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Ein Pfad führt über eine grüne Alm
Ein Junge gießt Pflanzen, die in einer Holzkiste wachsen
Eine Seilbahngondel schwebt über eine dicht bebaute Stadt

Titel 5/2012

Willkommen, Tante Emma

Engagierte Dorfbewohner sorgen für Einkaufsmöglichkeiten vor Ort. Das spart Kilometer, Stress, Zeit und Geld.

Foto: DORV-Zentrum GmbHDer DORV-Laden in Barmen ist vor acht Jahren in die ehemaligen ­Sparkassenräume ­gezogen. Er trägt sich schon lange selbst.

Im 1300-Einwohner-Dorf Barmen nahe der holländischen Grenze brauchen viele Leute kein Auto. Hier gibt es nicht nur Milch, Kartoffeln, Fleisch und Brötchen zu kaufen – selbstverständlich frisch –, sondern auch mehrere Sorten Bier, Tiefkühlpizza, Tagespresse, Zahnpasta und Alleskleber. Ein Arzt, ein Zahnarzt und sogar eine Kieferorthopädin praktizieren vor Ort. Und wenn jemand ein Paket abschicken, Fotos bestellen, seinen Mantel reinigen, einen Behördenantrag abgeben oder Geld aus der Wand ziehen will, kann er oder sie das in Barmen ebenfalls erledigen. Selbst ein Internetcafé existiert in dem Örtchen nördlich von Jülich.

Es ist acht Jahre her, da gab es hier nichts von alledem. Da sollte als Letztes auch noch die Sparkasse verschwinden – so wie seit den 1960er-Jahren nach und nach die Lebensmittelläden, die beiden Metzgereien und die Bäckerei verschwunden sind. Lehrer Heinz Frey, der als parteiloser Abgeordneter im Jülicher Stadtrat sitzt und für Barmen zuständig ist, war empört – und sann auf Abhilfe. Zusammen mit ein paar Mitstreitern fragte er die Bürger, was sie gerne vor Ort hätten.

Ganz klar: Lebensmittel standen oben auf der Prioritätenliste. Doch bekanntermaßen rechnen sich Tante-Emma-Läden heutzutage fast nie. Für die großen Handelsketten gilt eine Filiale erst ab einem Einzugsgebiet von 8000 Menschen als rentabel, und selbst kleinere Läden kalkulieren inzwischen mit mindestens 5000 Leuten in der Umgebung.

Die Folge: In Deutschland können etwa acht Millionen Menschen keinen Lebensmittelladen mehr zu Fuß erreichen. Die Wege für Einkaufsfahrten haben sich zwischen 1982 und 2002 verdoppelt, wie das  Institut für ökologische Wirtschaftsforschung ausgerechnet hat.

„Der Lehrer ist bekloppt“

Wenn sich also ein Lebensmittelgeschäft allein nicht trägt, muss man das Angebot eben erweitern und damit zusätzliche Einnahmen generieren, überlegte Lehrer Heinz Frey. Er reiste nach Holland und Baden-Württemberg, besuchte Dorfläden, sozialmedizinische Dienstleistungszentren und Kulturhäuser – und war anschließend überzeugt: Damit Ältere und Bürger ohne Auto in Barmen gut leben können, braucht das Dorf alles zusammen. „Dienstleistung und ortsnahe Rundum-Versorgung“, kurz DORV, taufte er seine Vision.

Frey überlegte, wie die ehemaligen Sparkassenräume umzugestalten wären: Eine Person müsste alles bedienen können – von der Wurst- und Brottheke über die Annahmestelle für Amtsunterlagen und Pakete bis hin zur Kasse. Im Prinzip ist das ganz einfach: Die Kundschaft und die Selbstbedienungsregale gehören auf die eine, alles andere in einer langen Reihe auf die andere Seite, und die Kasse steht ungefähr in der Mitte. Freys Versuche, für das Konzept ein Darlehen zu bekommen, blieben allerdings erfolglos. „Erklären Sie mal einem Banker, dass dieselbe Person Fleisch verkaufen und Kfz-Schilder ausgeben soll. Die haben alle nur gesagt: Der Lehrer ist bekloppt“, sagt der Jülicher Stadtrat.

