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Ein Pfad führt über eine grüne Alm
Ein Junge gießt Pflanzen, die in einer Holzkiste wachsen
Eine Seilbahngondel schwebt über eine dicht bebaute Stadt

Kultur 3/2012

Der Kampf der Radler

Die Berliner Schriftstellerin und Kulturjournalistin Bettina Hartz erklärt in ihrem neuen Buch, warum wir zu Anarchisten werden, wenn wir auf dem Fahrrad sitzen. Ein Auszug.

Foto: Anika BuessemeierBettina Hartz, 41, schwingt sich Tag für Tag auf ihr lautlos dahingleitendes Gefährt. Zweimal wurde sie dabei von Autofahrern, die ihr die Vorfahrt nahmen, schwer verletzt. Die Journalistin plädiert für mehr Toleranz und Achtsamkeit – auch gegenüber Fußgängern.

Die Rede vom Radfahrer als dem nach oben Buckelnden, nach un­ten Tretenden ist nichts als böse Verleumdung. Denn unerbittlich zeigt er sich nur gegen seine motorisierten Feinde, die ihn an den Straßenrand drängen, mit Pfützenwasser bespritzen, ihm die Vorfahrt rauben und hupen, wenn er im Winter von Radwegen, die, da sämtliche Laternen zur Fahrbahn hin ausgerichtet wurden, stockfinster sind und auf denen sich der von den Kehrmaschinen zusammengeschobene Schnee türmt, auf die Straße wechselt. Umbrandet vom Verkehr weiß der Radfahrer, dass er zwar dessen wendigster Teil ist, aber auch sein schwächster, ständig kollisionsbedroht. Das erfordert Aufmerksamkeit, Nervenstärke, Gelenkigkeit und die Fähigkeit, auch mal den einen oder anderen bösen Blick zuwerfen zu können, sich von Autohupen nicht stören zu lassen und auf seinen Rechten durch stures Nichtausweichen zu bestehen.

So bedrängt, gibt man sich, ich gebe es zu, nicht selten einer kindlichen Allmachtsphantasie hin, nämlich der vom Besitz eines mit einem unsichtbaren Panzer versehenen Rades – an dem sich die Autofahrer, wenn sie den Sicherheitsabstand beim Überholen nicht einhalten oder rechts abbiegen und dabei den Radfahrer ignorieren oder den Radweg, aus einer Nebenstraße kommend, halb oder gar ganz bedecken und keinerlei Anstalten machen, auch nur einen Zentimeter zurückzufahren, wenn man sich ihnen nähert, Beulen holen.

In Jacques Tatis Film „Schützenfest“ gibt es eine Szene, in der die unauflösbare Feindschaft zwischen Auto und Fahrrad, das zwischen ihnen herrschende Prinzip der Verdrängung, das dem aus geliehener Stärke Mobilen so sehr gefällt und von Anfang an eine friedliche Koexistenz unmöglich machte, wunderbar deutlich wird: Das Auto kommt laut hupend und viel zu schnell daher, erwartet, dass alle Welt ihm Platz macht, jagt das Leben von der Straße – die Leute springen zur Seite, spielende Kinder werden besorgt in Sicherheit gebracht. Nur François, der Briefträger, schiebt seelenruhig sein Rad über die Straße, bleibt herausfordernd vor dem Auto stehen, und Auge in Auge mustern sich die ewigen Feinde.

Die Feindschaft zwischen Auto- und Radfahrer scheint leider unbeendbar. Und rührt wohl von Seiten des Autofahrers vor allem daher, dass der sicher und warm in seinem Panzer sitzende Motorisierte dem Radfahrer etwas neidet, was ihm selbst, trotz seiner Überlegenheit an Masse, Kraft und Volumen, abgeht: die ungeheure Wendigkeit, die der Radfahrer besitzt, und das Ausleben-Können seines anarchischen Geistes.

Denn es geht eine seltsame Verwandlung mit uns vor, sobald wir auf dem Sattel eines Fahrrads sitzen und in die Pedale treten. Sehr treffend hat Christian Ude, Oberbürgermeister der Stadt München und passionierter Radfahrer, in seinem Buch „Stadtradeln“ dazu bemerkt: „Radler sind nicht anders als wir (…). Nein, wir sind anders, wenn wir radeln.“

Von einer Polizeistreife angehalten, fühlt sich ein Radfahrer auch dann noch im Recht, wenn er soeben vor ihren Augen bei Rot über die Kreuzung gefahren ist. Er hat geschaut, es war alles leer, er hat niemanden gefährdet. Und wenn man seine Bewegung nur als Figur sieht, so besitzt ein allein über eine große Kreuzung fahrender, nach links abbiegender Radfahrer auf seiner geschwungenen Bahn die schwankende Schönheit eines Tänzers auf dem Hochseil ­– kreisförmig umstellt von den auf Grün wartenden Truppen der Autofahrer, bewegt er sich, die flammenden Lichter, die seine flüchtige Position angeben, auf Brust und Rücken, durch den Kessel und aus ihm hinaus wie über eine große, leere, atemstille Bühne. Ihn umschweben Mut und Gefahr und eine fragile Schönheit, die auch immer etwas von Anmaßung hat, Arroganz, gewiss, denn die gewagte Übertretung gilt ja nur für den einen, die zwei, die kleine Schar. Aber für Sekunden deutet sich im Zentrum dieser Kreuzung eine andere Wirklichkeit an. Ihre leere Mitte hat Raum gewonnen für eine Erscheinung.

