fairkehr VCD-Magazin für Umwelt, Verkehr, Freizeit und Reisen

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Ein Pfad führt über eine grüne Alm
Ein Junge gießt Pflanzen, die in einer Holzkiste wachsen
Eine Seilbahngondel schwebt über eine dicht bebaute Stadt

Titel 5/2017

Ohne Barrieren mobil

Barrierefreiheit ist ein Menschenrecht. In der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung, die Deutschland 2009 unterzeichnet hat, verpflichten sich Bund, Länder und Kommunen dafür zu sorgen, dass Menschen mit Behinderungen ihr Leben an ihrem Wohnort und unterwegs selbstbestimmt nach ihren individuellen Interessen und Fähigkeiten gestalten können. Bis 2022 soll deshalb auch der ÖPNV vollständig barrierefrei sein. Menschen mit Behinderungen wollen genauso wie alle anderen ihre Wege zur Arbeit, zum Einkaufen, mit Freunden oder in der Freizeit möglichst ohne fremde Hilfe zurücklegen. Wir waren mit Rollstuhlfahrern unterwegs und haben nachgefragt, wie es läuft, und wo es noch Barrieren gibt.

Ein Mann überquert eine ruhige Seitenstraße mit seinem Handbike.
Foto: Uta LinnertAuf seinem Handbike fürchtet Christian Oeser nur Kälte und Regen.

Ganz schön schnell

Das elektrische Handbike passt perfekt als Zugmaschine an den Rollstuhl und bringt Christian Oeser die große Freiheit.

Christian Oeser macht den Weg frei. Wenn er klingelt, haben die Radfahrer vor ihm Verständnis und lassen ihn durch. „Das ist der Rollstuhlbonus“, sagt er. Der Radweg am Rhein ist voll mit Sonntagsausflüglern. Christian ist gerne flott unterwegs. Er ist querschnittgelähmt und sitzt im Rollstuhl, aber sein Oberkörper ist stark. Seine von der Sonne gebräunten Arme sind durchtrainiert und muskulös. Wer mit dem 50-jährigen Bonner auf Radtour geht, braucht kräftige Beine oder steigt am besten gleich auf ein E-Bike um.

Sein Fahrgerät fällt auf. Sein Fahrstil auch. „Was ist das, Mama?“, fragt ein kleiner Junge und zeigt auf den vorbei­flitzenden Rollstuhlfahrer. Christian hat sich im letzten Jahr ein elektrisch unterstütztes Handbike als Zugmaschine für seinen Rollstuhl gegönnt. Es wird vorne angekuppelt und unterstützt das Handkurbeln. Das funktioniert im Prinzip genau wie beim Pedelec, das den Schub verstärkt, wenn die Fahrerin in die Pedale tritt. Auch die Geschwindigkeit ist ähnlich. 20 bis 25 km/h sind für den sportlichen Mann kein Problem und auf seinen 50-Kilometer-Touren ein gutes Training. Allerdings sind Handbike und Rollstuhl Straßenfahrzeuge. Schotter und Kopfsteinpflaster mögen Fahrer und Ausrüstung gar nicht. Kürzere Bergfahrten sind kein Problem. Bergab gehts sowieso schön schnell. „Es sieht gefährlicher aus, als es ist. Deshalb staunen die Leute.“ Er sitzt beim Fahren in seinem normalen Rollstuhl, den er gut kennt.

Sportlich war der freiberuflich arbeitende Fotograf schon immer. Die ersten 37 Jahre seines Lebens spielte er Squash, trainierte Triathlon, lief Marathon. Dann der Unfall: Sieben Meter stürzte der 1,90-Mann mit einem stümperhaft befestigtem Balkongeländer in die Tiefe.

Der Drang sich zu bewegen, mobil sein zu wollen, ist geblieben. „Wenn du vorher die Fähigkeit hattest, dich zu quälen, fällt dir die Umstellung leichter“, sagt er.

Beim Zwischenstopp im Biergarten koppelt Christian das Handbike ab und fährt mit seinem Rollstuhl weiter. Die kleine Fotoausrüstung, die er meistens dabei hat, hängt hinten im Rucksack.  Der Kies unter den alten Kastanien macht es für den Rollstuhlfahrer anstrengend, weil die Räder einsinken und sich nicht mehr drehen wollen. „Die ersten zehn Jahre war ich nur mit Rollstuhl unterwegs, manchmal auch auf weiteren Strecken. Dabei habe ich mir die Hände kaputt gemacht“, erzählt er. Die Arthrose in den Handgelenken komme vom Anschieben, diagnostizierten die Ärzte. „Hände sind nicht rollstuhlgerecht“, konstatiert Christian trocken.

