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Ein Pfad führt über eine grüne Alm
Ein Junge gießt Pflanzen, die in einer Holzkiste wachsen
Eine Seilbahngondel schwebt über eine dicht bebaute Stadt

Titel 2/2015

Pflegedienst auf Fahrrädern

Der ambulante Pflegedienst aus Heidelberg „Frauen pflegen Frauen“ funktioniert seit 20 Jahren ohne Auto.

Foto: Asta WünscheDas Team von „Frauen pflegen Frauen“: Ein wichtiges Einstellungskriterium ist die Lust am Fahrradfahren.

Radfahren macht die Welt nicht nur jeden Tag ein bisschen besser. Es ist auch betriebswirtschaftlich sinnvoll. Wer Zweifel daran hat, sollte nach Heidelberg fahren und dort die Mitarbeiterinnen des ambulanten Pflegedienstes „Frauen pflegen Frauen“ besuchen. Am besten an einem richtig knackig kalten Wintertag, wenn nach Schichtende eine Kollegin nach der anderen dick eingepackt mit roten Wangen von ihrer Tour zurückkommt. Dann werden kalte Hände an heißen Teetassen aufgewärmt, es wird gelacht, erzählt und zugehört.

Zur Firmenphilosophie von „Frauen pflegen Frauen“ gehört es, alle Dienst­­­wege mit dem Fahrrad zurückzulegen – 365 Tage im Jahr, bei jedem Wetter. Claudia Köber, Teamleiterin und eine der dienstältesten Mitarbeiterinnen, kennt alle Einwände gegen ihr Mobilitätskonzept: zu anstrengend, zu langsam, zu wenig Transportkapazität. „20 Jahre machen wir das nun schon so“, sagt sie nüchtern. „Bisher haben wir für jede Herausforderung eine Lösung gefunden.“ Wer das nicht so einfach glauben möchte, muss mit Köbers Kolleginnen sprechen.

Nicht müde, sondern glücklich

Die Frühschicht beginnt morgens um 6.30 Uhr. Da hat Ute Schmidt schon eine Dreiviertelstunde auf dem Rad verbracht. Die 39-Jährige, die erst seit einem Jahr im Team ist, radelt jeden Tag 13 Kilometer aus der Nachbargemeinde Nußloch zur Arbeit. Es klingt absurd, aber seit Schmidt jeden Tag beruflich zwischen 15 und 25 Kilometer im Sattel sitzt, fährt sie auch privat deutlich mehr Rad. „Als Autofahrerin stellt man sich die Wege viel länger vor, als sie tatsächlich sind. Wenn man viel Rad fährt, merkt man erst, wie schnell und flexibel man damit ist“, sagt Schmidt. Eine wichtige Motivation, sich bei „Frauen pflegen Frauen“ zu bewerben, war für sie der Hinweis aufs Radfahren in der Stellenanzeige. Das Autofahren von Einsatz zu Einsatz hatte sie bei ihren früheren Jobs viele Nerven gekos­tet.

Ihre Kollegin Asta Wünsche ist seit vier Jahren im Team. Neben der Chance, in einem reinen Frauenteam zu arbeiten, hatte es auch sie besonders gereizt, das ganze Jahr über mit dem Rad unterwegs sein zu können. Wünsche engagiert sich in Vereinen wie der Bürgerinitiative Ökologische Mobilität für eine bessere Fahrradmobilität in Heidelberg. Es ist ihr wichtig, ihre politische Überzeugung auch im Arbeitsalltag leben zu können. Vor allem sieht sie jedoch den persönlichen Nutzen des Radfahrens: „Radfahren trägt in unserem Beruf zum psychischen Ausgleich bei“, sagt die 45-Jährige. „Die Menschen, die wir pflegen, stecken oft in Lebenskrisen und geben diesen Stress auch mal an uns weiter. Dann ist es eine echte Erholung, aufs Rad zu steigen und den Kopf wieder frei zu bekommen, bevor man für den nächsten Klienten da ist.“

Nicht langsam, sondern ­wirtschaftlich

Claudia Köber fängt richtig an zu strahlen, wenn sie über die kleinen Glücksmomente auf ihren Touren spricht: „Wenn morgens über dem Neckartal die Sonne aufgeht zum Beispiel. Da bleibe ich schon manchmal stehen und genieße das.“ Morgens durch die menschenleere Altstadt zu radeln, bevor Einheimische und Touristen die Gassen fluten, das ist auch so ein Glücksmoment. Oder wenn nach einer Reihe von Regentagen der Himmel wieder blau ist.

