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Ein Pfad führt über eine grüne Alm
Ein Junge gießt Pflanzen, die in einer Holzkiste wachsen
Eine Seilbahngondel schwebt über eine dicht bebaute Stadt

Experimente für die Verkehrswende

Regelmäßig ausgebremst

Verkehrsversuche können die Mobilitätswende beschleunigen. In Deutschland werden sie aber aufgrund der Rechtslage ausgebremst. Die verhindert alles, was den Autoverkehr zurückdrängt.

Ein Straßenfest, im Vordergrund tanzen Menschen auf einem gelben Bodenaufkleber.
Bezirksamt Altona/Isadora TastBereits 2019 startete die Verwaltung im Hamburger Stadtteil Ottensen mit der Kampagne „Ottensen macht Platz“ die Bemühungen für ein autoarmes Quartier.

Die beiden Frauen sitzen vor dem Café „El Rojito“ auf dem Bordstein und genießen die letzten warmen Sonnenstrahlen des Herbsttages. Ein paar Meter weiter, auf den neuen Bänken am Straßenrand der Großen Brunnenstraße in Hamburgs hippem Stadtteil Ottensen, sitzen drei junge Männer und ein Rentnerehepaar. Sie lesen, plaudern oder schauen­ den Passant*innen hinterher, die zu Fuß oder mit dem Rad vorbeikommen. Möglich ist das erst, seit vier Poller den 100 Meter langen Straßenabschnitt für den Autoverkehr sperren. Vor einem Jahr parkten hier noch 20 Pkw am Straßenrand und Autos rumpelten rund um die Uhr übers Kopfsteinpflaster.

Wäre es nach einer Handvoll Anwohnenden und Gewerbetreibenden gegangen, wäre das noch heute so. Sie wollten die Verkehrsberuhigung der Großen Brunnenstraße ebenso verhindern wie den Umbau ihres Viertels in ein autoarmes Quartier. Nach einem Hin und Her vor Gericht, in dem die Klagenden erst Recht bekamen und die Verwaltung dann nachbesserte, ist zumindest die Große Brunnenstraße nun dauerhaft für den Durchgangsverkehr gesperrt. Weitere Maßnahmen für Ottensen sind in Vorbereitung.

Verkehrsversuche sind gewünscht – eigentlich

So wie in Hamburg geht es zurzeit vielen Verkehrsplaner*innen in Deutschland: Wenn sie Straßen für den Autoverkehr sperren oder ihn auch nur einschränken wollen, drohen Klagen. Dabei sind Verkehrsversuche vom Gesetzgeber vorgesehen. „Verkehrsplaner können neue Vorhaben mehrere Monate testen. Beispielsweise welche Radverkehrsführung sich an einem Ort besonders eignet oder ob Begegnungszonen oder Shared Spaces in einem Quartier funktionieren“, sagt Uta Bauer, Mobilitätsexpertin am Deutschen Institut für Urbanistik.

Auch die „Experimentierklausel“ (§ 45 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 StVO), die im Zuge der Novelle der Straßenverkehrsordnung im Jahr 2020 formuliert wurde, sollte Praxisversuche eigentlich einfacher machen. Denn seitdem müssen die Verwaltungen nicht mehr explizit eine Gefahrenlage nachweisen, um Verkehrsversuche durchzuführen.

Bei so einem Reallabor zur Mobilität gelten allerdings weiterhin die Regeln der Straßenverkehrsordnung (StVO) und damit auch die Regeln des Straßenverkehrsrechts (StVG). Das führt zu Problemen. Denn die aktuelle Rechtslage macht jeden Verkehrsversuch angreifbar­­.

„Das Straßenverkehrsrecht soll bislang nur die Leichtigkeit und Flüssigkeit des Autoverkehrs sicherstellen. Alles, was den Autoverkehr bremsen kann, begegnet Problemen“, erklärt Miriam Dross, Juristin und Fachgebietsleiterin Nachhaltige Mobilität in Stadt und Land beim Umweltbundesamt (UBA). Das bringt Planer*innen in die Zwickmühle. „Sie sollen den öffentlichen Straßenraum im Sinne der Mobilitätswende umgestalten, aber um das auszuprobieren, reichen die rechtlichen Grundlagen oft nicht“, sagt Dross.

