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Ein Pfad führt über eine grüne Alm
Ein Junge gießt Pflanzen, die in einer Holzkiste wachsen
Eine Seilbahngondel schwebt über eine dicht bebaute Stadt

Titel 4/2017

Der Klügere bremst ab

Moderne Technik verhindert tödliche Unfälle. Doch Radfahrer und Fußgänger werden weiterhin zu wenig geschützt – die EU arbeitet deshalb an neuen Vorschriften für Autohersteller. 

Ein Pkw-Frontdesign mit entschärften Kanten gibt beim NCAP-Crashtest Pluspunkte beim Fuß­gängerschutz.
Foto: RomanBabakin/iStockphoto.comEin Pkw-Frontdesign mit entschärften Kanten gibt Pluspunkte beim Fuß­gängerschutz.

Neun Tote und 1 000 Verletzte täglich. Das ist die Unfallbilanz für Deutschlands Straßen 2016. Jedes Jahr verkündet das Statistische Bundesamt ähnliche Zahlen, jedes Jahr nehmen die Deutschen sie ohne entsetzten Aufschrei hin – und steigen weiterhin ins Auto. Sicher: Die Zahl der Menschen, die im Pkw, als Radfahrer oder Fußgänger ums Leben kommen, sinkt seit Jahrzehnten. Und das, obwohl die Menschen in Deutschland immer mehr Kilometer mit dem Pkw zurücklegen. Insgesamt fast 626 Milliarden Kilometer fuhren sie 2016 auf deutschen Straßen herum. 1970 waren es 213 Milliarden Kilometer – und in diesem schwärzesten Jahr der deutschen Unfallgeschichte starben 21 322 Menschen im Straßenverkehr. Rein statistisch sind die 3 206 Verkehrstoten von 2016 also eine gute Nachricht.  „Aber wir haben keinerlei Grund, uns zurückzulehnen!“, betont Gerd Lottsiepen, Verkehrsreferent beim VCD. „Jeder Tote ist einer zu viel. Außerdem steigt die Zahl der Verletzten seit 2009 wieder an.“ Wer früher bei einem Unfall gestorben sei, überlebe heute dank besserer Rettungstechnik und Gesundheitsversorgung schwer verletzt. Das hinterlasse nicht nur bei den Opfern ein Trauma, sondern auch  bei Familie und Freunden – möglicherweise litten die Opfer ein Leben lang unter den Unfallfolgen.

Auf das schwarze Unfalljahr 1970 folgten Gesetze: Seit Oktober 1972 dürfen die Deutschen nicht schneller als 100 km/h auf Landstraßen fahren, seit August 1984 müssen sie sich im Auto anschnallen. Ab 1973 galt ein Fahrverbot für Menschen mit mehr als 0,8 Promille Alkohol im Blut, 1998 wurde der Wert auf 0,5 Promille verschärft. Die Zahl der Unfalltoten sank stetig. Hinzu kamen technische Verbesserungen: Autos bekamen Knautschzonen, stabile Fahrgastzellen und Airbags, außerdem Servolenkungen, Antiblockiersysteme, elektronische Stabilitätsprogramme und Spiegel gegen den toten Winkel. Moderne Neuwagen werden gesteuert von Einparkassistenten, Geschwindigkeitsassistenten, Spurhalteassistenten, Spurwechselassistenten – sogar Kaffeetassenassistenten, die müde Fahrer mit einem entsprechenden Symbol an eine Pause erinnern.  Automatisierte Technik nimmt Fahrern die Verantwortung ab. Das führt dazu, dass weniger Menschen im Auto sterben: 1 531 im vergangenen Jahr, 89 weniger als 2015. Dennoch: Jeder zweite Verkehrstote war Pkw-Insasse.

Was die Sterne verraten

Wer ein sicheres Auto kaufen möchte, kann sich an den Sternen von Euro NCAP orientieren. Die Gesellschaft europäischer Verkehrsministerien, Automobilclubs und Versicherungsverbände mit Sitz in Brüssel unterzieht neue Automobiltypen diversen Crashtests, bewertet ihre Sicherheit mit einem Stern bis zu fünf Sternen und veröffentlicht die Ergebnisse unter anderem online. Die Hersteller nehmen aus Marketinggründen freiwillig an den NCAP-Tests teil – für die Zulassung auf dem europäischen Markt gibt es andere, meist einfachere Vorschriften. Die NCAP-Tests gehen über die gesetzlichen Vorgaben hinaus. Fünf Sterne erhält ein Auto, wenn es in verschiedenen Kategorien gute Noten bekommt: für den Schutz erwachsener Insassen sowie mitfahrender Kinder und für Fußgängersicherheit. Ein Frontdesign mit entschärften Kanten und aus nachgiebigem Material gibt Pluspunkte beim Fußgängerschutz. Außerdem berücksichtigt Euro NCAP, inwieweit das Auto mit Technologie ausgestattet ist, die Unfälle vermeidet, beispielsweise dem „Autonomous Emergency Braking“ (AEB), einem Notbremsassistenten, der Hindernisse mittels Kamera, Radar oder Laser erkennt und in seiner modernen Version nicht nur auf Fahrzeuge reagiert, sondern auch auf Fußgänger. Das Auto bremst bei Geschwindigkeiten bis etwa 45 km/h automatisch ab und kommt im besten Fall vor einem Aufprall zum Stehen.

