Reise 2/2005

Weltkulturerbe

Reif für die Insel

Seit Juli 2004 gehören die norwegischen Vega-Inseln zum Unesco-Weltkulturerbe. Ausgezeichnet wurden vor allem die Bewohner des Schärenreiches. Seit über 1500 Jahren erhalten sie mit Fischfang und Landwirtschaft eine weltweit einzigartige Kulturlandschaft. Jetzt soll auch der Tourismus helfen, das wirtschaftliche Überleben auf den Inseln am Polarkreis zu sichern.

Foto: Uta Linnert

Als die 23 Abgesandten aus Vega in Shanghai die Auszeichnung ihres Archipels zum Weltkulturerbe entgegennahmen, waren damit schon zwei Prozent der Inselbevölkerung anwesend. „Wir haben mehr Inseln als Einwohner“, beschreibt Rita Johansen ihre Welt am Rande des Polarkreises. Im Konferenzsaal des neuen Vega Havhotell erzählt die engagierte vierzigjährige Norwegerin nicht ohne Stolz, warum ihre Heimat als Weltkulturerbe anerkannt wurde. „Unser Inselreich und das damit verbundene Leben ist einzigartig. Das zu zeigen war unser Ziel – und die gesamte Bevölkerung stand zu allen Zeiten hinter uns“, sagt Frau Johansen, die maßgeblich am Erfolg des Projektes beteiligt war und jetzt die Öffentlichkeitsarbeit übernommen hat.

Foto: Vega, Uta Linnert

Karge Schönheit: In die Weite der nordnorwegischen Inseln und Schären fliegen die Eiderenten zur Brutzeit von März bis Juni ein. Die Touristen kommen überwiegend an den hellen, langen Sommertagen.

Vega, das sind 6000 kleine und kleinste Inseln und Schären verstreut im tiefblauen, klaren Nordmeer. Bizarre Felsformationen ragen aus der ansonsten mit grünen Moos- und Grasmatten bedeckten Inselgruppe. Die höchsten Berge auf der Hauptinsel Vega sind bis zu 800 Meter hoch. Auf dieser größten Insel, die auch dem Archipel seinen Namen gibt, leben die meisten der insgesamt 1400 Einwohner. Vega liegt vor der Küste der Provinz Helgeland im Norden Norwegens, dort wo das Land ein nicht mehr als 100 Kilometer breiter, gebirgiger Streifen zwischen dem Meer und dem Nachbarn Schweden ist.

Leben am Limit

„Die Bewohner auf Vega führten von jeher ein hartes, abgeschiedenes aber genügsames Leben“, sagt Rita Johansen. Die Winter sind lang und dunkel, denn die Inseln liegen nur wenig unterhalb des Polarkreises. Jedes Nordatlantiktief fegt im Winter mit Schnee, im Sommer mit Regen und Sturm über die winzigen Landflecken hinweg. Bäume, die den Siedlungen etwas Windschutz bieten könnten, gab es hier ursprünglich keine. Die vereinzelten Kiefern, Birken oder kleinen Pinienwäldchen sind Kulturpflanzen, die die Menschen vom Festland eingeführt haben. Der die Küste umspülende Golfstrom macht die Inseln überhaupt erst bewohnbar.

Fische und Federn

Ausgezeichnet mit dem Gütesiegel Weltkulturerbe wurde vor allem die an die extremen Lebensverhältnisse angepasste Lebensweise der Fischerfamilien, die seit etwa 1500 Jahren das Bild der Inseln prägen.

Ihre leuchtend gelb, rot oder weiß angemalten schnörkellosen Holzhäuser liegen in kleinen Grüppchen auf den flachen Uferstreifen der Inseln. Die sogenannten „Rorbuer“, die traditionellen Fischerhütten, stehen auf Holzpfählen mit der Vorderseite direkt im Wasser. Vor allen Häusern dümpeln an Stegen bunte Holzboote: Die meisten haben einen Aufbau für den Ruderstand oder eine kleine Kajüte. Auf der etwa 15 mal 15 Kilometer großen Hauptinsel, der einzigen, bei der man überhaupt von einem Landesinneren sprechen kann, liegen einige wenige Siedlungen an den Wegen in der Inselmitte.

