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Ein Pfad führt über eine grüne Alm
Ein Junge gießt Pflanzen, die in einer Holzkiste wachsen
Eine Seilbahngondel schwebt über eine dicht bebaute Stadt

Titel 6/2012

Der unheilbare Mangel

Den Gegnern des Bahnprojekts Stuttgart 21 wird vorgeworfen, sie hätten ausreichend Gelegenheit zum Mitreden gehabt. Doch das ist eine Unterstellung.

Illustrationen: iStockphoto.com

Selbst Heiner Geißler sieht seinen Schlichtungsversuch nicht als Ersatz für eine versäumte Volksbeteiligung. Die hat nie stattgefunden, weder als Volksentscheid noch als Volksbefragung. Obwohl er in seiner vermittelnden Rolle die Worte hüten muss, prangert er an, dass „staatliche Entscheidungen bei solch gravierenden Projekten ohne Einbindung der Bürger dem vorherigen Jahrhundert angehören“. Trotzdem hält kein Befürworter des Projekts die Entscheidung für illegitim. Sie wurde von demokratischen Instanzen gefällt, sagen sie, die Projektgegner hatten über die Jahre ausgiebig Zeit, ihre Einwände geltend zu machen, also ist die Entscheidung zu Recht unwiderruflich.

Die Unterstellung, dem heutigen Konflikt sei ein hinreichender Zeitraum demokratisch offener Entscheidungsfindung vorausgegangen, ist historisch schlichtweg falsch: Vorgehalten wird den Projektgegnern, ihnen habe es seit 1994 freigestanden, sich zu informieren, ihre Stimme zu erheben, ihre Wahlen danach auszurichten und ihr demokratisches Gewicht gegen Stuttgart 21 in die Waagschale zu werfen. Alles sei transparent gewesen, die Möglichkeiten für Eingaben, Widersprüche, Alternativvorschläge in den vielen Jahren unbegrenzt.

Der 18. April 1994

Wie aber lief es wirklich? Für die Rekonstruktion des zeitlichen Ablaufs ist vor allem die „Rahmenvereinbarung“ vom November 1995 entscheidend. Mit ihr hat sich die Stadt wie alle übrigen Vertragsbeteiligten unwiderruflich an das Projekt gebunden. Folgerichtig wiesen Gemeindevertreter und Bürgermeister, aber auch Bund, Land und Bahn später immer wieder auf diesen Grundlagenvertrag hin, wenn es um das Fortschreiben des Projekts ging.

Wann also konnten die Bürger frühestens mitreden? Nachdem interne Plan­spiele diverser Ingenieurbüros vorausgegangen waren, erblickte Stuttgart 21 am 18. April 1994 das politische Tageslicht. An diesem Tag gaben der Bahnchef, der Oberbürgermeister, der Ministerpräsident, der Bundes- und der Landesverkehrsminister eine „kurzfristig anberaumte Pressekonferenz“ in Stuttgart.
Wie es ein Reporter damals beschrieb, war den Herrschaften „eine diebische Freude über ihren geglückten Überraschungscoup anzumerken“. Denn „unbemerkt von der Öffentlichkeit hatten sie ihre konzertierte Aktion seit längerem vorbereitet“. Nun aber lüfteten sie den Vorhang und gaben ihren Plan bekannt, „Stuttgart für Fernzüge zu untertunneln und einen achtgleisigen unterirdischen Durchgangsbahnhof zu errichten“.

Damit war die „packende Idee“ wie aus dem Zauberhut auf dem Tisch. Dass dies selbst nach damaligen Maßstäben euphorisch-vorschnell geschah, zeigt ein Vergleich: Die beiden Parallelprojekte, „München 21“ und „Frankfurt 21“, wurden erst zwei Jahre später, im Juni 1996, der Öffentlichkeit vorgestellt. Dort trafen sie in den beiden Kommunen auf einen völlig anderen politischen Beratungskontext – und wurden beide später verworfen. Allein dieser Vergleich wäre eine historische Vertiefung wert.

Die erste und, wie sich nachher herausstellte, einzige Gelegenheit für die Bürger Stuttgarts, wenn schon nicht durch direkte Beteiligung, dann wenigstens in einer Kommunalwahl auf das Projekt Einfluss zu nehmen, bevor der Hammer ein für allemal gefallen ist, bot die Wahl des Gemeinderats am 12. Juni 1994. Das war freilich nur acht Wochen nach der Pressekonferenz.

