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Ein Pfad führt über eine grüne Alm
Ein Junge gießt Pflanzen, die in einer Holzkiste wachsen
Eine Seilbahngondel schwebt über eine dicht bebaute Stadt

Titel 2/2015

Rote Teppiche gegen Fahrräder

Europäische Städte suchen nach Lösungen für den stark zunehmenden Fahrradverkehr.

Foto: Ralf HutterVor vielen Läden im Zentrum Groningens sollen rote Teppiche die Gehwege und ­Eingänge davor schützen, mit Fahrrädern zugestellt zu werden.

In Berlin werden jeden Tag über 1,5 Millionen Wege mit dem Fahrrad zurückgelegt. Im Durchschnitt sind etwa eine halbe Million Radfahrende in der Stadt unterwegs.“ So beginnt eine Pressemitteilung des Berliner Senats von Mitte Februar. Anlass war eine bundesweite Umfrage des Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Clubs (ADFC) zur Fahrradfreundlichkeit deutscher Städte. Berlin schnitt dabei schlecht ab. ADFC-Bundesgeschäftsführer Burkhard Stock sprach bei der Präsentation der Ergebnisse von einer aggressiven Stimmung auf den Fahrradwegen der Hauptstadt – sie würden immer voller.

Berlin gehört zu den europäischen Großstädten, in denen der Fahrradverkehr stark angewachsen ist. Paris wartet mit einer ähnlichen Entwicklung auf, wenn auch auf niedrigerem Niveau. Dort hat ein über die Stadt verteiltes System von Leihfahrrädern den Fahrradboom ausgelöst. Solche Systeme arbeiten erfolgreich in vielen europäischen Städten. Sie werden weiter ausgebaut und international kopiert.

Eine der größten Radfahrstädte überhaupt ist wohl Kopenhagen. Hier finden 35 Prozent aller Verkehrsbewegungen mit dem Fahrrad statt, ein doppelt so hoher Anteil wie in Berlin. Auch in Kopen­hagen hat die Infrastruktur nicht mit der Entwicklung des Fahrradverkehrs Schritt gehalten. „Es gibt Situationen, vor allem im Berufsverkehr, in denen viel zu viele Radfahrer auf den Radwegen unterwegs sind“, sagte Per Høeg, Professor für Raumforschung an der örtlichen Technischen Universität, unlängst der Deutschen Presseagentur. „Dann passiert es, dass die Leute ineinanderfahren, auf die Autospur geraten, aggressiver werden.“ Um das zu verhindern, schlage er vor, bei Platzmangel spontan eine Autospur mit Laserlicht zu einem Radweg umzufunktionieren. Es geht aber nicht nur um Gefahrenabwehr. Immer wieder kommt es zu Fahrradstaus und die Grünphasen reichen nicht aus, damit alle wartenden Fahrradfahrerinnen und Fahrradfahrer in einem Schwung über eine Kreuzung kommen.

Infrastruktur muss mitwachsen

„Auch in vielen deutschen Städten kommt die Fahrradinfrastruktur an ihre Grenzen. Radler weichen zum Teil auf die Gehwege aus oder müssen sich beim Überholen langsamerer Radfahrer in den fließenden Autoverkehr einordnen. So kommt es nicht nur zu Konflikten mit den Fußgängern, sondern auch zu einem erhöhten Unfallrisiko“ , sagt Anja Hänel, Projektleiterin beim VCD. „Wenn wir mehr Radverkehr wollen, müssen wir auch dafür sorgen, dass die Radinfrastruktur mitwächst.“

Während es in Berlin und Kopenhagen um eine Erweiterung der Straßenkapazitäten geht, hat Groningen vor allem ein Parkplatzproblem. Überall abgestellte Drahtesel verstopfen die niederländische Stadt. Vor rund 35 Jahren sperrten die örtlichen Stadtplaner den Autoverkehr aus einem Teil des Zentrums aus. Heute prägen dort Fahrräder das Bild – und zwar nicht nur die auf den Straßen: Die Groninger stellen ihre Räder auf sämtlichen freien Flächen ab, inklusive der Gehsteige. Es herrscht großer Parkplatzmangel.

