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Ein Pfad führt über eine grüne Alm
Ein Junge gießt Pflanzen, die in einer Holzkiste wachsen
Eine Seilbahngondel schwebt über eine dicht bebaute Stadt

Reise 2/2017

Eine Region schult um

In der Lausitz hat der Braunkohletagebau tiefe Furchen in der Landschaft hinterlassen. Wo die Bagger abgezogen sind, entsteht jetzt eine Seenlandschaft.

Foto: Freya Najade
Foto: Freya NajadeOben: Am Geierswalder See ist das hässliche Gesicht des Tagebaus nur noch eine Erinnerung. Unten: Abbaugebiet Welzow-Süd.

Wann der Arbeitstag von Klaus Renner beginnt, ist schwer zu sagen. An sonnigen Tagen wie diesen läuft er den ganzen Tag barfuß herum, und Hektik ist sowieso nicht sein Ding. Feine Wellen kräuseln sich am Strand des Geierswalder Sees, die Morgensonne wärmt den Sand. Renner verleiht Surfbretter und Boote, für später haben sich Surfschüler angekündigt. Gerade hat der 67-Jährige noch Zeit, um seine Strategie darzulegen. „Ausdauer, Ausdauer, Ausdauer. Von nichts kommt nichts.“ Wird schon werden, heißt das. Muss ja. Bei der herrlichen Umgebung hier.

Kaffeeduft weht herüber von der Beachbar am Ufer, die aussieht wie ein Piratenschiff. Gehört auch zu Renners See-Unternehmung. Die Gastronomie hat er vor vier Jahren aufgezogen und damit sein Geschäftsmodell verfeinert. „Die Wassersportschule und die Bar bedienen sich gegenseitig.“ Radfahrer machten jetzt bei ihm Rast, weil die Segel auf dem See so eine hübsche Kulisse abgeben. Und dabei studierten sie gleich die Angebote für einen Surfkurs. Ganz schön clever. Alles ist bereit im Urlaubsparadies Lausitzer Seenland.

Wenn man so will, geht die Landschaft hier auf ein gigantisches Geschäftsmodell zurück. Den beschaulichen Geierswalder See hat nicht die Natur erschaffen, sondern der Mensch. Wo heute gesegelt und gepaddelt wird, haben einst Bagger riesige Furchen ins Land gegraben und dabei mehr als 80 Ortschaften verschwinden lassen. Das Lausitzer Braunkohlerevier gehörte lange zu den größten in Deutschland, der fossile Brennstoff trieb den Industriestaat DDR an. Bis die Vorkommen Anfang der 90er-Jahre zur Neige gingen und kahle, klaffende Täler zurückblieben. Ganz zu schweigen von den Lausitzern: Von den mehr als 120000 Stellen im Bergbau bleiben heute noch etwa 8000. Tendenz sinkend.

Foto: Freya NajadeAn sonnigen Tagen läuft Surfschulmeister Klaus Renner barfuß herum. Hektik ist nicht sein Ding.

Schon früh fassten Entwickler den Plan, die Gruben zu fluten. So sind in den vergangenen knapp 20 Jahren zwischen Calau in Brandenburg und Görlitz in Sachsen 23 Seen entstanden – und damit eine völlig neue Tourismusregion: das Lausitzer Seenland. In ein paar Jahren sind die Seen dann vollgelaufen, 8000 Hektar Wasserfläche insgesamt. Zehn Seen werden durch Kanäle miteinander verbunden sein. Wie viele Steuergelder das kostet, ist kaum mehr auszurechnen, mehr als neun Milliarden Euro werden es wohl sein. Immerhin soll das Geld zweierlei bewirken: die vernarbte Landschaft vor der Verödung retten – und die Lausitzer gleich mit.

Maschinen sind verstummt, Menschen gestalten

Eine Region schult um, von Bergbau auf Tourismus. Vom Kumpel im Schichtdienst zum Rund-um-die-Uhr-Entrepreneur. Surf-Renner, wie sie ihn hier nennen, gibt das Modell für die Lausitz 2.0. Auch sein Mitarbeiter Kai Voigt, 40, hat den neuen Geist verinnerlicht: „Am Seenland gibt es keine Nachteile.“ Weiter oben, zwischen Strandparkplatz und Seerundweg, haben Voigt und Renner den Airstream abgestellt, einen amerikanischen Wohnwagen, der als Imbisswagen dient. Waffeln, Sandwiches, Softeis, das er Kindern auch mal gratis durch die Seitentür reicht.  

