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Ein Pfad führt über eine grüne Alm
Ein Junge gießt Pflanzen, die in einer Holzkiste wachsen
Eine Seilbahngondel schwebt über eine dicht bebaute Stadt

Titel 1/2017

Volksentscheid Fahrrad

Eine Bürgerinitiative setzt sich für bessere Fahrradwege in Berlin ein. Der geplante Volksentscheid über ein neues Radgesetz ist vorerst gescheitert, doch der Fall zeigt: Einsatz zeigen lohnt.

Foto: Volksentscheid Fahrrad BerlinMehr Platz fürs Fahrrad in Berlin: Eine Bürgerinitiative protestiert.

Ein Radweg ist dann sicher, wenn Eltern ihre Kinder allein darauf fahren lassen würden. Das sollte selbstverständlich sein, findet Heinrich Strößenreuther. „Doch davon sind wir in Berlin weit entfernt“, sagt Strößenreuther, einer der Sprecher der Initiative „Volksentscheid Fahrrad“, die sich für besseren Radverkehr einsetzt. Damit sich das ändert, fordern er und seine Mitstreiter ein neues Gesetz, das sie ursprünglich im September mit einem Volksentscheid durchbringen wollten. Aber dann kam alles ganz anders.

Im Frühsommer 2016 hatte die Initiative „Volksentscheid Fahrrad“ begonnen, Unterschriften für ihren Gesetzentwurf zu sammeln. Die Hauptforderungen: 350 Kilometer Fahrradstraßen, zwei Meter breite Radwege an jeder Hauptstraße und neue Radschnellwege. Vor allem sollte klar sein, bis wann wie viele Kilometer davon fertig sein müssen. Denn an verbindlichen Vorgaben habe es bisher gehapert, kritisiert die Initiative: Die Berliner Radverkehrsstrategie von 2013 sei nur langsam umgesetzt worden – wenn überhaupt. „Und wenn in der Politik zu wenig passiert, ist eben die Bevölkerung gefragt“, sagt Strößenreuther.

In Deutschland ergänzen sich parlamentarische und direkte Demokratie auf Landesebene. Das Verfahren für einen Volksentscheid ist in allen Bundesländern dreistufig: Zuerst muss beim zuständigen Parlament ein Antrag auf ein Volksbegehren gestellt werden. Ist der zulässig, wird ein Volksbegehren durchgeführt. Danach kann es zum Volksentscheid kommen. Genaue Vorgaben für die einzelnen Schritte legen die Landesverfassungen fest.

Um ein Volksbegehren im Stadtstaat Berlin zu beantragen, müssen innerhalb von sechs Monaten mindestens 20000 gültige Unterschriften wahlberechtigter Bürger gesammelt und dem Senat vorgelegt werden. Wenn der Volksentscheid den Erlass eines Gesetzes zum Ziel hat – so wie bei der Rad-Initiative – , werden die Unterschriften zusammen mit einem Gesetzentwurf eingereicht. Der „Volksentscheid Fahrrad“ hat diese erste Etappe erfolgreich gemeistert. Für ihr Radgesetz unterschrieben in knapp vier Wochen mehr als 100000 Menschen, fünfmal so viele wie notwendig. „Das zeigt, dass dringend etwas geändert werden muss“, sagt Strößenreuther. Im vergangenen Jahr gab es zwar weniger Unfälle in Berlin, dafür aber mehr Verkehrstote. 16 davon waren Radfahrer, sechs mehr als im Vorjahr. Das könne viele Gründe haben, heißt es bei der Berliner Polizei – etwa, dass der Anteil der Radfahrer insgesamt zugenommen hat. Für Strößenreuther ist das ein Grund mehr, schnell etwas zu ändern. „Es ist ja wünschenswert, dass mehr Menschen Fahrrad fahren statt Auto“, sagt er. Das Problem ist nur: Der Gesetzesentwurf ist auf seinem Weg durch die Behörden steckengeblieben.

Verzögerungen und Hürden

Nachdem das Team vom Radentscheid den Antrag im Juni beim Senat zur Prüfung eingereicht hatte, schien alles auf einem guten Weg zu sein. Doch die Antwort blieb aus. So lange, dass die Initiative den Senat im Dezember wegen Untätigkeit verklagte – auch weil die Zeit drängte. Denn damit ein Volksentscheid in Berlin erfolgreich ist, muss nicht nur die Mehrheit für den Gesetzesentwurf stimmen, sondern es muss sich auch mindestens ein Viertel der Wahlberechtigten an der Abstimmung beteiligen. Deshalb sollte der Volksentscheid ursprünglich mit der Bundestagswahl im September verknüpft werden. Dafür ist es nun zu spät: Die verbleibenden Hürden bis zum Volksentscheid zu überwinden, würde gut acht Monate dauern. „Das kommt zeitlich überhaupt nicht mehr hin“, sagt Strößenreuther.