Die Männer auf Vega waren Fischer und lebten von den reichen Vorkommen an Heringen, Dorsch, Köhler und Schellfischen. Die Frauen kümmerten sich um einige Kühe oder Schafe. Vor allem aber trugen sie durch die Eiderentenpflege zum Lebensunterhalt der Familien bei. „Früher war fast jede Insel zur Brutzeit der Eiderenten bewohnt“, erklärt Rita Johansen diesen Vega-typischen Wirtschaftszweig. Die Frauen bereiteten den Enten unter Steinwällen, in Holzkästen oder kleinen Wellblechhütten geschützte Nistplätze vor. Denn jedes Jahr im März kommen große Populationen von Eiderenten nach Vega zum Brüten und zur Aufzucht ihrer Jungen. Die Enten finden hier optimale Nahrungsbedingungen – und behaglich vorbereitete Herbergen, die sie als Nistplätze einnehmen. Beim Nestbau rupfen sich die Enten ihre Daunen – die leichtesten und weichsten Brustfedern – aus, um es ihren Jungen so warm wie möglich zu machen. Während dieser Zeit sorgten die Frauen von Vega für die Sicherheit der Nester. Die wilden Enten dankten es ihren Hüterinnen mit Zutrauen – und mit einem ansehnlichen Haufen an weichen Federn. Die Daunen bleiben zurück wenn die Jungen im Juni/Juli flügge werden und die Entenfamilien Vega wieder verlasssen. Die Frauen sammelten die Daunen ein und verarbeiteten sie zu warmen Federbetten.

„Um 1900 ernteten die Frauen von Vega noch eine Tonne Daunen pro Jahr“, sagt Inga Næss, die das kleine Eiderentenmuseum auf der Hauptinsel in Nes betreibt. Frau Næss wirft den Besuchern der Ausstellung einen medizinballgroßen Daunenbausch zu – den Ertrag aus einem Nest. Der Federball wiegt so gut wie nichts und lässt die Tonne zusammengesammlter Daunen unvorstellbar groß werden. Alles wurde von Hand gereinigt und schließlich zu Federdecken vernäht. „Daunen aus 70 Nestern braucht man für eine Bettdecke. Sie wiegt dann etwa 1200 Gramm“, erläutert die Museumsleiterin anhand der ausgestellten, archaisch aussehenden Produktionsgeräte die Herstellung. „Zu Zeiten der Hanse waren die warmen, federleichten Decken aus Vega sehr begehrt und wurden nach ganz Europa verkauft“, sagt sie. Heute sind die Decken eher ein ökologisches Nischenprodukt, von denen nur noch etwa fünfzehn handgenähte Einzelstücke die Inseln pro Jahr verlassen.

Reiseziel Einsamkeit

„Noch immer leben viele Menschen auf Vega in erster Linie vom Fischfang – und auch die Kunst der Beherbergung der Eiderenten hat sich vielerorts erhalten,“ sagt Rita Johansen. Deshalb verstehen die Insulaner die Auszeichnung zum Weltkulturerbe als Bestätigung, aber auch als Ermunterung, sich dem rauhen Leben auf Vega zu stellen und das kulturelle Erbe der Inseln zu erhalten.

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Was nicht immer leicht ist. „Nur wenige Menschen wollen heute noch auf Inseln leben, auf denen sie von den Errungenschaften und dem Komfort der Städte abgeschnitten sind, wo es für Kinder so gut wie keine Schulen mehr gibt, und der Arztbesuch eine aufwendige Tagesreise ist.“ sagt Rita Johansen. Nach und nach wanderten viele Inselbewohner aufs Festland aus. Viele Inseln weit im Westen sind nicht mehr bewohnt. Nur im Sommer kommt etwas Leben auf die Inseln zurück, öffnet auch mal ein kleines Café für die Besucher.

Jetzt soll der Tourismus für ein weiteres wirtschaftliches Standbein sorgen und der Entvölkerung entgegenwirken. Schließlich haben die Inseln Besuchern einiges zu bieten. Durch ihre Lage weit draußen im Nordmeer findet man hier wirklich noch die oft gesuchte Einsamkeit und unberührte Natur. Der Artenreichtum an maritimen und alpinen Pflanzen auf den kargen Böden und im Moor ist sehr groß. Die verschiedenen Strandabschnitte – die Inseln haben sich seit der letzten Eiszeit vor 10000 Jahren um über 70 Meter aus dem Meer gehoben – zeigen noch Reste von Besiedlungen aus der Steinzeit. Viele Seevögel lassen sich auf Vega je nach Saison beobachten: Tauchenten, Seeadler und eine der größten Kormorankolonien der Welt.

