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Ein Pfad führt über eine grüne Alm
Ein Junge gießt Pflanzen, die in einer Holzkiste wachsen
Eine Seilbahngondel schwebt über eine dicht bebaute Stadt

Editorial 6/2009

Fangen wir doch einfach an

Foto: Marcus Gloger

Würden Sie sich einer Operation unterziehen, bei der 20 Prozent der Patienten sterben? Oder doch lieber einer, bei der die Überlebenschance bei 80 Prozent liegt? Forscher der New Yorker Columbia-Universität legten diese beiden Fragen ganz unterschiedlichen Menschen vor. Unabhängig vom Bildungsstand entschied sich die weit überwiegende Mehrheit für die zweite Variante. Menschen entscheiden sich eher für eine Sache, wenn sie zuerst die Vorteile erfahren und dann die Kosten.
In der Debatte um den Klimawandel läuft aktuell also einiges falsch. Überflutete Küstenstädte, zerstörerische Stürme, wüstenartige Trockenheit – ein Katastrophenszenario jagt das andere. Was fehlt, ist die positive Beschreibung einer umweltschonenden Zukunft.

Der Ex-Feuilleton-Chef der Süddeutschen Zeitung, Andreas Zielcke, verglich die Menschheit mit „Buridans Esel“. Das bedauernswerte Langohr stand zwischen zwei gleich großen und gleich weit entfernten Heuhaufen, und weil es sich nicht entscheiden konnte, verhungerte es schließlich. Diese klassische Dilemma-­Situation stellt sich in der Klima­debatte mit umgekehrten Vorzeichen: Leben wir weiter wie bisher, kommt die Klimakatastrophe über unsere Kinder und Enkel. Verzichten wir auf die Segnungen unseres fossil befeuerten Wohlstandes, dann, so denken viele, haben wir es schon heute schrecklich unkomfortabel. Dazwischen steckt der moderne Mensch fest und bockt wie ein Esel.

Hinzu kommt, dass Politiker nach vier bis fünf Jahren wiedergewählt werden wollen. Langfristige Probleme kann man da getrost vertagen. Kurzfristige Einschränkungen, wie ein Tempolimit etwa, gefährden womöglich die Wiederwahl.

Genau hier beginnt die Verantwortung eines jeden Einzelnen. Fangen wir doch einfach an mit der Veränderung. Definieren wir Wohlstand neu.

Wenden wir uns den 80 Prozent Überlebenschance zu. Luxus ist, mit dem Fahrrad durch frische Luft zur Arbeit zu fahren. Ein Gewinn ist, mit Solarenergie heiß zu duschen und mit einem Hybrid-Auto, das weniger als 100 Gramm CO2 pro Kilometer in die Luft bläst, ganz leise unterwegs zu sein. Sie fühlen sich frei, wenn Sie am allmorgendlichen Stau in der neuen Stadtbahn vorbeigleiten. Es ist ein Erlebnis, in der Abenddämmerung von Kopenhagen über den Großen Belt im Nachtzug zu schweben. Vergessen Sie verstopfte ­Autobahnen, rote Ampeln und zu viele Pfunde durch Bewegungsmangel. Der scheinbare Verzicht ist der wahre Luxus. Leben Sie anders, aber nicht schlechter.

Zeigen wir unseren Politikern, dass wir längst weiter sind, als sie denken. Deren mutige Unterstützung für einen klimaschonenden Lebensstil sollte nach vier Jahren belohnt werden, auch wenn die eigentlichen Früchte erst in ein oder zwei Generationen geerntet werden.

Gute Vorsätze fasst man gewöhnlich zu Neujahr. Sie können dieses Jahr ausnahmsweise aber auch schon während der wahrscheinlich enttäuschend verlaufenden Kopenhagener Weltklimakonferenz damit beginnen.

Frohe Festtage wünscht Ihnen

Michael Adler

fairkehr 5/2023