Es sei kein Sonderfall, dass Volksbegehren scheitern, erklärt der Politikwissenschaftler Frank Decker von der Universität Bonn. Die Möglichkeit der direkten Demokratie sei zwar auf Länderebene gegeben und werde oft genutzt. Trotzdem verursache es nicht selten Probleme, wenn gesellschaftliche Gruppen versuchen, ein Anliegen „von unten“ einzubringen. „Die Bürger nehmen dann die Rolle der Opposition ein. Das kann Konflikte zwischen dem Parlamentswillen und dem Volkswillen hervorrufen“, meint Decker. Außerdem komme es häufig vor, dass Anträge vom zuständigen Ministerium für unzulässig erklärt werden, etwa wenn zu hohe Kosten für das Land entstehen oder es rechtliche Schwierigkeiten gibt.

Genau damit muss sich das Team um Strößenreuther nun auseinandersetzen. Im Januar deckte ein Medienbericht auf, dass der Gesetzesentwurf der Rad-Initiative schon im Oktober für unzulässig befunden worden war. Das Land sei für manches, was die Fahrrad-Initiative fordert, gar nicht zuständig, soll es unter anderem in dem Rechtsgutachten heißen. Die Kosten für das Vorhaben hatte das Verkehrsministerium schon zuvor höher geschätzt als die Rad-Initiative. Das Gutachten liegt nun offen. Warum der Ablauf sich verzögert hat, ist unklar. „Die Bewertung muss abschließend und rechtssicher sein, dafür stehe ich ein“, erklärte Berlins Innensenator Andreas Geisel. Bewusst sei der Entscheid nicht hinausgezögert worden.

Foto: Volksentscheid Fahrrad BerlinEin Sprecher der Bürgerinitiative in Aktion: Heinrich Strößenreuther.

Das Team vom „Volksentscheid Fahrrad“ ist trotzdem wütend, doch Strößenreuther zeigt sich weiter zuversichtlich. „Wir sind auf keinen Fall gescheitert“, sagt er. „Ich würde sogar sagen, es ist alles in allem ein bombastischer Erfolg.“ Noch nie seien so schnell so viele Stimmen für ein Volksbegehren in Berlin zusammengekommen. Das habe den Radverkehr zu einem Wahlkampfthema gemacht – und das Anliegen auf die politische Agenda gewuchtet.

Neues Mobilitätsgesetz in Berlin

Der rot-rot-grüne Senat, der seit Dezember in Berlin regiert, will den Gesetzesentwurf in sein Programm aufnehmen und ihn in Absprache mit den Verbänden weiter ausarbeiten. Im Frühjahr 2017 soll ein neues Mobilitätsgesetz in Kraft treten, beruhend auf dem Radgesetz der Initiative. Die vermisst darin noch viele ihrer Forderungen, werde aber weiterverhandeln. „Etappenziel erreicht!“ heißt es auf der Webseite. „Jetzt müssen wir den neuen Koalitionspartnern Druck machen, dass sie das Gesetz bis März beschließen.“ Der VCD Nordost unterstützt die Initiative und begrüßt, dass der neue Senat das Geld für den Ausbau der Fahrradinfrastruktur schnell erhöhen will.

Ob es irgendwann trotzdem einen Volksentscheid geben wird, ist unklar. Ein Vorbild ist die Rad-Initiative für manche schon jetzt: In Bamberg machen sich Radler nun ebenfalls für ein neues Radgesetz stark. In Berlin könnten es Bürgerbegehren künftig leichter haben. Der neue Berliner Koalitionsvertrag sieht auch vor, die direkte Demokratie zu stärken. Unter anderem sollen klare Fristen eingeführt werden, wie lange eine Zulässigkeitsprüfung höchstens dauern darf.     

Hanna Pütz

www.volksentscheid-fahrrad.de, www.mehr-demokratie.de

Der VCD Nordost unterstützt die Initiative

Der VCD Nordost unterstützt die Initiative „Volksentscheid Fahrrad”: „Wir begrüßen, dass der neue Senat zugesagt hat, die Gelder für den Ausbau der Fahrradinfrastruktur schnell zu erhöhen. So müssen zum Beispiel die zugesagten zwölf Fahrradfachleute für die Verwaltung zügig ausgeschrieben und besetzt werden. Als verkehrsträgerübergreifender Verband ist uns die vom neuen Senat geplante Umsetzung eines umfassenden Mobilitätsgesetzes, wovon das Radgesetz die erste Stufe sein soll, besondes wichtig, denn dieses hätte eine Chance, langfristig – also nachhaltig – den Umbau des Berliner Verkehrs zugunsten des Umweltverbundes zu bewerkstelligen”, erklärt Wanja Borchert, VCD Nordost.

fairkehr 5/2023