Ein Radfahrer ist von hinten zu sehen, wie er zwischen zwei Pollern hindurch auf eine Wohnstraße mit Kopfsteinpflaster fährt.
Andrea ReidlDie Große Brunnenstraße in Hamburg ist nach gerichtlichem Hin und Her nun autofrei.

Das Wie ist klar

Wie die Mobilitätswende geht, wissen die Verkehrsplaner*innen. Die einzelnen Bausteine wurden bereits weltweit umgesetzt und haben sich bewährt. Dazu gehören etwa die Superblocks in Barcelona, die modalen Filter in London, die Tempo-30-Zone in der Brüsseler Innenstadt, die Flaniermeile am Times Square, Pop-up-Radwege in Berlin und vieles mehr. Die Begleitforschung hat gezeigt: Diese Maßnahmen reduzieren den Autoverkehr, verbessern die Luftqualität und verringern den Verkehrslärm.

Aber trotz der guten Ergebnisse ist es für Verkehrsplaner*innen in Deutschland weiterhin schwierig, die Bausteine im Verkehrsversuch auch nur zu testen. Immer wieder klagen Gegner*innen des Wandels erfolgreich vor dem Verwaltungsgericht.

Das hat erst im Herbst die Stadt München erlebt. Dort haben drei Anwohner gegen einen Verkehrsversuch geklagt. Dem Richter des Verwaltungsgerichts fehlte die eindeutige Gefahrenlage im Sinne von § 45 Abs. 1, Abs. 9 StVO, und der Verkehrsversuch sollte als Kompromisslösung eine Woche früher beendet werden.

Was war geschehen? Im Rahmen eines Reallabors hatte die Stadt München mit Wissenschaftlern der Technischen Universität München und dem Münchener „Cluster für die Zukunft der Mobilität in Metropolregionen“ (MCube) zwei der 2300 Straßen in der Millionenstadt gesperrt. Eine war die 300 Meter lange Kolumbusstraße. Eine Wohnstraße in Isarnähe, die vor allem parkenden Autos vorbehalten war. Das änderte sich, als MCube die 41 Parkplätze mit Rollrasen begrünte, Hochbeete zum Gärtnern aufbaute, einen Strand aufschüttete und zahlreiche Bänke und einen großen Sandkasten aufstellte. Mit dem Grün und den Bänken kamen Erwachsene und Kinder in die Straße. Sie wurde zu einem neuen Stadtplatz.

Damit hatten die Wissenschaftler*innen bereits eines ihrer Forschungsziele erreicht: Sie wollten herausfinden, wie Mobilität im Quartier zukünftig gestaltet sein sollte, damit sie sozial und klimagerecht ist. Dazu gehört unter anderem, dass die Menschen im Sommer vor ihrer Haustür einen kühlen Ort zum Verweilen finden, um ihren aufgeheizten Wohnungen zu entfliehen. Fünf Monate, bis Ende Oktober, sollte der Platz den Menschen gehören. Nur Rettungswagen und die Müllabfuhr durften passieren.

Einzelpersonen stoppen Verkehrsversuche

Einem Bewohner einer umliegenden Straße war das zu lang. Er parkte manchmal in der Kolumbusstraße. Das ging nun nicht mehr. Außerdem fühlte er sich schlecht informiert über den Verkehrsversuch. Er suchte sich zwei Mitstreiter und stand Mitte Oktober mit ihnen vor dem Verwaltungsgericht.

Die Vorwürfe der Kläger sind für Georg Dunkel, Leiter des Mobilitätsreferates der Landeshauptstadt München, nur teilweise nachvollziehbar. „Wir haben die Kolumbusstraße für den Verkehrsversuch ausgewählt, weil der Durchgangsverkehr dort gering ist und dort keine direkten Garagenzufahrten existieren“, sagt er. Damit waren die Einschränkungen gering.

Auch der politische Rückhalt war da. Im Bezirksausschuss waren 19 Ausschussmitglieder für den Verkehrsversuch, vier waren dagegen. „Die Presse hatte bereits im Vorfeld ausführlich über das Vorhaben berichtet, zudem wurden Plakate in der Straße aufgehängt und Infoblätter in den Briefkästen verteilt“, sagt Dunkel. Bürgerinnen und Bürger wurden demnach über verschiedene Kanäle informiert.