Das Handbike löst immer positive Reaktionen aus

Das Handbike hat Christians Aktionsradius enorm erweitert. 5000 Euro musste er dafür hinblättern, aber das war es ihm wert. Die Krankenkasse wollte sich nicht beteiligen. „3000 Kilometer bin ich letztes Jahr gefahren“, erzählt der gebürtige Husumer, und freut sich, dass er das Rheinland dabei ganz neu kennengelernt hat. „Es ist großartig: Jeder, der dir entgegenkommt, strahlt dich an“, sagt er. „Ich bin natürlich auch schon mal am Berg hängengeblieben, weil es zu steil war: Irgendwann dreht der Vorderreifen durch.“ Aber dann kamen irgendwann Wanderer vorbei und schoben den Gestrandeten über die Kuppe.

Ein kühles Radler ist jetzt genau die richtige Erfrischung. Bei dem einen Getränk muss es aber bleiben, denn die nächste rollstuhlgerechte Toilette ist noch zwölf Kilometer entfernt. Radtouren wollen gut geplant sein. Für die Toilette am Rheinufer hat Christian den Schlüssel in der Tasche. „Viele öffentlichen Behindertentoiletten in Europa haben das gleiche Schließsystem“, erklärt er. „Das ist sehr praktisch. Leider gibt es aber viel zu wenige davon. In ganz Bonn nur zwei.“ Und bei den Cafés und Restaurants sieht es nicht besser aus.

Auf neuen Strecken orientiert sich Christian mit der Wheelmap (s.S.19). Diese Online-Karte hilft ihm, auf seinem Smartphone rollstuhlgerechte Orte zu finden und vorher zu wissen, ob es Toiletten gibt. In die interaktive Karte trägt Christian auch selbst ein, wenn er Orte entdeckt, die für Rollstuhlfahrer besonders gut zugänglich sind.

Freunde im Viertel treffen

Christian wohnte vor seinem Unfall in der Bonner Südstadt, einem lebendigen Gründerzeitviertel. Es ist wie früher im Dorf: Die Bewohner treffen sich beim Einkaufen in den kleinen Läden oder in den zahlreichen Cafés und Restaurants. An Barrierefreiheit hatten die Architekten der schmuckverzierten Häuser Ende des 19. Jahrhunderts allerdings nicht gedacht: Zu jedem Eingang führen Stufen hinauf ins Hochparterre, im Inneren gehts über steile Holztreppen in die oberen Etagen. Definitiv kein Terrain für Rollstuhlfahrer. Die meisten seiner Nachbarn und Freunde kann Christian nicht mehr besuchen, Einladungen zum Essen, zum Kaffee oder zu Geburtstagen schlägt er aus. „Zu aufwendig, mich hinauftragen zu lassen. Und vor allen Dingen zu heikel, am Ende der Party nicht wieder heil hinunterzukommen.“ Christian hat sich damit arrangiert. Er fand eine Wohnung in einem neueren Haus mit Aufzug und Stellplatz für sein Auto am Rande des Quartiers.

Lächelnder Mann sitzt im Rollstuhl vor einem Straßencafé in Bonn.
Foto: Uta LinnertSchöne Pause: Ein Kaffee mit Freunden im Viertel.

Für den Wocheneinkauf fährt Christian mit dem Auto zu einem der großen Supermärkte mit Behindertenparkplatz am Eingang und viel Platz zwischen den Regalreihen. Da muss einer der drei fast erwachsenen Söhne mit. „Für mich alleine gehe ich lieber im Viertel einkaufen und komme unter die Leute“, sagt er. Aber wie gut klappt das mit Handbike und Rollstuhl?

Der Bonner Talweg ist die Einkaufsstraße im Viertel. Wohnhäuser gibt es hier, ein großes Gymnasium, Cafés, Restaurants, einen Schnellimbiss und viele kleine, inhabergeführte Läden: Obst, Brot, Wurst und Fleisch, Wolle, Zeitschriften, ein Drogeriemarkt, zwei Optiker und mehrere Apotheken – kurz, alles, was Menschen täglich brauchen.

Sicheres Durchkommen für Fahrräder ist hier aber Fehlanzeige. In der Mitte der Straße fahren alle fünf Minuten Straßenbahnen in beide Richtungen. Die Seitenstreifen sind zugeparkt, in zweiter Reihe halten Lieferwagen und die Autos der Kunden, die noch schnell ein Brötchen kaufen oder ein paar Pfirsiche für die Mittagspause. Radfahrer müssen sich zwischen öffnenden Autotüren und den Straßenbahnen durchschlängeln.

„Mich behindert hier alles, was andere Fahrradfahrer auch behindert“, sagt Christian, „nur dass ich mit drei Rädern eine Chance mehr habe, in den Straßenbahnschienen hängen zu bleiben“. Man mag gar nicht hinschauen, wie er rechts neben den Schienen oder mittig in der Spur über die ausgefahrene Straße balanciert. Praktisch findet Christian, dass es auf dem Bonner Talweg auch ein Unfallkrankenhaus gibt. Dort habe das häufige Phänomen Schienenunfall bereits ein eigenes Kürzel. Das ist seine ironische Art, mit den täglichen Hindernissen umzugehen.

