fairkehr VCD-Magazin für Umwelt, Verkehr, Freizeit und Reisen

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Ein Pfad führt über eine grüne Alm
Ein Junge gießt Pflanzen, die in einer Holzkiste wachsen
Eine Seilbahngondel schwebt über eine dicht bebaute Stadt

Titel 1/2015

Wohnen bewegt Menschen

Wie die Wohnumgebung unser Mobilitätsverhalten beeinflusst.

Foto: Kasper ThyeEine Stadt ist dann lebenswert, wenn sie nicht im Tempo der Automobile, sondern im Tempo der Fußgänger und Fahrradfahrer tickt.

Haustüren sind so etwas wie Schaltzentralen der Mobilität. Hier starten und enden fast all unsere Alltagswege. Bäcker, Schule, Arbeitsplatz. Ärzte, Behörden, Supermarkt. Kita, Schwimmbad, Kino, Kneipe – an der Haustür entscheiden wir, wie wir von A nach B kommen. Das strukturelle Angebot am Wohnort lenkt dabei unser Mobilitätsverhalten. „Dichte und Raumstruktur spielen eine Rolle und mit welchen Gelegenheiten das Umfeld ausgestattet ist. Ist alles, was ich zum Leben brauche, vor Ort oder muss ich in ein Zentrum fahren? Wie ist das Design des Viertels – fahrradfreundlich, autofixiert oder fußgängerorientiert?”, sagt Rebekka Oostendorp, Forscherin für Mobilität und Urbane Entwicklung am Institut für Verkehrsforschung im Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) in Berlin. All das beeinflusst, wie wir unterwegs sein werden.

Jeder Deutsche macht sich täglich ungefähr drei- bis viermal auf den Weg. Laut der Studie „Mobilität in Deutschland (MID) 2008” sind die wichtigsten Gründe, das Haus zu verlassen, Freizeit und Einkauf. Zusammen machen sie mehr als die Hälfte der Wegzwecke aus. Mehr als jeden zweiten Weg (58 Prozent) erledigen wir mit dem Auto, 25 Prozent zu Fuß, zehn Prozent mit dem Rad und neun Prozent mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Ganz pauschal kann man sagen: Wer ländlich wohnt, bestreitet lange Alltagswege und ist nur dank Auto mobil. Am Stadtrand, im suburbanen Raum, bestimmt das Auto ebenfalls die Mobilität. Wer im Ortskern oder im verdichteten städtischen Wohnraum lebt, hat eine größere Verkehrsmittelauswahl und kürzere Alltagswege, die er häufiger zu Fuß, mit dem Rad und öffentlichen Verkehrsmitteln zurücklegt.

Steht das eigene Auto gleich vor der Haustür, blenden wir Alternativen schnell aus. Vor allem der Anteil der Wege mit öffentlichen Verkehrsmitteln sinkt dann drastisch. Es erscheint praktischer, sich ins Auto zu setzen, als zur nächsten Haltestelle zu laufen oder umständlich das Rad aus dem Schuppen zu holen
Dass das Auto vor der Haustür steht, dafür sorgt seit Jahrzehnten die Stellplatzverordnung. Sie ist verankert in den jeweiligen Landesbauordnungen und gibt vor, wie viele Pkw-Abstellplätze pro Quadratmeter Wohnraum gebaut werden müssen. Die vorgeschriebenen Abstellplätze verteuern nicht nur das Wohnen, sondern belasten auch diejenigen finanziell, die sich gar kein Auto leisten können oder wollen. Sie fördern den Autoverkehr und erhöhen somit Lärmbelastung und Luftverschmutzung.

Gute Abstellplätze, mehr Radler

Städte wie Berlin, Zürich oder Basel limitieren deshalb bereits die Anzahl von privaten Parkplätzen und schreiben Stellplätze für Fahrräder vor – zum Beispiel zwei je neugebauter Wohnung in Berlin, inklusive Weisung zum Diebstahlschutz, zur Überdachung und zur Nähe zum Hauseingang. Die Berliner Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt gibt auch Leitfäden und Hinweise für Architekten und Bauherren heraus, da oft Radabstellplätze zu spät im Planungsprozess berücksichtigt werden.