Keineswegs setzt sich der Radfahrer aus Hochmut oder Aggressivität über Regeln hinweg, sein Rebellentum erwächst vielmehr aus der beständig geschulten Fähigkeit, sich den Gegebenheiten anzupassen, weshalb er die Regeln und Vorschriften nicht nach dem Buchstaben auslegt, sondern nach der je vorgefundenen Situation.

Denn der Radfahrer ist tief durchdrungen von der Erfahrung, im Straßenverkehr im Zweifelsfall den Kürzeren zu ziehen. Er weiß, dass er auf die höhere Autorität des Rechts, der Vorschrift in Gestalt von Ampeln, Verkehrsschildern nicht blind vertrauen darf, wie oft hat er erlebt, dass ihm die Vorfahrt genommen wurde, ein Autofahrer über den Radweg hinweg rechts abbog, der ohnehin viel zu schmale Streifen, der für ihn am Rand der Straße reserviert ist, mit parkenden Wagen, Baustellenzäunen, Dixi-Klos, die ihm die Sicht nehmen, verstellt ist.

Wollte er sich auf seine Rechte verlassen, läge er wenigstens einmal in der Woche auf oder unter einem Auto. Und so ist er gezwungenermaßen geschult darin, mit offenen Sinnen unterwegs zu sein und die möglichen Fehler der anderen immer mitzudenken, was umgekehrt bedeutet, das Recht für sich in Anspruch zu nehmen, die Regeln und Vorschriften großzügig auszulegen und die sich bietenden Gelegenheiten zum Ausweichen und Durchschlüpfen zu nutzen.

Nach einer gewissen Zeit, die er im Dschungel des Großstadtverkehrs unterwegs ist, bildet der Radfahrer so seine eigenen, aus Erfahrung und Gewohnheit gewonnenen Regeln heraus – die oftmals geltendem Recht widersprechen, aber weit praxistauglicher sind. Warum soll man nachts um zwei an einer gähnend leeren Kreuzung stehen bleiben und warten, nur weil die Ampel Rot zeigt? Warum soll man wegen einer Entfernung von zwei, drei Querstraßen zwei Mal die Straßenseite wechseln, nur um sich nicht in die dem Verkehr gegenläufige Richtung zu bewegen? Warum soll man sich Hunderte Meter auf Kopfsteinpflaster durchschütteln lassen, wenn doch der Gehweg so schöne ebene Platten hat und breit und kaum begangen ist? Warum den durch Wurzeln holprigen, von Rissen durchzogenen, mit Glassplittern übersäten und von Hunden und Kinderwagen bedrängten Radweg benutzen, wenn die Straße daneben plan und leer ist? Warum soll man noch an der Kreuzung bremsen, wenn doch die Straße schon frei ist, die Fußgänger bereits Grün haben und es nur noch Sekunden dauern kann, bis auch die Ampel für Rad- und Autofahrer den Weg frei gibt? Die pragmatische Antwort des Radfahrers lautet: Ich halte mich nicht stur an das Gesetz, ich schaue mich um, reagiere auf die Situation, und wenn es möglich ist, fahre ich.

Es sind also vor allem die eigenverantwortliche Reaktion auf die jeweilige Verkehrssituation und die subjektive Auslegung der Vorschriften, die den Radfahrer zum Anarchisten machen – dabei handelt er jedoch immer, beziehungsweise sollte es tun!, unter der Maxime, niemanden zu gefährden. Wer den Radweg in gegenläufiger Richtung benutzt oder auf dem Gehweg fährt, sollte dies in dem Bewusstsein tun, eine Regelverletzung zu begehen – und sich entsprechend verhalten: Er kann hier nicht auf Rechte pochen, die er nicht hat, da er ja nur für sich einen Vorteil sucht, eine Lücke, die ihm hilft, besser, schneller, bequemer voranzukommen. Also sollte er Entgegenkommenden Platz machen, das Tempo bei jedem Hindernis drosseln, nicht klingeln, die Gehenden nicht bedrängen, und wenn sie ihn bemerken und großzügig vorbeilassen, sollte er sich bedanken – sein größerer Komfort (er muss nicht die Seite wechseln, muss nicht aufs Kopfsteinpflaster) sollte mit der Rücksichtnahme auf die anderen, die ihn hier, in ihrem Revier, dulden oder für sich sogar einen Nachteil in Kauf nehmen, einhergehen.

Wenn aber der Radfahrer seine Eingebundenheit in die Gemeinschaft leugnet, wenn er auf seinem Rad zu lächeln vergisst und negiert, dass seine Freiheit da aufhört, wo sie einem anderen zu schaden beginnt, verwandeln sich die Vorzüge seiner lautlosen, eleganten, abgasfreien, effizienten, ressourcenschonenden Bewegung in eine Belästigung, ja Gefahr für die anderen, und der Anarchist auf zwei Rädern, der mit allen gut auskommt, wird in finsterer Nacht, ohne Licht und unhörbar seine Kreise ziehend, gefürchtet, erscheint er doch Fußgängern und Autofahrern nun als ein Wesen aus einer anderen, schrecklichen Dimension.

Bettina Hartz

 

Der Text ist entnommen aus:

Bettina Hartz: Auf dem Rad: Eine Frage der Haltung, 208 Seiten, 14,99 Euro. Erschienen im April 2012 bei DVA. Das Buch für alle passionierten und überzeugten Radler erzählt von den Abenteuern des Radfahrens vor allem in der Großstadt und ist ein Plädoyer für ein friedlicheres Miteinander auf den Straßen.

fairkehr 5/2023