Vor vielen Läden im Zentrum haben die Geschäftsinhaber rote Teppiche ausgelegt. Sie sollen die Gehwege und Eingänge davor schützen, mit Fahrrädern zugestellt zu werden. So ein ausgerollter Teppich hält entweder eine Schneise zur Ladentür frei oder einen Durchgang entlang der Schaufenster. Fast jeder teppichfreie Quadratmeter läuft Gefahr, zum Fahrradabstellplatz zu werden. Besonders nervig ist das zum Beispiel für Menschen mit Kinderwagen, die sich zwischen den kreuz und quer stehenden Rädern durchmanövrieren müssen. An manchen Stellen Groningens hat die Stadt Parkbuchten für Fahrräder ausgewiesen, wie sonst für Autos. Das ist schon mal ein erster Schritt.

Ungefähr 300000 Fahrräder gibt es nach Schätzungen der Stadtverwaltung in Groningen. Dabei leben nur knapp 200000 Menschen in der ehemaligen Hansestadt. Über ein Viertel der Bevölkerung sind Studierende – und die sind eben überdurchschnittlich viel mit dem Fahrrad unterwegs. In den Niederlanden, wo ohnehin schon sehr viel Fahrrad gefahren wird, kann das zu einem richtigen Problem werden – vor allem, wenn die Leute gewohnt sind, ihr Fahrrad wo auch immer abzustellen. 2013 nannte es der damalige Verkehrsstadtrat von Groningen, Joost van Keulen, „ein kulturelles Ding“: „Es gehört zu unserer Stadt, vielleicht sogar zu unserem Land. Auch in Amsterdam parken die Leute die Fahrräder überall auf den Gehwegen und bereiten den Fußgängern Probleme. Wir haben Fahrradparkplätze im Zentrum, aber die Leute neigen dazu, das Fahrrad zu jedem Laden mitzunehmen und vor ihm abzustellen.“

Über die Hälfte aller Verkehrsbewegungen in Groningen geschieht per Fahrrad – im mittelalterlichen Zentrum sogar über 70 Prozent. Der aktuelle Verkehrsstadtrat Paul de Rook will den Fahrrädern deshalb an vielen Stellen mehr Raum geben. Das Parkplatzproblem im Zentrum soll auf „innovative“ Weise gelöst werden, teilt er mit. Die Bevölkerung ist aufgerufen, dazu per Internet Vorschläge zu machen.

Mit dem Fahrrad zum Bahnhof

Besonders geballt stehen die Fahrräder am Bahnhof. Nach Umbauarbeiten gibt es dort nun 10000 Stellplätze. An Wochen­enden ist das aber immer noch nicht genug, und ein weiteres Wachstum wird erwartet, weshalb die Stadt weitere Kapazitäten plant. Bis 2030 soll es 17500 Plätze geben. Erst im Februar wurde der Bau eines Fahrradtunnels beschlossen, der den Bahnhof unterquert. Die Bahn bietet eine überwachte Parkzone an, wo ein Tag 1,30 Euro kostet, eine Monatskarte 14 Euro und eine Jahreskarte 105 Euro. Außerhalb abgestellte Fahrräder bekommen alle paar Tage Banderolen mit wech­selnden Farben um die Hinterreifen gebunden. Auf diese Weise wird kontrolliert, wie lange sie da stehen. Ab dem drei­zehnten Tag darf die Stadt abschleppen. Nachdem die Autos aus dem Zentrum vertrieben worden sind, nehmen nun also die Fahrräder ihren Platz ein. Die zunehmende Verbreitung elektrischer Fahrräder erhöht das Aufkommen zusätzlich, ist im Rathaus zu hören. Neben dem Parkplatzproblem gab es in Groningen auch schon mit dem Verkehr an sich Probleme. 2012 bildeten sich Fahrradstaus auf dem Weg zu einem Universitätsgelände, das in einem Außenbezirk liegt. Die Stadt führte daraufhin eine Kampagne durch, um den Studierenden zu vermitteln, dass es auch ­andere Wege zu diesem Universitätszentrum gibt.

Groningens und Kopenhagens Fahrradstress ist freilich ein Luxusproblem, das vermutlich viele europäische Großstädte lieber hätten als ihre aktuellen Verkehrs- und Abgasprobleme. Den erwähnten Zahlen des Europabüros der Weltgesundheitsorganisation und der UNO-Wirtschaftskommission für Europa zufolge liegt der Verkehrsanteil der Fahrräder in vielen Großstädten zwischen Lissabon und Kiew nur bei einem Prozent. Schlusslicht ist dort trotz seines katastrophalen Straßen- und des kleinen U-Bahnnetzes Rom mit null Prozent.

Ralf Hutter

fairkehr 5/2023