Seit 2016 finden potenzielle Käufer auf der Euro-NCAP-Webseite bei manchen Fahrzeugen zwei Bewertungen. Eine für die serienmäßige Ausstattung mit Sicherheitstechnik, die in der EU vorgeschrieben ist. Eine zweite Bewertung erhalten Modelle mit optionalen Sicherheitspaketen, die als Sonderausstattung angeboten werden.  Neuwagen-Bewertungsprogramme wie Euro NCAP, das seine Tests regelmäßig aktualisiert und durch neue Prüfungen ergänzt, geben nicht nur Verbraucherinnen und Verbrauchern Orientierung. Sie tragen auch dazu bei, dass Hersteller unter Zugzwang geraten und Autos entwickeln, die mit mehr Sicherheitstechnik ausgestattet sind, als  die EU vorschreibt. So stellt Euro-NCAP-Chef Michiel van Ratingen fest: „Fußgänger-Notbremssysteme belohnen wir seit letztem Jahr – als Folge haben wir eine rasche Einführung der Technologie beobachtet.“

Autofahrer, die plötzlich die Tür öffnen, sind eine tödliche Gefahr. Erste Pkw-Modelle 
bieten eine Radfahrererkennung.
Foto: Thomas_EyeDesign/iStockphoto.comAutofahrer, die plötzlich die Tür öffnen, sind eine tödliche Gefahr. Erste Pkw-Modelle bieten eine Radfahrererkennung.

Allerdings baut bislang kaum ein Hersteller Notbremsassistenten mit Fußgängererkennung serienmäßig ein – noch ist das keine Pflicht auf dem europäischen Markt. Optional kostet die Technik oftmals mehrere Tausend Euro, zumal sie häufig an weitere Sonderausstattung gekoppelt ist. Ein Preis, der vor allem Käufer günstiger Kleinwagen abschreckt. „Den Schutz von Menschenleben nur als Zusatzausstattung anzubieten – da dreht  sich mir der Magen um“, sagt VCD-Autoexperte Lottsiepen. „Es wird Zeit, dass die EU ihre Gesetze dem Stand der Technik anpasst.“

Viel Potenzial, Leben zu retten

Genau das passiert zurzeit. „Die Sicherheit im Straßenverkehr sollte nicht von der Brieftasche der EU-Bürger abhängen.“ Das forderte der EU-Abgeordnete Dieter-Lebrecht Koch von der christdemokratischen EVP Ende Juni in einem Berichtsentwurf für das EU-Parlament. Er positioniert sich darin zu den Vorschlägen der EU-Kommission, die Verkehrssicherheits-Verordnung zu überarbeiten. Die Verordnung regelt unter anderem, welche Sicherheitstechnik Autohersteller künftig einbauen müssen. Voraussichtlich im Frühjahr 2018 will die Kommission die überarbeitete Verordnung vorlegen. Im Anschluss müssen sich EU-Rat und -Parlament einigen, welche der Techniken bis wann für Neuwagen verpflichtend werden sollen – für den Fußgänger-Notbremsassistenten ist das Jahr 2026 vorgesehen. Einige europäische Verkehrsminister, darunter Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt, hatten die Kommission im Februar gedrängt, sich doch bitte zu beeilen und ihren Vorschlag für die neue Sicherheitsverordnung schon dieses Jahr vorzulegen. „Verschiedene innovative Technologien sind bereits am Markt – mit großem  Potenzial, Leben zu retten“, heißt es in ihrem Brief an die EU-Industriekommissarin. Europäische Gesetze würden die Verbreitung weiter ankurbeln. Ein Beispiel ist die Software, die das Unternehmen Harman, eine Tochterfirma von Samsung, entwickelt hat: In Kombination mit einer Rückfahrkamera können Autofahrer beim Zurücksetzen erkennen, ob im toten Winkel hinter dem Wagen die Tochter spielt oder der ältere Nachbar vorbeischlendert. Die zunehmende Beliebtheit der SUVs hat das Problem der toten Winkel noch verschärft. „Unsere Fußgängererkennungstechnik ist für Automobilhersteller bereits jetzt erhältlich“, so ein Sprecher von Harman. Dennoch werde sie vermutlich erst in zwei bis drei Jahren auf der Straße sein. Die EU-Kommission schlägt vor, solche „Reversing Detection“-Systeme  spätestens ab 2022 für alle Neuwagen vorzuschreiben.

