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Ein Pfad führt über eine grüne Alm
Ein Junge gießt Pflanzen, die in einer Holzkiste wachsen
Eine Seilbahngondel schwebt über eine dicht bebaute Stadt

Service 1/2009

Interview: Beratung in der Werkstatt

Harry Irion kennt sich mit Spezial­rädern sehr gut aus. Der Fahrradmechaniker ist Werkstattleiter bei Velocity in Bonn.

Foto: Marcus Gloger

Was tun Sie, wenn sich ein Mensch mit einem sichtbaren Gehfehler bei Ihnen nach einem neuen Fahrrad erkundigt?
Ich frage offen, ob der Kunde ein bleibendes Problem hat oder nur eine vorübergehende Verletzung. Die meisten Kunden erzählen dann, was los ist.

Kann man alle gewöhnlichen Räder umbauen?
In den meisten Fällen geht das. Nehmen wir mal an, der Kunde hat nach Unfall oder OP ein steifes Knie. Wir müssen den Grad der Behinderung herausfinden, wie stark die Bewegungseinschränkung ist und was sich der Mensch noch zutraut. Dann gibt es verschiedene Möglichkeiten.

Gibt es immer individuelle Lösungen?
Einen Kurbelverkürzer kann ich bei eingeschränkter Beweglichkeit passend einstellen. Es gibt auch Lösungen für ein steifes Bein. Wir montieren dann einen sogenannten Totpunktüberwinder. Dafür reicht eine kleine Bewegung mit dem kranken Bein aus, die die Kurbel gerade so viel bewegt, dass das gesunde Bein wieder voll treten kann.

Woher beziehen Sie diese Bauteile?
Wir arbeiten viel mit der Firma Hase zusammen, die sich auf Spezialkonstruktionen spezialisiert hat. Sie bietet in ihrem Baukasten vorgefertigte Teile, die wir dann anpassen.

Haben Sie sich speziell fortgebildet? 
Vor zwei Jahren waren wir mit der ganzen Werkstatt bei der Firma Hase. Drei Tage haben wir Seminare besucht, Vollgas-Input sozusagen. Man lernt dort sehr viel, hat die Möglichkeit, alles auszuprobieren. Bei mir wurde beispielsweise das Knie künstlich versteift und ich sollte so auf einem normalen Rad fahren. Da hebt es einen beim Treten aus dem Sattel. Dann bekam ich die Hilfe montiert und plötzlich klappte es. Ich spürte am eigenen Körper, wie die menschliche Gelenkmechanik funktioniert und was die Bauteile bewirken. Das hat mich sehr beeindruckt.

Was schlagen Sie vor, wenn die Behinderung stärker ist?
Menschen, die sich nicht mehr zutrauen, mit einem einspurigen Fahrrad zu fahren, weil sie befürchten zu stürzen, Gleichgewichtsstörungen haben oder teilweise gelähmt sind, denen empfehle ich ein Dreirad, das ich auf Stuhl­-höhe einstellen kann.

Sie meinen dreirädrige Liegefahrräder? Haben die Kunden keine Vorbehalte?
Doch, klar. Man macht sich ein bisschen zum Exoten, das ist die Hemmschwelle. Außerdem kommen oft Bedenken, man könnte übersehen werden, weil man so tief sitzt. Man sitzt aber in Augenhöhe mit dem Autofahrer, und ich kann aus über 15 Jahren Liegeradverkauf kein negatives Beispiel nennen. Die Vorteile wie niedriger Schwerpunkt und dadurch stabileres Fahrverhalten sowie die niedrige Sitzhöhe – der Fahrer muss sein Fahrrad nicht mehr erklettern – überwiegen klar.

Wer entscheidet sich für solch ein Rad?
Vor kurzem habe ich ein Dreirad an einen jungen Mann verkauft, der seit einem Unfall rechsseitig gelähmt ist. Nach der Probefahrt war er sofort sehr begeis­­tert. Gegen das Übersehen im Straßenverkehr haben wir einen Wimpel und eine Blinkanlage fürs Abbiegen montiert. Das hat auch seine Mutter überzeugt. Statt im Rollstuhl zu sitzen, kann der Junge wieder Rad fahren und ist selbständig unterwegs. Ich habe aber auch Liegerad-Kunden, die sind schon richtig alt. Sie haben einfach früh genug erkannt, dass sie auf einem solchen Dreirad sicherer unterwegs sind.

Nicht jeder 70-Jährige braucht ein Spezialrad.
Auf die ältere Generation hat sich die Fahrradindustrie sehr gut eingestellt. Es gibt mittlerweile ganz viel, vom Rahmen mit niedrigem Einstieg bis zum Elektroantrieb. Vielen älteren Menschen, die nicht mehr so beweglich sind, empfehle ich als Erstes einen Rückspiegel. Der erhöht die Sicherheit enorm, denn wer sich bei der Fahrt nicht rumdrehen muss, fährt stabiler und kommt nicht so schnell ins Kippen.

Wo erfährt man, welche Fahrradwerkstatt ­zuverlässig Räder umbauen kann? 
Auf jeden Fall würde ich jedem raten, vorab eine Recherche zu machen: Homepages von guten Fahrradläden anschauen, anrufen, ­nachfragen und auf jeden Fall ein persönliches Beratungsgespräch suchen.

Interview: Uta Linnert

fairkehr 5/2023