Statt Dienstwagen, wie sie bei den meisten anderen Pflegediensten zum Einsatz kommen, haben die Heidelberger Frauen einen Dienstrad-Pool. Aus ökologischen Gründen verwenden sie nur Fahrräder oder den öffentlichen Personennahverkehr. Wer möchte, kann auf dem eigenen Rad unterwegs sein. Wer lieber ein Dienstrad haben möchte, das am Firmensitz eingestellt und gewartet wird, darf bei der Auswahl mitentscheiden. „Da gehen wir natürlich auf die persönlichen Wünsche ein“, sagt Claudia Köber. Daher ist jedes Dienstrad anders und unterschiedlich ausgestattet.

„Ein Pflegedienst in unserer Größe müsste mindestens drei Dienstwagen im Einsatz haben“, erklärt Wünsche. Zu den Anschaffungskosten kämen die Kosten für Wartung, Benzin und Parkgebühren. „Das ist alles Geld, das wir nicht erwirtschaften müssen“, sagt Köber. „Das verschafft uns betriebswirtschaftlichen Spielraum und Freiheiten, die vergleichbare Betriebe nicht haben. Ein weiterer Vorteil der radelnden Pflegekräfte: Sie sparen sich die zeitraubende Parkplatzsuche in den engen Wohngebieten, in denen es nur selten freie Plätze für Kurzparker gibt. Ein Zeitpuffer, der den Patientinnen und Patienten zugute kommt. „Unser Einsatzgebiet umfasst das Stadtgebiet von Heidelberg mit Ausnahme der Bergstadtteile Ziegelhausen/Schlierbach und Emmertsgrund/ Boxberg“, schreiben die Pflegerinnen auf ihrer Internetseite.

„Statt uns abzuhetzen und ständig die Uhr im Blick zu haben, wie das bei vielen anderen Kolleginnen und Kollegen ist, haben wir mehr Zeit für die Menschen, die wir pflegen“, erklärt Asta Wünsche. „Wenn wir neue Klienten ha­ben, erklären sie oft ausführlich, wo wir parken können, weil das aus ihrer Erfahrung die größte Schwierigkeit für Besucher ist“, sagt Wünsche. „Wenn wir sa­gen, dass wir mit dem Rad kommen, sind sie erleichtert.“

Nicht weniger, sondern mehr Mobilität

Auch das Argument mit den mangelnden Transportkapazitäten der radelnden Pflegekräfte zieht nicht. „Ich fahre ja sowieso jeden Tag zu den Klienten“, sagt Ute Schmidt. „Da kann ich alles, was ich dort brauche, in kleinen Mengen in der Fahrradtasche mitnehmen.“ Für Ausnahmefälle oder die eigenen Einkäufe hat die Firma aber auch einen Fahrradanhänger. Mehr als der fassen konnte, gab es in den vergangenen 20 Jahren auch nicht zu transportieren.

Der ambulante Pflegedienst mit seinen zehn glücklichen Mitarbeiterinnen könnte ein Vorbild für die Branche sein. Aber in 20 Jahren hat noch keine andere Firma angerufen, um mal nachzufragen, wie das denn so ist mit dem Fahrradfahren und mit der Effizienz oder mit dem Krankenstand der Mitarbeiterinnen. „Wir hatten mal zwei komplette Jahre ohne einen einzigen Fehltag“, sagt Claudia Köber und schmunzelt. „Da waren wir aber auch alle noch ein bisschen jünger.“

Regine Gwinner

fairkehr 5/2023