fairkehr VCD-Magazin für Umwelt, Verkehr, Freizeit und Reisen

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Ein Pfad führt über eine grüne Alm
Ein Junge gießt Pflanzen, die in einer Holzkiste wachsen
Eine Seilbahngondel schwebt über eine dicht bebaute Stadt

Titel 4/2017

Freiheit statt Regeln

Die Gleichung „Mehr Verkehrsregeln führen zu mehr Sicherheit“ geht nicht auf. Regelungswahn erzieht Verkehrsteilnehmer, die auf ihr Recht pochen. Stattdessen brauchen wir eine Kultur der gegenseitigen Rücksichtnahme.

Radfahrer mit Helm und Warnweste steht am Rhein in Bonn.
Foto: Marcus GlogerFreiheit und Sicherheit – man kann auch beides haben. Tempo­limit, gute Infrastruktur und gegenseitige Rücksichtnahme schützen Radfahrer. Dann können sie auf Helm und Schutzweste verzichten.

Welche Freiheit wollen wir? Die Freiheit für Kinder, selbstständig zur Schule gehen zu können? Oder die Freiheit für Autofahrer, mit hoher Geschwindigkeit durch die Stadt zu rasen? Diese beiden Freiheiten schließen sich gegenseitig aus. Ich plädiere eindeutig für die Freiheit der Kinder, der Menschen, der Städte. Für die Befreiung von der automobilen Dominanz und der Verunsicherung, die durch viel zu schnelle Fahrzeuge in unsere Städte und Dörfer eingezogen ist. Wir schränken seit Jahrzehnten die Freiheit der Menschen ein, indem wir Regeln erlassen, Fußgänger an roten Ampeln stoppen, den allermeisten Raum dem fahrenden und stehenden Automobil geben. Wir pferchen Radfahrer auf enge Schutzstreifen und Fußgänger auf oft viel zu enge Bürgersteige.

Meine These ist: Viele Regeln schaffen keine Sicherheit, höchstens Haftungssicherheit für Juristen. Wir müssen den Paragrafen 1 der Straßenverkehrsordnung (StVO) endlich ernst nehmen (s. u.). Wenn wir die Autos bremsen und ihnen weniger vom wertvollen Innenstadtraum zugestehen, gewinnen wir größtmögliche Freiheit, uns im öffentlichen Raum zu bewegen. Dazu brauchen wir ein Verkehrsklima des Miteinander statt des Gegeneinander.  Wer von Sicherheit im Verkehr redet und dabei an Fahrradhelm oder Warnweste denkt, springt zu kurz.  

Freiheit 1: Seht euch in die Augen. Ampeln scheinen uns Deutschen besonders klar und daher sicher. Doch sie sind oft kontraproduktiv für die Sicherheit. Ein Zebrastreifen signalisiert Autofahrern, dass hier Fußgänger das Recht haben, die Straße zu queren, und sie haben dieses Recht immer. Im Falle der Ampelsteuerung gibt es oft Grenzfälle: Der Fußgänger geht noch so gerade bei Grün los. Der Autofahrer sieht rot, buchstäblich. Im besten Falle brüllen sich beide an und beschuldigen sich gegenseitig, die Regel missachtet zu haben. Im schlimmeren Fall überfährt der Autofahrer den Fußgänger. Die Regelungsdichte und damit verbunden die Schilder- und Signaldichte signalisieren eine Klarheit und Sicherheit, die immer an die Grenzen der menschlichen Natur stoßen wird. Deshalb plädiere ich dafür, im Verkehr Situationen zu schaffen, in denen wir gezwungen sind, die Augen offen zu halten. Scheinbar unklare Situationen, die Verständigung und Achtsamkeit erfordern, führen zu zwischenmenschlicher Kommunikation und damit zu mehr Sicherheit. Um Verständigung zu ermöglichen, ist Geschwindigkeit ein wesentliches Kriterium.

Radfahrer in kurzer Hose in Bonn.
Foto: Marcus GlogerRadfahrer in kurzer Hose in Bonn.

Freiheit 2: Wenn Autos langsamer fahren, wird es für alle sicherer. Gilt Tempo 30 als Regelgeschwindigkeit, die eingehalten und kontrolliert wird, verlängert das die Dauer innerstädtischer Wege minimal, steigert die Sicherheit aber drastisch. Wenn wir Tempo aus dem Autoverkehr in Städten und Dörfern herausnehmen, entstehen zahlreiche Optionen für die Neuaufteilung des Straßenraumes zugunsten von Fußgängern und Radfahrern.

Freiheit 3: Weg mit dem Schil­derwald. Begegnungszonen wie in der Schweiz kommen mit ganz wenigen Verkehrsschildern aus. Fußgänger haben Vortritt, der restliche Verkehr orientiert sich an den schwächsten Verkehrsteilnehmern. Nominell haben Autos in Schweizer Begegnungszonen ein Tempolimit von 20 km/h, de facto fahren sie zu Stoßzeiten deutlich langsamer. Freiwillig. Leider gibt es bisher in Deutschland keine Begegnungszonen. Hier fahren Autos oft noch mit 50 km/h durch belebte Geschäftsstraßen, in denen Fußgänger und Radfahrer ein bedrohtes Randdasein führen müssen. Würde der Gesetzgeber eine offene, im Grunde ungeregelte Situation in belebten Vierteln erlauben, herrschte für viele Verkehrsteilnehmer mehr Freiheit und alle wären sicherer unterwegs.

Freiheit 4: Mehr Platz für Fußgänger und Radfahrer auf den Straßen erhöht die Sicherheit für alle. Je sicherer sich ungepanzerte Verkehrsteilnehmer fühlen, desto mehr trauen sich auf die Straße. Je mehr Menschen auf der Straße unterwegs sind, desto sicherer sind sie. Das ist ein sich selbst verstärkendes System. Eindeutig ist in den Niederlanden und Dänemark der Zusammenhang zwischen der zunehmenden Zahl der Radfahrer und abnehmenden Verletztenzahlen erwiesen. Da muss sich der einzelne Radfahrer nicht mehr panzern: Die notwendige, vorsichtigere Fahrweise der Autofahrer schafft Sicherheit für alle. Die Gleichung ist also ganz einfach: mehr Raum für Fußgänger und Radfahrer, plus Tempo 30 als Regelgeschwindigkeit in allen geschlossenen Ortschaften, in belebten Zentren Tempo 20 oder noch langsamer minus unnötige Schilderung und Regelungen ergibt Sicherheit und Freiheit für alle.

Michael Adler

§ 1 StVO, Grundregeln

(1) Die Teilnahme am Straßenverkehr erfordert ständige Vorsicht und gegenseitige Rücksicht.
(2) Jeder Verkehrsteilnehmer hat sich so zu verhalten, dass kein anderer geschädigt, gefährdet oder mehr, als nach den Umständen unvermeidbar, behindert oder  belästigt wird.

fairkehr 5/2023