles gegeben, sie war Energiequelle und Wasserlieferant, Transportweg und Erholungsraum. Die junge Radroute an ihrer Seite hat hingegen noch Luft nach oben. Über Angelika, dem rheinabwärts tuckernden Lastkahn, taucht die Sonne zartrosa ins Wasser. Auf einer Decke sitzen zwei junge Türkinnen, vor ihnen liegen Schulhefte, die eine gibt der anderen Nachhilfe in Deutsch. „Es heißt: Meine Eltern warten auf mich. Auf wen warten sie? Auf mich. Verstehst du?“

Wir beißen in eine Currywurst, dann ist auch für uns Schicht im Schacht.

Günter Ermlich

fairkehr 5/2023