Nach allen damaligen Medienberichten spielte der „große Wurf Stuttgart 21“ (Erwin Teufel) noch keinerlei auffällige Rolle im Wahlkampf. Offensichtlich erschien er als kühne, aber unausgegorene Zukunftsvision noch viel zu weit entfernt zu sein von den konkreten politischen Sorgen, die die Wähler im Sommer 1994 drückten. Wahlbeeinflussende Kontroversen löste sie noch nicht aus, planerische Alternativen zirkulierten nicht. Die Idee war bei den Bürgern politisch noch nicht als entscheidungsrelevanter Ernstfall angekommen.

Die DB agierte erpresserisch

Die erste Machbarkeitsstudie wurde erst sieben Monate später veröffentlicht, am 16. Januar 1995. Noch krasser war es auf der Ebene des Landes, das ja durch Stuttgart 21 wegen der enormen finanziellen Beteiligung, aber natürlich auch wegen der überregionalen verkehrspolitischen Implikationen stark mitbetroffen ist. Hier aber besaßen die Wähler überhaupt keine Möglichkeit, zumindest mittels des Wahlzettels rechtzeitig mitzuwirken. Die letzte Landtagswahl lag bereits zwei Jahre zurück (1992), die nächste, 1996, kam dafür zu spät. Die Würfel waren, wie gesagt, im November 1995 gefallen.

Von Anfang an, also seit dem 18. April 1994, weigerte sich die Bahn mit hartnäckiger Konsequenz, alternative Pläne für die Einbindung Stuttgarts in eine schnelle Fernverkehrsmagistrale Paris–Budapest oder eben nur für die Modernisierung des Stuttgarter Knotenpunkts zu entwickeln. Entweder wir untertunneln die Stadt und beseitigen den Kopfbahnhof, oder alles bleibt beim Alten. So rigoros, anders gesagt, so erpresserisch setzte die Bahn die Gemeinde unter Druck.

Und diese ließ sich bereitwillig darauf ein: Die Stadt unterschrieb im November 1995 den Rahmenvertrag, ohne je auch nur, was doch in ihrem ureigensten Interesse gelegen hätte, selbst daran zu gehen, konzeptionelle Alternativen zu entwickeln, zu prüfen, durchzuspielen und durchzurechnen.

Topographische und geistige Kessellage

In dem kurzen Zeitraum zwischen Sommer 1994 und Spätherbst 1995 wäre dies auch gar nicht seriös zu machen gewesen. „Ohne eigenes Konzept, aber auch ohne denkbare Alternativen geprüft zu haben, hatten sich Stuttgarts Stadtväter vertraglich verpflichtet, das Projekt mitzutragen“, schrieb etwas später, am 21. August 1996, die Süddeutsche Zeitung. „Die Unfähigkeit (oder Unwilligkeit?) der Stadt, den Bauplanungen eigene Vorstellungen entgegenzusetzen, ist frappierend.“ Roland Ostertag, Ex-Präsident der Bundesarchitektenkammer, machte die „geo- und topographische, aber auch die geistige Kessellage der Stadt“ dafür verantwortlich.

Das waren böse Worte, aus denen die Enttäuschung über die unbegreifliche planerische Eindimensionalität der Stadtväter sprach. Ohnehin aber musste jedem, der sich informierte, klar sein, dass sich seit dem Rahmenvertrag alle Überlegungen über das Ob des Projekts ebenso wie über Alternativen erübrigten. Wenn das Bild hier erlaubt ist, der Zug war 1995 abgefahren. Die Volksvertreter hatten abgesegnet, was sie selbst nie gegen Alternativen abgewogen und was sie dem von ihnen vertretenen Volk nie zur Prüfung vorgelegt hatten. Das war vor 15 Jahren.

Unentwegt rühmt die für ihr Projekt werbende Stadt heute die Tatsache, dass die Bürger in den rechtlichen Planfeststellungsverfahren mehr als 10.000 Eingaben und Einwände einbringen konnten. Unterschlagen wird dabei, dass solche Eingaben nur dann Aussicht auf Erfolg haben, wenn sie lediglich Korrekturen und Detailbeschwerden formulieren. Jene aber, die das ganze Projekt ablehnen und durch Alternativen ersetzen wollen, bleiben unberücksichtigt.

Dass eine Demokratie zumindest ihre folgenreichen Entscheidungen deliberativ prüfen, an Alternativen messen und mit offenem Ausgang öffentlichen Debatten aussetzen muss, gehört seit langem, sollte man meinen, zum Allgemeingut ihres Sinns für kollektive Verantwortlichkeit. Das Verfahren, das Stuttgart 21 hervorbrachte, parodierte diese Erkenntnis.

Nicht richtige Entscheidungen, sondern richtige Verfahren befrieden.

Andreas Zielcke

Der Text ist ein Auszug aus einem Artikel in der Süddeutschen Zeitung.

fairkehr 5/2023