Geschäftsleute protestieren

Das Problem der Verkehrsführung am Bonner Talweg hatte auch das Stadtplanungsamt erkannt und wollte aufräumen: Schienen anders verlegen, Park­raum bewirtschaften und Platz schaffen für einen Fahrradschutzstreifen. Die Geschäftsleute, die über eine CDU-Ratsfrau Wind davon bekommen hatten, gingen auf die Barrikaden und legten Unterschriftenlisten gegen den Radweg und für das ordnungswidrige Parken in zweiter Reihe aus. Die Stadt bleibt bis heute in Deckung. Barrierefreiheit und Sicherheit für Radfahrer, Rollstuhlfahrer, alte Menschen mit Rollator, Schüler oder Familien mit Kindern – die Hauptkundschaft auf der Einkaufsstraße – wird es hier sobald nicht geben. Die größte Barriere in Bonn und in vielen Kommunen der Republik scheint immer noch das Brett vorm Kopf der verantwortlichen Politiker zu sein.

„Was mich richtig wütend machen kann, sind die zugeparkten Kreuzungen, wie hier, wo die Bordsteine extra abgesenkt sind“, zeigt Christian auf ein Problem. Ein großer schwarzer SUV parkt quer auf der Zickzacklinie, die anzeigt, dass man hier nicht stehen darf. Zwei Kinder spielen auf der Rückbank mit ihren Smartphones. Wahrscheinlich ist die Mutter nur mal kurz in den Zeitschriftenladen gesprungen oder zum Optiker gegenüber. Für den Rollstuhlfahrer bedeutet das, einen Riesenumweg machen zu müssen, denn nur an der nächsten Einmündung kann er den Gehweg vor den Läden ohne Bordsteinkante erreichen.

In die neue Bäckerei kommt Christian ohne Stufen, in den Drogeriemarkt sowieso, da geht sogar die Tür automatisch auf. Die Fleischerin wundert sich nicht mehr, wenn der kräftige Mann sich über die Stufe vorwärts am Türrahmen in den Laden hochzieht. Die Apothekerin ist schon einen Schritt weiter: Sie hat einen Wheelmap-Aufkeber an der Tür und legt eine Rampe auf die Eingangsstufe, wenn draußen jemand klingelt. So erreichen auch die älteren Herrschaften mit Rollatoren die Apotheke sicheren Fußes.

Mobilität beginnt im Kopf

In dem kleinen Kaffeeshop nebenan sitzen die Kunden am liebsten ein bisschen improvisiert vor der Tür. Christian kann unkompliziert neben die Hocker und Bänkchen rollen. „Hier ist Selbstbedienung, aber die Leute hinterm Tresen bringen den Cappuccino auf Wunsch raus“, sagt Christian. Hier trifft sich das Viertel, hier kann er mit seinen Nachbarn und Bekannten quatschen, wie jeder andere auch. Dass es im Viertel nur ein einziges Café mit Behindertentoilette gibt, und es nicht dieses hier ist, sei aber noch mal am Rande erwähnt.

Gefühlt jeder Zweite begrüßt ihn hier. Christian begegnet den Menschen auf Augenhöhe, auch wenn er selbst nicht aufstehen kann. „Der Rollstuhl ist nicht Teil meiner Persönlichkeit“, sagt er.  „Du musst dir dein Leben einrichten, es für dich passend machen.“ Ein Statement. Alles in Ordnung also? Barrieren lieber umfahren als sich aufzuregen?

„Mobilität beginnt im Kopf“, erklärt der 50-jährige Bonner, der jetzt schon 13 Jahre im Rollstuhl sitzt. „Es steht immer etwas im Weg, aber ich muss mich damit arrangieren. Klar werde ich wahnsinnig, wenn ich stundenlang vor kaputten Aufzügen stehe oder ich nach langem Rumkurven endlich den Behindertenparkplatz gefunden habe und der dann von einem gedankenloser Trottel zugeparkt wurde.“ Aber sich ständig aufzuregen, ist nicht sein Ding.

Auf sein Auto verzichten kann Christian Oeser nicht. Wenn er außerhalb Bonns unterwegs ist, reist der Fotograf immer mit großem Gepäck, das er ohne Hilfe nicht in die Bahn bekäme. Die Kameras und Objektive sind schwer, das Stativ muss mit, natürlich das Handbike, damit er vor Ort mobil ist. Das Auto ist auf Handbetrieb umgerüstet und seinen Rollstuhl klappt und verlädt Christian selbst.

Und dann ist da noch das Wetter. „Was mich wirklich behindert, sind Kälte und Regen“, sagt er. Zweistellig sollten die Temperaturen schon sein, damit der Körper bei seiner Behinderung nicht völlig auskühlt. Und bei Regen verursacht das Spritzwasser der Rollstuhlreifen ziemlich schnell eine Pfütze im Sitz. Wie alle Fahrradfahrer hofft Christian deshalb auf einen milden Herbst und ein sonniges Frühjahr.

Uta Linnert

fairkehr 5/2023