Auch in Baden-Württemberg müssen Bauherren ab dem Frühjahr 2015 Stellplätze für Fahrräder schaffen. Der Platz muss pro Wohnung für zwei Räder reichen, wettergeschützt sein, eine wirksame Diebstahlsicherung ermöglichen und von der öffentlichen Verkehrsfläche ebenerdig, durch Rampen oder durch Aufzüge zugänglich sein. Wer mehr Fahrradabstellfläche schafft, darf auf Kfz-Parkplätze verzichten – vier Radplätze kompensieren einen Autostellplatz. So sorgt Baden-Württemberg immerhin für ein Stück Gleichberechtigung zwischen Rad und Auto.

Wer an seiner Wohnung gute Radabstellmöglichkeiten vorfindet, nutzt häufiger das Rad. Das belegt eine Unter­suchung in Wien, die verschiedene Wohnsiedlungen verglichen hat. In der fahrradfreundlich geplanten Wohnhausanlage „Bike City” stehen drei Fahrräder pro Haushalt zu Verfügung und 0,66 Autos. Fahrradbügel direkt vor den Wohnungen und Räume für Fahrräder und Kinderwagen in allen Geschossen sorgen für einfaches, bequemes Parken. In der konventionellen Wohnhausanlage „Wohnen am Park“ stehen 1,8 Räder und 0,73 Autos pro Haushalt zu Verfügung. Auch hier gibt es Abstellräume, die allerdings mit komplizierten Hängevorrichtungen ausgestattet und schlecht erreichbar sind. Die Untersuchung ergab, dass die Anzahl der Wege in den Wohnhausanlagen ähnlich sind, es in der Verkehrsmittelwahl aber deutliche Unterschiede gibt. Die Bewohner der konventionellen Anlage fahren doppelt so viel Auto, gehen weniger zu Fuß und fahren viel seltener Fahrrad – dafür aber etwas häufiger mit öffentlichen Verkehrsmitteln als die Bewohner der fahrradfreundlichen Wohnanlage.

Foto: fotolia/spunoWas ist günstiger, Auto fahren oder Bus und Bahn nutzen? Die Stadt Hamburg hat für ihre Bürger den „WoMo-Kostenrechner“ installiert. Der berechnet und vergleicht die Wohn- und Mobilitätskosten für Standorte im Zentrum und am Stadtrand.

Deutschlands Siedlungen und Straßen werden größtenteils immer noch autogerecht geplant – nach den Prinzipien der 1960er Jahre. Das Ungleichgewicht zwischen den Verkehrsmitteln ist in Städten wie auf dem Land unübersehbar. Ganz anders zum Beispiel in den Niederlanden, deren Bürgerinnen und Bürger mit 26 Prozent weit mehr als das Doppelte an Wegen mit dem Rad zurücklegen. Hier haben selbst die schmalsten Landstraßen rechts und links leuchtend rot markierte Radstreifen. Die nehmen mindestens die Hälfte der Straßenfläche ein und signalisieren: Die Straßen gehören Rad- und Autofahrern gleichermaßen.

Wir hingegen räumen Autos beim Wohnungsbau sogar mehr Platz ein als Kindern: Kinderzimmer werden im Durchschnitt mit acht Quadratmetern geplant. Ein Stellplatz muss mindestens 11,5 Quadratmeter groß sein. Und weil die Straßen mit immer mehr Karossen zugeparkt werden, sieht man draußen kaum noch Kinder spielen oder Fahrrad fahren.

Aber genau daran misst der dänische Architekt und Stadtplaner Jan Gehl eine lebenswerte Stadt. „Schauen Sie, wie viele Kinder und alte Menschen auf Straßen und Plätzen unterwegs sind, das ist ein guter Indikator”, sagt der Stararchitekt. Eine Stadt ist nach seiner Definition dann lebenswert, wenn sie das menschliche Maß respektiert. Wenn sie also nicht im Tempo der Automobile, sondern im Tempo der Fußgänger und Fahrradfahrer tickt. Gehl war unter anderem maßgeblich am Umbau Kopenhagens zur Weltfahrradhauptstadt beteiligt. Auf der Rangliste der lebenswertesten Städte der Welt, die das britische Magazin Monocle seit 2006 jährlich veröffentlicht, nimmt Kopenhagen jetzt zum dritten Mal Platz eins ein.

