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Ein Pfad führt über eine grüne Alm
Ein Junge gießt Pflanzen, die in einer Holzkiste wachsen
Eine Seilbahngondel schwebt über eine dicht bebaute Stadt

Titel 4/2017

Infrastruktur muss Fehler verzeihen

Tempo 30, ausreichend Platz und umfassende Mobilitätsbildung machen Radfahren sicherer.

Anika Meenken ist Expertin für Radverkehr und Mobilitätsbildung beim VCD. Die 40-Jährige radelt mit ihren zwei Kindern regelmäßig durch den Berliner Verkehr.
Foto: VCD/Markus BachmannAnika Meenken ist Expertin für Radverkehr und Mobilitätsbildung beim VCD. Die 40-Jährige radelt mit ihren zwei Kindern regelmäßig durch den Berliner Verkehr.

fairkehr: Wenn über sicheren Radverkehr diskutiert wird, fällt oft die Forderung „Helm tragen“. Warum greift das zu kurz?
Anika Meenken: Der Helm kann keinen Unfall verhindern, er kann maximal die Folgen mindern. Helmtragen ist zusätzlicher Selbstschutz und muss freiwillig bleiben. Unfallschutz darf man nicht auf Fußgänger und Radfahrer abwälzen und sie dazu verpflichten, Helme oder am Ende womöglich sogar Protektoren zu tragen. Es muss an erster Stelle verhindert werden, dass Unfälle passieren.

Und zwar wie?
Vergleicht man den Aufwand mit dem Nutzen, ist Tempo 30 als Basisgeschwindigkeit innerorts die wichtigste Maßnahme. Bei Tempo 30 statt 50 verringert sich die Unfallgefahr um 40 Prozent. Kommunen haben es mittlerweile leichter, vor Kindertagesstätten, Schulen oder Seniorenheimen Tempo 30 auszuweisen. Doch es bedeutet weiterhin viel Verwaltungsaufwand. Neben dem Tempolimit ist es wichtig, dass Infrastruktur Fehler verzeiht.

Was bedeutet das?
In Städten und Dörfern müssen sich sowohl Kinder als auch ältere Menschen sicher bewegen können – wenn die Infrastruktur diese schwächsten Verkehrsteilnehmer schützt, dann ist sie für alle gut. Das ist der Gedanke hinter der „8-80 Cities“-Initiative aus Kanada. Es gilt, Infrastruktur übersichtlicher zu machen, indem beispielsweise Sichtbeziehungen zwischen Autofahrern, Fußgängern und Radfahrern ermöglicht werden. Vor allem an Kreuzungen ist das wichtig, denn da passieren die meisten schweren Unfälle: wenn Pkw- oder Lkw-Fahrer Passanten oder Radfahrer beim Abbiegen übersehen. In Deutschland setzt sich dieser Gedanke erst langsam durch, aber es gibt erste gute Ansätze. So hat Frankfurt am Main an mehr als 100 Kreuzungen das Parken von Autos, die die Sicht versperren, verboten, und dort stattdessen Fahrradbügel aufgestellt.

Immer mehr Radfahrerinnen und -fahrer sind mit breiteren und schnelleren Rädern unterwegs. Genügen Schutzstreifen  auf der Autofahrbahn oder braucht es getrennte Wege für mehr Sicherheit?
Bei Tempo 30 als Basisgeschwindigkeit kann Radverkehr in der Regel sicher auf der Fahrbahn mitgeführt werden. Sollte das an stark befahrenen Straßen trotz Tempo 30 allerdings zu gefährlich sein, sind baulich separierte Radwege möglicherweise sinnvoll – je nach den konkreten Bedingungen vor Ort. Ein Kompromiss kann es sein, Radfahrstreifen zusätzlich zur durchgezogenen weißen Linie mit festen Elementen von der Fahrbahn abzugrenzen: So hat Frankfurt einen Radfahrstreifen mit weiß-roten Baken zusätzlich gesichert. Autos können ihn also weder befahren noch zuparken. Zudem ist es wichtig, höhere Bußgelder zu verhängen für Verkehrsteilnehmer, die andere in Gefahr bringen, und Parkgebühren anzupassen.

Welche Rolle spielt Mobilitätsbildung für die Verkehrssicherheit?
Eine sehr große! Eltern sollten ihre Kinder möglichst früh direkt einbeziehen, sie begleiten, wenn sie zu Fuß, auf dem Roller oder auf dem Fahrrad unterwegs sind. Verkehr ist für Kinder sehr komplex und erfordert viele Kompetenzen. Durch tägliches Üben und Praxiserfahrung sind Kinder sicherer unterwegs, Unfälle werden verhindert. Auch der Staat ist gefragt: Die Länder müssen in Lehrplänen eine ganzheitliche Mobilitätsbildung festschreiben, die die Aspekte Sicherheit, Gesundheit und Umweltschutz kombiniert. Außerdem muss Mobilitätsbildung wiederholt stattfinden – vom Kindergarten bis hin zur Berufs- und Hochschule. 

Interview: Kirsten Lange

fairkehr 5/2023