Dennoch nimmt Dunkel den Vorwurf der unzureichenden Information ernst. „Wir hoffen, dass die Begleitforschung uns Tipps gibt, wie wir die Öffentlichkeit und die Anwohner zukünftig noch besser einbinden können“, sagt er. Er weiß: Er braucht die Bevölkerung beim Umbau der Straßen. Schließlich war der Verkehrsversuch in der Kolumbusstraße nur ein Testballon für den anstehenden Umbau vieler anderer Straßen in München.

Ein Kind gießt Pflanzen, die in einer Holzkiste wachsen.
LHM, Michael NagyFür das Projekt „Autoreduziertes Quartiere“ (AQT) wurde die Kolumbusstraße in München temporär umgestaltet und für Fahrzeuge gesperrt.

Kommunikation verbessern

„Gute Kommunikation ist bei Verkehrsversuchen essenziell“, betont auch Uta Bauer, und zwar in allen Phasen des Projekts. Im Hamburger Stadtteil Ottensen hatte die Evaluation gezeigt, dass über 80 Prozent der Befragten den Umbau in ein autoarmes Quartier gut fanden. In den Medienberichten war diese große Zustimmung aber oft nicht sichtbar. Dort waren die Gegner*innen des Projekts omnipräsent.

Das ist keine Ausnahme. In der Berichterstattung standen in München ebenfalls die Kläger aus der Kolumbusstraße im Rampenlicht. „Wir brauchen neue Strategien, um der leisen, zustimmenden Mehrheit zukünftig mehr Gehör zu verschaffen“, sagt Uta Bauer. Es könne nicht sein, dass die wenigen lauten Stimmen die Diskussion bestimmten und sich durchsetzten.

Allerdings bestimmen die Gegnerinnen und Gegner des Wandels nicht immer die Stadtentwicklung. Ebenfalls in München wurde die Sendlinger Straße 2019 nach einem Verkehrsversuch erfolgreich in eine Fußgängerzone umgewandelt. Und egal ob Erfurt, Lübeck, Köln oder Freiburg – quer durch die Republik lassen sich Beispiele finden, wo Projekte zur Verkehrsberuhigung erfolgreich umgesetzt wurden.  

Dabei sind die Bedenken eigentlich immer dieselben: Die Anwohnenden fürchten, dass sich durch die Verkehrsberuhigungen der Autoverkehr in die umliegenden Straßen verlagert. Uta Bauer gibt Entwarnung. Sie sagt: „Die Forschung zeigt, dass das Gegenteil der Fall ist.“ Verkehrsberuhigungen führen dazu, dass sich das Pkw-Aufkommen verringert. „Traffic evaporation“ heißt das im Fachjargon – Verkehr verpufft. Demnach verschwinden vier bis 52 Prozent des Autoverkehrs – je nachdem, ob das Zentrum großflächig umgestaltet wird oder nur einzelne Straßen.

Geschäftsleute rechnen oft mit Umsatzeinbußen, wenn ihre Kund*innen nicht mehr vor ihrem Geschäft parken können. Dabei zeigen Studien: Autofahrende sind in den Stadtzentren die schlechteren Kund*innen. Wer zu Fuß, per Rad oder ÖPNV unterwegs ist, gibt übers Jahr gesehen mehr aus. In New York sorgte der Ausbau von Radwegen auf der 9th Avenue für ein Umsatzplus im örtlichen Handel von 49 Prozent.

Es braucht Bilder

Aber gute Studienergebnisse allein reichen nicht, um die Menschen für den Wandel zu begeistern. „Der Straßenraum sollte im Rahmen von Verkehrsversuchen auch attraktiver gestaltet werden“, sagt Uta Bauer. Barcelona bestückt die Superblocks mit hochwertigen Stadtmöbeln zum Sitzen und Spielen, attraktiven Hochbeeten, Blumen und Bäumen.  Muster auf dem Asphalt verführen zum Spielen und regen die Fantasie an. „Die Gestaltung hat einen hohen Wiedererkennungswert und Bewohner und Passanten erkennen den Mehrwert sofort“, sagt Bauer.

Die Verkehrsexpertin weiß: Bilder sind wichtig. „Die Menschen brauchen eine Vision, eine klare Vorstellung davon, wie ihre Straße oder ihr Quartier nach dem Umbau aussehen kann“, sagt sie.