Gleich neben dem Eiderentenmuseum in Nes können Besucher sich in Fischerherbergen einmieten. Die ehemaligen Besitzer haben ihre „Rorbuer“ zu einfachen Ferienwohnungen umgebaut. Aus dem Wohnzimmer, das auf Stelzen direkt über dem Wasser steht, hat man einen Blick aufs eigene Boot und die karge Schönheit der Nordmeer-Bucht. Nichts ist zu hören außer dem Plätschern des Wassers und dem Pfeifen des Windes durch die Ritzen der Veranda. Mit Fleecepulli kann man sich auch auf der Holzterrasse an der Hauswand die klare Luft um die Ohren pusten lassen. Für Entdeckungstouren zu anderen Inseln oder zum Angeln zwischen den Schären nimmt man das Boot oder man heuert zum Hochseefischen bei einem Profi an. Wer es komfortabler mag, quartiert sich im einzigen Hotel von Vega ein und genießt die Aussicht aufs Meer aus zartrosa lasierten, holzvertäfelten Zimmern oder lässt sich zum Sonnenuntergang den gerade gefangenen Fisch im maritim dekorierten Hotel-Restaurant servieren. „Hier erhält man noch zu allen Zeiten ein freies Zimmer,“ ist sich Hanne Kvitaer, Tourismusbeauftragte der Destination Helgeland Tourismus, sicher. Angst, dass die Inseln einmal überlaufen sein könnten oder zu viele Besucher die Einsamkeit zerstören könnten, hält sie für ganz und gar unbegründet. „Dafür liegen wir hier viel zu sehr ab vom Schuss“, sagt sie.

Reif für die Insel

Hanne Kvitaer erzählt von den ersten zivilisationsmüden Städtern, die die frei gewordenen Hüterjobs auf den Vega-Inseln entdecken. Es sind Büromenschen, die sich für drei bis vier Monate von ihrem Arbeitgeber beurlauben lassen, um in der Abgeschiedenheit des Nordens auf brütende Eiderenten aufzupassen. In den hellen, weniger rauhen Frühsommermonaten sind die Inseln ein nahzu idealer Ort für Aussteiger. Und für das einsame Leben mit den Eiderenten braucht man nicht mal norwegisch zu können. Das fließend Englisch sprechende Tourismusbüro ist gerne bei der Vermittlung einer einsamen Insel behilflich.

Uta Linner

 

Infografik: Fairkehr/Marc Venner

 

Anreise: Nach Vega kommt man nur mit dem Schiff. Die Fähre nach Igerøy von Horn oder Tjøtta aus nimmt auch Autos und Fahrräder mit. Die Schnellboote von Brønnøysund oder Sandnessjøen fahren Vega ebenfalls an. Die Provinz Helgeland erreicht man per Auto am komfortabelsten mit der Fähre Colorline Kiel–Oslo (www.colorline.de). Dann über die E6 via Trondheim, Steinkjer bis Mosjøen, danach über die Küstenstraße RV 17 nach Brønnøysund. Auch der Zug fährt nach Helgeland. Die Fahrt von Oslo bis Mosjøen dauert 13 Stunden und kostet – im Internet gebucht (Minipris) – nur 199 NOK, das sind umgerechnet 24 Euro. www.nsb.no
Minikreuzfahrt vor der Küste Helgelands: Die Schiffe der Hurtigruten fahren täglich von Brønnøysund nach Rørvik an Vega vorbei (nord- und südwärts). Zustieg auch ohne Kabinenbuchung möglich. www.hurtigruten.de
Unterkunft: Vega Havhotell,
N-8980 Vega, Tel.: (+47) 75036400
www.havhotellene.no
Unterkünfte entlang der Küstenstraße auch direkt unter: www.rv17.no
Informationen, Auskünfte über Unterkunft, Sehenswürdigkeiten, Fähren: Destination Helgeland AS, P. O. Box 314, N-8901 Brønnøysund, Tel.: (+47) 750180-00, Fax: -0, www.visithelgeland.com
Allgemeine Informationen über Norwegen
Innovation Norway, Postfach 113317, 20433 Hamburg, Tel.: (040) 01805001548 (0,12 Euro/ min), Fax: (040) 22941588 www.visitnorway.com

 

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