fairkehr VCD-Magazin für Umwelt, Verkehr, Freizeit und Reisen

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Ein Pfad führt über eine grüne Alm
Ein Junge gießt Pflanzen, die in einer Holzkiste wachsen
Eine Seilbahngondel schwebt über eine dicht bebaute Stadt

Reise 2/2009

Die Welt ist ein Zugabteil

Das Interrail-Ticket verhalf einer ganzen Generation von Jugendlichen zum Ausbruch aus der ­elterlichen Ferienobhut. fairkehr-Chefredakteur Michael Adler, Jahrgang 1962, reiste im Sommer 1982 mit Interrail durch Europa. 

Am 11. Juli 1982 besteige ich den Venezia-Express von Athen nach Venedig. Geplante Fahrtzeit 42 Stunden, über Thessaloniki, Belgrad, Trieste. Das Endspiel Deutschland–Italien um die Fußballweltmeisterschaft ist gerade angepfiffen.

Das Ergebnis werde ich erst einmal nicht erfahren. Der Gedanke daran hat sich allerdings bald verzogen. In dem übervollen Interrail-Zug entsteht sowieso eine Welt für sich. Zufallsgemeinschaften entwickeln sich auf engstem Raum. Das wenige Essen und Trinken, das ich kurz vor der Abfahrt noch gekauft habe, teile ich brüderlich mit den anderen Jungs und Mädels in meinem Abteil. Wir tauschen Geheimtipps aus, geben unglaubliche Reisegeschichten vom Nordkap bis Tanger in Marokko zum Besten. Fast ließe sich der Begriff „Interrail-Latein” erfinden, so viele Abenteuer werden bunt ausgeschmückt. Die Abteile sind noch alle mit praktischen Ausziehsitzen bestückt, so dass wir schnell und problemlos eine große Liegefläche schaffen.

Zu siebt oder acht teilen sich meine Mitreisenden die Schlafstatt. Ich klettere mit meiner Isomatte lieber ins Gepäcknetz. Es ist heiß im Hochsommer auf dem Balkan. Klimaanlagen sind eine Erfindung der ferneren Zukunft. Dafür können wir die Zugfenster noch einfach öffnen – ein frischer Hauch weht durch unsere kleine Welt, das Zugabteil. Man kommt sich näher auf einer solchen Reise, die Zufallsgemeinschaften werden zu Schicksalsgemeinschaften – besonders, als nach 36 Stunden die Nahrungsmittel langsam knapp werden. Am 13. Juli 1982 überquere ich die Grenze zwischen ­Jugos­lawien und Italien – schlafend im Gepäcknetz. Die sonst sehr harten Ostgrenzer haben mich schlicht übersehen. Kurze Zeit später kontrolliert ein italienischer Zoll­beamter unsere Pässe. Ein breites Grinsen tritt auf sein Gesicht. „Italia tre, Germania uno“, sagt er. Da weiß ich endlich, dass unsere Jungs das Finale verloren haben.

Michael Adler

fairkehr 5/2023