fairkehr VCD-Magazin für Umwelt, Verkehr, Freizeit und Reisen

Obere Wilhelmstraße 32 | 53225 Bonn | Telefon (0228) 9 85 85-85 | www.fairkehr-magazin.de

Ein Pfad führt über eine grüne Alm
Ein Junge gießt Pflanzen, die in einer Holzkiste wachsen
Eine Seilbahngondel schwebt über eine dicht bebaute Stadt

Politik 4/2017

Neue Regeln braucht das Land

Eine Reform des Straßenverkehrsrechts würde die Verkehrswende voranbringen.

Foto: Marcus GlogerLeider verboten: Laut Stra­ßenverkehrsordnung dürfen nur Kinder bis acht Jahre auf dem Fahrrad mitgenommen werden.

Es war eine Freiheit, die wir vielleicht nur erlebten, als wir jung waren. Vom Freibad im Nachbardorf nach Hause auf dem Gepäckträger der Freundin mitfahren, die Eiswaffel in der Hand. Diese Freiheit nahmen wir uns. Unsere Eltern dachten gar nicht daran, uns mit dem Auto durch die Gegend zu kutschieren. Warum auch? Wir hatten unsere Fahrräder, wir waren frei, Sommerferienzeit. Später dann, als Erwachsene, machten wir bei ähnlicher Gelegenheit Bekanntschaft mit der Polizei. Auch auf einer Nordseeinsel ist es verboten, mit dem Fahrrad die halbwüchsigen Kinder am Strand aufzusammeln und hintendrauf ein Stück mitzunehmen, erfuhren wir unter Androhung einer Geldstrafe.

Wer sagt das? Wo steht das? Alles, was in Deutschland auf Straßen und öffentlichen Wegen erlaubt und was verboten ist, regelt die Straßenverkehrsordnung StVO.

Wir wollen den Opa für einen Nachmittag aus dem Altenheim befreien und mit ihm auf dem umgebauten Lastenfahrrad durch den Park gondeln? Verboten. Um Mitternacht auf der Kreuzung mit den Nachbarn quatschen, selbst wenn kein fahrendes Auto zu sehen ist? Nix da, die Polizei scheucht uns auf den Bürgersteig. Die Gemeinde möchte Begegnungszonen wie in der Schweiz einrichten, damit alle Verkehrsteilnehmer gleichberechtigt unterwegs sein können? Nicht erlaubt. Tempo 30 soll flächendeckend den Verkehr in der Stadt ruhiger und sicherer machen? Nicht durch die StVO abgedeckt. Die Berliner fordern ein Fahrradstraßennetz für die Hauptstadt? Leider nicht StVO-konform, sagt der Innensenator. Und was ist mit dem Schilderwald an Straßen, auf denen das Tempo scheinbar willkürlich alle paar hundert Meter von 50 auf 30 und zurück wechselt? Ist das reine Schikane oder eine Geldbeschaffungsmaßnahme der Kommune? Auch diese scheinbar unsinnigen Tempowechsel haben ihre Ursache in der StVO.

Das deutsche Straßenverkehrsgesetz stammt in seiner ersten Fassung aus dem Jahr 1909. Die daraus abgeleitete Straßenverkehrsordnung wurde 1934 als Reichsstraßenverkehrsordnung verfasst und sollte den Autoverkehr aus seinem Nischendasein befreien. Seine „Leichtigkeit und Flüssigkeit“, so steht es heute noch im Gesetz, sollte durch andere Verkehrsarten nicht behindert werden. Störende Fußgänger und trödelige Radfahrer mussten aus dem Weg geräumt werden. Dieses verbriefte Recht auf Automobilität hält sich bis heute hartnäckig – auch in den Köpfen – und wird weiter umgesetzt.

Auch eine Neufassung der StVO aus dem Jahr 1970, die heute noch gilt, orientiert sich weitgehend am Leitbild der autogerechten Stadt. Zwar gab es nachfolgend einige Novellen, die Ausnahmen von den Regeln für Radfahrer zuließen oder punktuelle Tempobeschränkungen erlaubten. Doch Beschränkungen und Verbote des „fließenden Verkehrs“ – hier sind immer noch nur die Autos gemeint – gelten nur bei besonderer Gefahrenlage, etwa vor Schulen oder Kindergärten.

Mit der Politik im Dialog

Auf einer Fachkonferenz in Form eines parlamentarischen Abends, den der VCD zusammen mit dem Bundesverband Carsharing (bcs) durchgeführt hat, haben die Teilnehmerinnen und Teilnehmer diskutiert, welche Änderungen des Straßenverkehrsrechts notwendig sind. 

„Kommunen, die Kindern Platz schaffen, Radwege ausbauen, den ÖPNV beschleunigen und den Autoverkehr eindämmen wollen, brauchen eine Option“, sagt Wasilis von Rauch, VCD-Bundesvorsitzender,„denn nur eine Reform des Straßenverkehrsrechts kann den Spielraum für die Verkehrswende schaffen.“ Im Grunde müsste die Straßenverkehrsordnung komplett umgeschrieben werden, erklärt der VCD-Bundesvorsitzende. Seit langem setzt sich der VCD für eine Neuordnung der Straßennutzung ein, die alle Menschen als gleichberechtigte Verkehrsteilnehmer sieht. Das wäre der große Wurf.

Jan Werner, Geschäftsführer des Beratungsunternehmens KCW und Mitglied im wissenschaftlichen Beirat des VCD, plädiert für eine kleinere Lösung, mit der aber viel erreicht werden könnte. „Willigen Kommunen“, sagt der Verkehrsberater, damit meint er solche, die den Umweltverbund, also das Bus- und Bahnfahren, Rad- und Fußverkehr, in ihrer Stadt fördern wollen, „könnte ein ergänzender Absatz zu Paragraf 45 (9) StVO helfen. Der übrige Rechtsbestand müsste erst einmal nicht angetastet werden.“ Dieser Absatz fordert, dass – mit bestimmten Ausnahmen – neue Verkehrszeichen nur angeordnet werden dürfen, wenn sie durch eine besondere, im Einzelfall festzustellende Gefahrenlage begründet sind. Diese geringfügige Erweiterung soll Kommunen den Freiraum schaffen, um Tempolimits auf Hauptverkehrsstraßen einzuführen, Radwege auszubauen, Busspuren einzurichten oder Vorrangschaltungen für Bus und Bahn anzuordnen. Und zwar ohne dass sie sich mit einer Einzelfallprüfung rechtfertigen müssen. „Es muss genügen, dass die Kommunen einen schlüssigen Plan haben, wie sie die Verkehrssicherheit, die Gesundheits- und Umweltfolgen für ihre Bürgerinnen und Bürger umsetzen wollen“, begründet Jan Werner seinen Vorschlag.

Ob wir damit die Freiheit bekommen, in Begegnungszonen gleiche Rechte für Fußgänger und Sportwagenfahrer zu genießen? Auf jeden Fall wäre eine Stadt, in der die Bürgerinnen und Bürger demokratisch darüber entscheiden können, wo Rasen verboten und Radfahren erlaubt ist, schon mal ein ganzes Stück weiter.

Uta Linnert

fairkehr 5/2023