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Ein Pfad führt über eine grüne Alm
Ein Junge gießt Pflanzen, die in einer Holzkiste wachsen
Eine Seilbahngondel schwebt über eine dicht bebaute Stadt

Politik 6/2015

Alle wissen seit Jahren Bescheid

Bekannt ist: Volkswagen hat Abgasmessungen manipuliert. Doch wie groß ist das Ausmaß des Betrugs und warum handelt die Politik nicht? Interview mit dem Umweltexperten Axel Friedrich.

Fotos: EdStock/istockphoto.comStolz posiert Martin Winterkorn mit einem Blue-Motion-Modell von Volkswagen.

fairkehr: Hat Sie der VW-Skandal überrascht?

Axel Friedrich: Mich überrascht, dass alle überrascht sind. Das Thema ist seit 15 Jahren öffentlich bekannt, Betrug und Maßnahmen zum Umgehen der Vorschriften existieren seit mehr als 25 Jahren. Früher gab es dafür einfache Schalter, die heutige Elektronik ermöglicht natürlich viel mehr. Vor kurzem haben sie bei „Plusminus“ Interviewausschnitte mit mir aus dem Jahr 2004 gezeigt, wo ich das alles schon beschrieben habe. Aber die Politik hat nicht reagiert. Auch in den USA ist das alles schon lange bekannt, aber es gab keinen öffentlichen Aufschrei. BMW hat Strafen bezahlt, Daimler, Honda, Hunday, Kia. Neu ist, dass das Thema jetzt über den Atlantik rübergeschwappt ist. Vielleicht, weil VW alles runterspielen wollte und Journalisten es immer interessant finden, wenn was verdeckt werden soll.

Mangelt es in Deutschland an staatlichen Kontrollen?

Es gibt keine. Das ist eigentlich völlig verrückt und gilt auch nicht nur für Autos: Es gibt Vorschriften, aber keiner kontrolliert sie. Das Kraftfahrt-Bundesamt (KBA) lässt Fahrzeuge zu, hat aber nicht genug Personal und Prüfstände – und auch kein Geld, um unabhängige Prüfaufträge zu vergeben. Außerdem steht es mit anderen Zulassungsbehörden in der EU in Konkurrenz. Wenn das KBA einen Hersteller unfreundlich behandelt, geht der eben nach Spanien oder Luxemburg – und das Geld fehlt dann im Etat vom KBA. Die Strukturen sind völlig kaputt. Wir brauchen eine Trennung von Zulassung und Kontrolle.

Denken Sie, dass die Beamten im Kraftfahrt-Bundesamt nichts gewusst haben?

Jeder, der was mit solchen Fragen zu tun hat, hat es gewusst. Jeder. Wer etwas anderes behauptet, lügt entweder oder leidet an Demenz. Im Jahr 2007 wurde eine EU-Richtlinie verabschiedet, in der klar steht, dass Maßnahmen verboten sind, die die Abgasreinigung außer Kraft setzen oder in ihrer Wirksamkeit vermindern. Bis 2009 sollte jedes EU-Land ein Strafsystem gegen entsprechende Verstöße aufbauen. Aber kein Staat hat das gemacht – und die EU-Kom-
mission hat keinen Staat verfolgt. Die Strukturen von Politik und Autoindustrie sind ein Geflecht. Es gibt keine Transparenz, und Daten über die Emissionen von Fahrzeugen müssen mühsam mit Hilfe des Umweltinformationsgesetzes rausgeklagt werden. Nicht einmal die Information, was wo zertifiziert wurde, ist öffentlich. Aber alle unabhängigen Stickoxidmessungen, die zum Beispiel von der EU oder dem ADAC zusammen mit dem baden-württembergischen Umweltministerium gemacht wurden, zeigen, dass die Werte im Mittel um den Faktor sieben über dem liegen, wo sie liegen sollten.

In der Öffentlichkeit ist immer die Rede vom Schaden der Autofahrer, aber den eigentlichen Schaden haben doch Allgemeinheit und Umwelt. Müsste das Kraftfahrt-Bundesamt die Fahrzeuge sofort stilllegen?