Frey konnte 34 Barmer Bürger überzeugen und so kamen die 100000 Euro Startkapital zusammen. Inzwischen verdienen zwei Vollzeitkräfte und mehrere Aushilfen im Laden ihr Geld. Fleisch und Brot kommen von einem Metzger und einem Bäcker aus Nachbargemeinden. Die werden sich dank des zusätzlichen Absatzes in Barmen wohl auf Dauer halten können. Ein Arzt erklärte sich bereit, einmal wöchentlich in Barmen zu praktizieren. Und plötzlich fanden es auch ein Zahnarzt und eine Kieferorthopädin attraktiv, sich dort anzusiedeln. „Wir haben jetzt eine Aufwärtsspirale“, stellt der 57-jährige Frey zufrieden fest. Der Laden trägt sich inzwischen längst selbst. Die Preise sind vergleichbar mit denen in normalen Supermärkten und so kalkuliert, dass am Jahresende eine schwarze Null in den Büchern steht.

Foto: Lädele SchienenDas „Lädele“ im 700-Einwohner Dorf Schienen oberhalb des Bodensees bietet alles, was eine sechsköpfige Familie braucht.

Dran glauben, dass es geht

Dem Trend zu Großmärkten, die nur mit dem Auto erreichbar sind, wollten auch die Bewohner des 700-Einwohner-Orts Schienen, hoch oben über dem Bodensee, etwas entgegensetzen. Dort haben sich 260 Menschen zu einer Genossenschaft zusammengeschlossen. Etwa die Hälfte der Waren in dem liebevoll gestalteten Geschäft mit den grün-weißen Markisen kommt aus der nahen Umgebung. Den Transport von Salat, Obst und Honig von den umliegenden Bauern übernehmen häufig Leute, die auf dem Rückweg von der Arbeit eh dort vorbeikommen.

„Wir hatten ja alle null Ahnung vom Lebensmittelhandel. Aber wenn man so was anfängt, dann muss man einfach dran glauben, dass es geht – und dann geht es auch“, sagt Andrea Kasper aus dem Genossenschaftsvorstand. Die Initiatoren hatten ausgerechnet, dass nach dem Umbau monatlich 20000 Euro Umsatz nötig wären, um Miete, Strom und den Lohn der zwei Angestellten sowie einer Aushilfe zu finanzieren. Eine Umfrage im Dorf ergab, dass das klappen könnte. Ein Schreinermeister nahm sich zwei Wochen Urlaub und auch viele Jugendliche und Rentner schufteten ehrenamtlich auf der Baustelle. Im Sommer 2006 wurde „s’Lädele“ mit einem großen Fest eingeweiht – und trägt sich seither.

„Ich kauf heut praktisch alles im Lädele“, sagt Andrea Kasper, die eine sechsköpfige Familie zu versorgen hat. Der Dorfladen erspart ihr nicht nur viel Fahrzeit, sondern – weil sie jederzeit alles frisch besorgen kann – auch den Betrieb eines zweiten Kühlschranks. Zu ihrem eigenen Erstaunen belasten die Stamm-Einkäufe im Tante-Emma-Laden auch ihre Haushaltskasse nicht. „Früher hab ich vieles bei Aldi gekauft. Aber da nimmt man ja jedes Mal einen Haufen Zeug mit, den man nicht braucht und eigentlich auch gar nicht haben will“, konstatiert Kasper.

Gegenwärtig kommt der Impuls für neue Genossenschaftsläden vor allem von Frauen, die früher bei der pleitegegangenen Drogeriekette Schlecker gearbeitet haben. In vielen Orten war die Schlecker-Filiale die einzige Einkaufsmöglichkeit. Nun versuchen Verkäuferinnen zusammen mit Bürgermeistern, Kunden und der Gewerkschaft ver.di, zumindest einige Läden wiederzueröffnen. Vor allem in Thüringen und Baden-Württemberg gibt es entsprechende Initiativen.

Die Rache des Aldi-Einkaufs

Eine andere Möglichkeit, sich auf dem Land mit Alltäglichem zu versorgen, sind Verkaufsfahrzeuge. 1800 rollende Supermärkte sind derzeit in Deutschland unterwegs. Nach Angaben von Marktführer „Heiko“ ist die Stammkundschaft durchschnittlich 73 Jahre alt und damit zum Großteil in der Nach-Autophase. Längst nicht alle Dörfer, die Bedarf anmelden, können angefahren werden.
Damit rächt sich im Alter für viele, dass sie früher dem billigen Aldi auf der grünen Wiese den Vorzug vor dem Tante-Emma-Laden im Ort gegeben haben.

Annette Jensen

fairkehr 5/2023