Und es braucht eine selbstbewusste Politik, die sich vor ihre Verwaltung stellt und ihren Mitarbeitenden Rückenwind gibt. So wie in Hamburg. Dort bekommt die Kommunalverwaltung Rückendeckung von der Bezirksregierung und der Landespolitik. Obwohl der erste Verkehrsversuch in Ottensen abgebrochen werden musste, konnte die Verwaltung den Umbau der Straßen dort weiter vorantreiben.

Für einen bundesweiten Schub braucht es jedoch die Reform der StVO und des StVG. Das Gesetzgebungsverfahren zur grundlegenden Änderung des Straßenverkehrsgesetzes ist immerhin in Arbeit. Es befindet sich auf der Zielgeraden und bedeutet laut der UBA-Juristin Miriam Dross einen echten Paradigmenwechsel. „Zukünftig werden endlich Klima- und Umweltschutz eine Rolle spielen“, sagt sie.

Ein Selbstläufer wird die Verkehrswende aber auch dann nicht werden. Denn die derzeit geltende Rechtslage zu Verkehrsversuchen wird im Gesetz weitgehend unverändert bleiben. Mit einer Ausnahme: Es können Sonderfahrspuren für Busse und Taxen eingerichtet werden. Dross sagt: „Eine echte Innovationsklausel könnte weitere Spielräume für die Kommunen schaffen, um Neues auszuprobieren.“

Andrea Reidl

Menschen spazieren durch eine verkehrsberuhigte Straße, einige sitzen im Gras.
LHM, Michael NagyObwohl die Lebensqualität sichtlich profitiert hat, musste der Verkehrsversuch früher als geplant beendet werden.

Reallabore-Gesetz

Reallabore sind ein wichtiges Instrument, um Innovationen voranzutreiben. Mit ihrer Hilfe können neue Produkte und Konzepte praxisnah entwickelt, erprobt und erforscht werden. Um den rechtlichen Rahmen für solche Experimentierräume zu erweitern, hat das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) das Reallabore-Gesetz auf den Weg gebracht.

Der Konzeptentwurf für das Gesetz hat drei Schwerpunkte:

  1. übergreifende Standards für Reallabore und Experimentierklauseln zu definieren und gesetzlich zu verankern,
  2. neue Reallabore in konkreten digitalen Innovationsbereichen zu ermöglichen und
  3. zu überprüfen, inwieweit die bereits bestehende Experimentierklausel überarbeitet und verbessert werden kann.


Das Netzwerk „Reallabore der Nachhaltigkeit“, ein Zusammenschluss von mehr als 50 Organisationen der deutschsprachigen Reallabor-Community, begrüßt die Erarbeitung eines solchen bundesweiten Reallabore-Gesetzes, fordert aber wesentliche Ergänzungen gegenüber des Mitte 2023 vorgelegten Konzeptentwurfs des BMWK. Unter anderem seien die konsequente Orientierung von Reallaboren an Nachhaltigkeitszielen sowie die Partizipation der Zivilgesellschaft nötig.

Wird es mit einem Reallabore-Gesetz also einfacher, Verkehrsversuche durchzuführen? „Das Reallabore-Verständnis des Ministeriums war früher sehr auf Produktentwicklung ausgelegt. Inzwischen rücken auch soziale Innovationen, Gesellschaft und Nachhaltigkeit in den Blick“, sagt Dr. Oliver Parodi, Sprecher des Netzwerks. Er habe daher die Hoffnung, dass Verkehrsversuche künftig nicht mehr durch die Straßenverkehrsordnung ausgebremst würden. Parodi betont aber auch, dass seiner Meinung nach existierende Spielräume bisher zu selten genutzt würden – sei es aus Unwissen oder aus einer diffusen Angst heraus.

Vor diesem Hintergrund klingt die Antwort aus dem Ministerium, ob ein Reallabore-Gesetz die Schwächen der bestehenden Experimentierklausel beheben wird, weniger verheißungsvoll: „Inwiefern hier Handlungsbedarf besteht, wird die Auswertung der Konsultation zeigen“, sagt Daniel Greve, Pressesprecher des BMWK.

Auch bezüglich des weiteren Zeiplans gibt er sich zurückhaltend: Aufgrund der hohen Beteiligung an der Online-Konsultation (> 400 Beiträge) und der Komplexität des Themas sei derzeit noch nicht absehbar, wann mit einem Gesetzentwurf zu rechnen sei. Jedoch: „Es ist weiter das Ziel, das Gesetz noch in dieser Legislatur zu verabschieden“, sagt er.

fairkehr 5/2023