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Ein Pfad führt über eine grüne Alm
Ein Junge gießt Pflanzen, die in einer Holzkiste wachsen
Eine Seilbahngondel schwebt über eine dicht bebaute Stadt

Politik 2/2009

„ÖPNV muss man lernen“

Wer erst im hohen Alter auf Bus und Bahn umsteigt, findet sich nicht mehr zurecht, sagt ­Verkehrsforscherin Birgit Kasper. Projekte wie das Kölner Patenticket erleichtern den Wechsel.

Foto: Birgit KasperDie persönliche Beratung durch ihre Paten kam bei den Patenkindern gut an: Etwa 30 Prozent abonnierten nach Projektende das Seniorenticket der KVB. 

Frau Kasper, beim Projekt Patenticket bekamen erfahrene ÖPNV-Kunden über 60 Jahre eine drei Monate gültige Netzkarte von den Kölner Verkehrs-Betrieben KVB. Dieses Ticket sollten sie Gleichaltrigen mit wenig ÖPNV-Erfahrung schenken und sie beim Bus- und Bahnfahren unter ihre Fittiche nehmen. Warum haben Sie auf solche Tandems gesetzt?
Bus- und Bahnfahren muss ebenso gelernt werden wie Autofahren. Und Menschen lernen am besten durch persönliche Ansprache, erst recht von Personen, denen sie vertrauen. Viele Paten haben großes Engagement entwickelt, ihre Patenkinder zum Ausprobieren zu bewegen und sie bestmöglich zu beraten.

Hat das Projekt denn bei den Patenkindern wirklich zum Umdenken geführt?
Bei sehr vielen hat sich die Einstellung zum ÖPNV geändert, weil sie mit der Zeit Sicherheit gewonnen haben. Einige Pkw-Besitzer haben danach gesagt: „Das war unser letztes Auto, wir behalten es nur noch, bis der TÜV uns scheidet.“ Unter ihnen war ein ehemaliger Ford-Mitarbeiter. Er ist sein Leben lang nur Auto gefahren und war begeistert, wie mobil man mit Bus und Bahn sein kann. Viele Patenkinder merkten: Das Ticket in der Tasche animiert zu Aktivitäten. Man trifft sich spontan in der Stadt oder fährt zu einer Veranstaltung, bei der man vorher wegen Parkplatzsuche oder Spritkosten zweimal überlegt hat.

Foto: TU DortmundBirgit Kasper, 41, arbeitete von 2007 bis 2009 am Fachgebiet Verkehrswesen und Verkehrsplanung der Technischen Universität Dortmund. Die Frankfurterin pendelt mit BahnCard 50 und Faltrad zur Arbeit und zurück.

Nutzen die ehemaligen Probanden jetzt weiterhin Bus und Bahn?
Fast ein Drittel der Patenkinder hat im Anschluss das Aktiv-60-Ticket der KVB abonniert. 50 Prozent der Patenkinder, die sich – noch – kein Jahresabo zugelegt hatten, gaben an, künftig häufiger Bus und Bahn zu fahren.

Warum investieren Verkehrsunternehmen wie die KVB in Forschungsprojekte wie das Patenticket?
Es kommen immer mehr Menschen in ein höheres Alter, die mit dem Auto aufgewachsen sind und kaum Erfahrungen mit dem ÖPNV gesammelt haben. Um diese wachsende Zielgruppe müssen sich die Verkehrsunternehmen und -verbünde bemühen. Hinzu kommt: Wer so lange das Auto nutzt, bis es körperlich oder geistig nicht mehr geht, wird es sehr schwer haben, dann noch Routinen im Bus- und Bahnfahren zu entwickeln.

Kann das Patenticket ein Vorbild für andere Städte sein?
In Kommunen mit einem guten öffentlichen Verkehrsnetz sollte das Konzept funktionieren. In kleineren Kommunen müsste man es ausprobieren. Wichtig ist die persönliche Ansprache der Paten, beispielsweise in Informationsveranstaltungen, damit sie Vertrauen gewinnen und für die Idee begeistert werden.

Lohnt sich dieser Aufwand für die Verkehrsunternehmen wirklich?
Auf jeden Fall. Die KVB hat nicht nur in puncto Imagegewinn, sondern auch finanziell von dem Projekt profitiert. Es wird mehr Geld durch die neuen Abos eingenommen, als die Verkehrsbetriebe investieren mussten.

Aber würde dafür nicht auch eine „herkömmliche“ Imagekampagne reichen?
So eine Plakatkampagne kostet schnell mal 30000 Euro. Und am Ende ist ungewiss, wie viele Menschen sie überhaupt erreicht hat.

Was wünschen sich Senioren vom ÖPNV?
Den Patenkindern, alle aus dem städtischen Raum, ist wichtig, dass Bus und Bahn pünktlich und zuverlässig sind. Die Haltestellen sollen von der Wohnung aus gut erreichbar, sauber und sicher sein. Ältere Menschen bevorzugen eher die Straßenbahn mit einem ebenerdigen Einstieg als U-Bahn-Systeme mit mehrgeschossigen Knotenpunkten und langen Wegen. Wichtig sind persönliche Ansprechpartner. Viele Senioren kaufen ihr Ticket lieber am Kiosk als am Automaten, in der Sorge, womöglich etwas falsch zu machen und unfreiwillig schwarzzufahren. Sicher und bequem anzukommen ist ihnen wichtiger als schnell am Ziel zu sein. Viele Patenkinder haben erkannt, dass das mit einem ÖPNV-Abo möglich ist, und es hat sie überrascht: Ich habe mein Ticket, steige ein und fahre los.

Interview: Kirsten Lange

Gute Beispiele

Das Patenticket der KVB

Für das vom Bundesverkehrsministerium geförderte Modellprojekt, das die Technische Universität Dortmund gemeinsam mit dem Büro bkforschung aus Frankfurt am Main und den KVB umsetzte, wurden im November 2007 etwa 120 Jahreskarten-Abonnenten zwischen 60 und 92 Jahren als Paten gewonnen. Sie erhielten eine drei Monate lang gültige Zeitkarte für Bus und Bahn, die sie an ein ebenfalls über 60-jähriges Patenkind verschenken sollten. Während dieser Zeit unterstützten die Paten ihre Patenkinder beim Bus- und Bahnfahren, begleiteten und berieten sie. Ein Großteil der Patenkinder nutzte den ÖPNV anschließend häufiger als zuvor.
www.patenticket.info

Zwei zum Preis für eine

Einige Verkehrsverbünde bieten Abo­tickets an, mit denen Kunden ab 60 zu zweit fahren können. Beim Bielefelder Verkehrsunternehmen moBiel heißt es Abo 60plus und kostet 45 Euro. Nach 19 Uhr, am Wochenende und an Feiertagen lassen sich fünf weitere Personen mitnehmen. Im Bielefelder Nachtbus bzw. Nachtexpress der DB-Tochter Ostwestfalen-Lippe-Bus gibt es Ermäßigung, beim lokalen CarSharing-Anbieter brauchen Abonnenten keine ­Anmeldegebühr zu zahlen. Das Bärenticket des Verkehrsverbunds Rhein-Ruhr kostet monatlich 60 Euro. Abends, am Wochenende und an Feiertagen können Abonnenten einen weiteren Erwachsenen und bis zu drei Kinder unter 15 kostenlos mitnehmen. Der Fahrradtransport ist inklusive, auch der Hund reist kostenlos mit.
www.mobiel.de/tickets.html
www.vrr.de/de/tickets_und_tarife/vielfahrer/index.html

fairkehr 5/2023