Oder zumindest dafür sorgen, dass der Grenzwert schnellstens eingehalten wird. Das Berechnungstool des Umweltbundesamtes zeigt klar auf, dass die Emissionen von Euro-5-Diesel-Fahrzeugen im Mittel bei 530 Milligramm Stickoxiden liegen – der Grenzwert ist 80. Deshalb haben alle großen Städte Probleme mit der Einhaltung der Luftgrenzwerte. Das liegt an Pkw mit Dieselmotoren, aber auch an Bussen. Im Oktober haben die Minister in Brüssel entschieden, die Grenzwerte auf der Straße um das 2,1-Fache anzuheben. Sie bezeichnen das harmlos als Konformitätsfaktor. Das ist ein Skandal. 430000 Menschen in der EU sterben vorzeitig aufgrund von Luftbelastungen, 60000 in Deutschland – aber niemand regt sich auf. Wo leben wir eigentlich? Wir haben eine Vorschrift, und die muss eingehalten werden. Es kann doch nicht sein, dass man solchen Betrug einfach legalisiert.

Foto: privatAxel Friedrich ist ehemaliger Abteilungsleiter im Umweltbundesamt und Mitglied im wissenschaftlichen Beirat des VCD. Heute widmet er seine Zeit der Aufklärung des Autoabgasskandals.

Wäre es möglich, die Autos so umzubauen, dass sie die Grenzwerte einhalten?

Im Prinzip ja. Die Software zu ändern ist relativ einfach. Wenn aber Teile ausgetauscht werden müssen, ist der Aufwand ungleich größer. Sie müssen entwickelt, bestellt, produziert, zertifiziert werden – und das alles wird zu höheren CO2-Emissionen und geringerer Leistung führen. Das kostet Zeit und Geld, ist logistisch schwierig und mit neuen Zulassungsverfahren verbunden.

Wenn es technisch machbar ist, warum hat VW dann keine saubere Technik verbaut?

Wenn ich bei 10 Millionen Autos je 50 Euro spare, dann habe ich 500 Millionen Euro mehr Gewinn. Das ist für die Hersteller ein wichtiges Argument, vor allem, wenn sie keiner kontrolliert.

Haben Sie Kenntnisse über andere Hersteller bezüglich der Abgase?

Die Luftbelastungen sind so hoch, dass klar ist, dass es sich um ein allgemeines Fahrzeugherstellerproblem handelt. Einer hat angefangen, dann kam der Nächste und so weiter – und das steigert jedes Mal den Marktdruck auf die Konkurrenten. Das Gleiche lässt sich bei CO2 und Benzinverbrauch beobachten. Früher hatten wir acht Prozent Differenz zwischen Labor- und Straßenwerten, heute sind es 40 Prozent – in der Spitze bis zu 70 Prozent.

Sie wollen selbst messen – wo und mit wem?

Es gibt Messungen von der Deutschen Umwelthilfe DUH, von der europäischen Organisation Transport & Environment, vom ADAC und anderen, um nachzuvollziehen, wie die Hersteller manipuliert haben. Außerdem plane ich Straßenmessungen, um herauszufinden, was wirklich los ist. Die DUH hat den ersten Fall bereits an den Verkehrsminister gemeldet – er muss das jetzt prüfen. Wir warten, was er herausbekommt.

Sie haben ja sehr deutlich gemacht, dass Sie staatlichen Stellen nicht vertrauen – wieso sollte jetzt was passieren?

Der Verkehrsminister hat erklärt, dass er alles offenlegen will. Um sicherzugehen, werden aber auch andere Messungen weiter durchgeführt. Bisher konnte die Abgase eines Autos nur messen, wer ein großes Labor hat, das 1,5 bis 2,5 Millionen Euro kostet. Seit kurzem aber gibt es neue Messsysteme, die nur noch 90000 Euro kosten und wohl auch noch billiger werden, so dass Universitäten, große Institute oder Verbände sie sich leisten können. Das ermöglicht die Demokratisierung der Messungen und wird eine neue Ära einleiten.

Interview: Annette Jensen

fairkehr 5/2023