Paris schafft Autos ab

Paris hat es zuletzt in der Rangliste zwar nur auf Platz 18 geschafft. In Sachen Mobilität gibt es dennoch Erstaunliches zu berichten: Anfang der 2000er begann der damalige Bürgermeister Bertrand Delanoë den Bewohnern Stück für Stück ihre Stadt zurückzugeben: Er errichtete Busspuren auf vielen Straßen, verbannte die Autos von Teilen des Seine-Ufers, errichtete Fußgängerzonen, stellte 20000 Velib-Leihfahrräder in der Stadt auf. Ein Ergebnis: Viele Pariser schafften ihre Autos ab. 2001 besaßen noch 60 Prozent einen eigenen Pkw. Heute sind es nur noch 40 Prozent.

Foto: Paris Tourist Office/Marc BertrandPariser erobern das Seine-Ufer zurück, nachdem der ehemalige Bürgermeister Bertrand Delanoë den Autoverkehr ausgesperrt hat.

In Deutschland verfügen im Schnitt 82 Prozent aller Haushalte über einen Pkw, in gut einem Drittel derer sind sogar zwei oder mehr Autos vorhanden (MID 2008). In den Großstädten besitzen weniger Menschen ein Auto: In Berlin
59 Prozent, in Hamburg 67 und in München 72 Prozent.

Trotz stetiger Verstädterung – im Jahr 2050 werden voraussichtlich weltweit zwei Drittel aller Menschen in Städten wohnen – träumen immer noch viele vom Häuschen im Grünen. Die Politik hat jahrzehntelang mit steuerlichen Anreizen wie der Eigenheimzulage die Erfüllung dieses Traums forciert. Ihre Antwort auf fehlende Arbeitsplätze in Wohnortnähe war die Pendlerpauschale. Die Folge beider Subventionen: mehr Autos, mehr Verkehr, steigende Mobilitätskosten. Der Siedlungsraum wurde ausgeweitet und damit wurden Transport und Mobilität ohne Auto sehr kompliziert gemacht.

Wohnidyll am Stadtrand – ohne Infrastruktur

Ob wir oft ins Auto steigen, hängt auch von der Siedlungsdichte ab: Nach einer Berechnung des Verkehrsclubs Österreich (VCÖ) nutzt in dicht besiedelten Gebieten etwa die Hälfte der Menschen das Auto mehrmals pro Woche. In Gebieten, in denen die Häuser weit verstreut liegen, sind es gut 80 Prozent.

Zersiedelung, eine autogerechte Stadt- und Verkehrsplanung sowie die funktionale Trennung der Räume für Wohnen, Arbeiten und Einkaufen in Supermärkten auf der grünen Wiese verursachen immer mehr Autoverkehr. Und das erträumte Wohnidyll am Stadtrand entpuppt sich oft als Mogelpackung ohne Infrastruktur. Es fehlen eben die kleinen Läden um die Ecke. Selbst für eine Packung Milch, Briefmarken oder Brötchen müssen die Stadtrand- und Landbewohner lange Wege – meist mit dem Auto – zurücklegen.

Dazu kommen falsch eingeschätzte Kosten: Meist fressen die hohen Mobilitätskosten die niedrigen Quadratmeterpreise im Umland auf oder übertreffen sie sogar. Der Zeitfaktor fürs Unterwegssein ist dabei noch gar nicht mitgerechnet. Deshalb hat die Stadt Hamburg für ihre Bürger einen Kostenrechner installiert, der auch die Mobilitätskosten mit einbezieht. Die Stadt will damit den Flächenverbrauch reduzieren und ist der Meinung: Ökologische Ziele können mit ökonomischen Argumenten erreicht werden.

Valeska Zepp

fairkehr 5/2023