Für Lkw über acht Tonnen sind Notbremsassistenten seit November 2015 Pflicht. Von vielen Seiten wird der Ruf laut, bei Neufahrzeugen künftig zusätzlich Abbiegeassistenten vorzuschreiben, die Lkw-Fahrer auf Passanten und Radfahrer aufmerksam machen. Ein Gesetz würde auch hier viele Leben retten.

Radfahrer sind keine Fußgänger

Von der zunehmenden Automatisierung an Bord profitieren bislang vor allem die Fahrer und Mitfahrer. „Fußgängerschutz ist aufwendiger zu realisieren als Insassenschutz“, sagt Welf Stankowitz vom Deutschen Verkehrssicherheitsrat, bei dem der VCD Mitglied ist und in vielen Ausschüssen mitarbeitet. Infolgedessen sei die Zahl der getöteten Insassen in den vergangenen Jahren wesentlich stärker zurückgegangen als die Zahl der Opfer unter den Fußgängern und Radfahrern. Es sei trotz Crashtests nur schwer vorherzusagen, auf welche Weise und wie stark ein Fußgänger bei einem Zusammenstoß verletzt werde, so Stankowitz. Da gebe es je nach Fahrzeug und Unfallverlauf sehr große Unterschiede.

Das gilt umso mehr für Radfahrer, denn: „Die Vorschriften und Tests für mehr Fahrzeugsicherheit sind ausschließlich auf den Schutz von Fußgängern ausgelegt“, sagt ADFC-Rechtsreferent Roland Huhn. „Die Schutzmaßnahmen am Auto beziehen sich auf den Bereich bis zur Unterkante der Windschutzscheibe. Radfahrer treffen bei einer Kollision aber oft auf die Dachkante und die A-Säule, die das Dach stützt.“ ADFC und VCD fordern, bei Crashtests künftig auch den Aufprall auf diese unnachgiebigsten Teile eines Pkw zu testen. Dieser Punkt ist ein Bestandteil der EU-Kommissionsvorschläge für mehr Verkehrssicherheit. Ebenso ein Notbremsassistent, der nicht nur Fußgänger, sondern auch Radfahrer erkennt. Der soll nach dem Willen der Kommission allerdings erst in frühestens zehn Jahren verpflichtend werden.

Bis dahin müssen Radfahrer hoffen, dass Autohersteller freiwillig in mehr lebensrettende Technik investieren. So baut Audi in seinen neuen A8 eine Software ein, die die Türen kurz blockiert, wenn sich von hinten Radfahrer nähern. In Berlin starb Mitte Juni ein 55-Jähriger, weil ein SUV-Fahrer, der auf dem Radfahrstreifen im absoluten Halteverbot parkte, ohne Schulterblick die Tür öffnete. Radfahrerschutz scheint allerdings Luxus zu sein: Der A8 kostet knapp 100 000 Euro. Die günstigeren Modelle A4 und A5 sowie die SUVs Q5 und Q7 warnen immerhin mit flackernden LEDs, wenn Radler von hinten kommen. Mercedes will ab Herbst in der B-Klasse eine Radfahrererkennung anbieten.

Das von Herstellern gern gebrachte Argument, dass die Neuwagenpreise in die Höhe schössen, wenn zusätzliche Assistenzsysteme Pflicht würden, lässt EU-Parlamentarier Koch nicht gelten. Durch Bündelung der Technologien wie beispielsweise die Nutzung der Kameras für verschiedene Assistenzsysteme und durch die hohe Stückzahl der verbauten Teile würden sich die Preise nicht wesentlich erhöhen, so Koch.

Gefühlte Sicherheit

VCD-Autoexperte Gerd Lottsiepen befürchtet allerdings, dass Pkw, die mit immer mehr Assistenzsystemen ein immer stärkeres Sicherheitsgefühl vermittelten, auch zu einer riskanteren Fahrweise verleiteten. Die Statistik gibt ihm recht: Auch wenn es 2016 weniger Tote gab – die Zahl der Unfälle ist mit 2,6 Millionen so hoch wie nie. „Die Menschen setzen darauf, dass die Technik schon eingreift, wenn sie Fehler machen. Doch egal welche Technik: je schneller, desto länger der Bremsweg“, so Lottsiepen.

Für Fußgänger und Radfahrer werden Straßen vor allem durch Tempolimits sicherer. Ab 45 km/h sinken ihre Überlebenschancen dramatisch. 2016 starben 393 Radfahrer und 490 Fußgänger, 70 Prozent der Fußgänger und mehr als 60 Prozent der Radfahrer innerhalb geschlossener Ortschaften. Tempo 30 als Basisgeschwindigkeit in Städten würde viele Leben retten – schon heute und nicht erst 2026.

Kirsten Lange

www.vcd.org/themen/verkehrssicherheit

fairkehr 5/2023