Wie viele Imbissbetreiber kann das Lausitzer Seenland wohl unterhalten? Viele Einwohner fahren täglich ins 65 Kilometer entfernte Dresden. Der Tourismus kann die Braunkohleindustrie als Hauptarbeitgeber noch nicht ersetzen. Die Arbeitslosigkeit liegt bei über zehn Prozent. Seit einigen Jahren sinkt sie aber stetig – und das, obwohl noch immer Stellen im Bergbau verloren gehen. Mehr als eine halbe Million Übernachtungen zählt das Tourismusamt jährlich, die Zahl steigt. Die Bettenauslastung liegt bei einem Drittel. Da geht noch was, da müssen Pioniere wie Renner und Voigt ran. Lausitzer, die sich was trauen. Leute wie Andreas Wobar, Bettina Muthmann und Martin Schwarz, die an der Tagebaukante in Großräschen einen Weinberg anlegten. Oder Cornelia Schnippa. Sie kam auf die Idee mit den Alpakas. Die 47-Jährige nimmt die kleinen, wolligen Anden-Kamele mit auf ihre Führungen. Am liebsten, wenn Kinder dabei sind. „Die dürfen dann ein Alpaka führen und langweilen sich nicht so schnell, wenn die Erwachsenen viele Fragen stellen.“ Wenn sie zum Beispiel wissen möchten, wie es sich anfühlte, neben einer Grubenbahn aufzuwachsen. „Schlimm war es erst, nachdem die Kohlebahn und die quietschenden Bagger in den 80er-Jahren verschwanden. Die Ruhe war erst mal gewöhnungsbedürftig“, sagt Schnippa. Ihre Geschichte ist die einer ganzen Region: Die Maschinen sind verstummt. Jetzt müssen die Menschen gestalten.

In einem merkwürdigen Zwischenstadium befindet sich das Lausitzer Seenland. Gerade jetzt ist die spannendste Zeit, es zu besuchen. Das Land ist weit, es wirkt unbesetzt, und das nur zwei Zugstunden von Berlin entfernt. Der Besucher fühlt sich klein und zu Gast im Sandkasten eines Riesen, der erst mit Schaufeln Löcher gebuddelt und diese dann aus Spaß mit Wasser gefüllt hat. Und so steht man dann am Ufer eines menschenleeren Sees, lässt den Blick schweifen – und der prallt plötzlich auf einen monströsen Kran, eine zurückgelassene Bergbaumaschine. Als hätte jemand in ein zu perfektes Bild einen Störer eingebaut, damit keine Langeweile aufkommt. Zwei Welten überlagern sich, sie existieren am gleichen Ort. So soll es bleiben, wenn es nach Wolfgang Kaiser geht. Der Bergbauingenieur ist 80 Jahre alt. Seine Arbeit hat er geliebt, das ist nicht zu übersehen, wenn er über die weiße Feder am Hut seiner alten Kluft streicht. Jetzt heißt er die neue Landschaft willkommen.

Menschenfreies Gelände: das, was viele Touristen suchen

Eine Fußgängerbrücke führt in der Nähe seines Hauses hinüber zum Sedlitzer See. „Ich schaue mich um und weiß: Das hätte es alles nicht gegeben, wenn wir weitergefördert hätten.“ Das Becken kennt er noch ohne Wasser. Bei Ostwind stank es hier nach Gas, bei Westwind kam der schwarze Staub von den Brikettfabriken. Ohne die Flutungen wäre die Lausitz nie so schön geworden. „Wir wären jetzt tot und verlassen.“ Das klingt dramatisch, ist aber nicht übertrieben. Dafür muss man nur seinen Enkel fragen, Marcus Kaiser, 29. Er hat studiert und zog fort. Jetzt hat er eine kleine Familie, mit der er die Lausitz besucht. „Schauen Sie sich um“, er zeigt Richtung Uferpromenade und Jachthafen. „Zum Urlaubmachen komme ich immer wieder her.“ Wenn es nach ihm geht, wird seine heute einjährige Tochter in diesen Gewässern schwimmen lernen.

Bis die Seen vollgelaufen sind, ändert die Landschaft ständig ihr Gesicht. Kann es einen besseren Anreiz geben, um immer wieder zu kommen? Unfertig wird das Seenland noch lange bleiben. Daran erinnern schon die „Betreten verboten“-Schilder, die am Rande vieler Böschungen stehen. Unter dem Bewuchs verbirgt sich Aushub aus einstigen Kohlegruben. Einsturzgefahr. Oder anders gesagt: menschenfreies Gelände. Genau das, was viele Touristen suchen. Dass doch genug Menschen kommen und es bergauf geht im Lausitzer Seenland, das kann Surf-Renner an einer Kennziffer seines Geschäfts festmachen. Gerade gibt er so wenig Geld für Werbung aus wie noch nie. Läuft also. Endlich. Ausdauer, Ausdauer, Ausdauer.

Anna Schunck, David Schumacher

Anreise per Bahn: mehrmals täglich direkt oder mit einmal Umsteigen ab Berlin oder Dresden nach Senftenberg.

Dieser Text ist zuerst erschienen im
Magazin DB Mobil.


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fairkehr 5/2023